Plötzlich war alles wieder gut. Vergessen die Aufregung um Sibylle Lewitscharoffs Dresdner Rede von 2014. Unter dem Titel Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod wandte sie sich polemisch gegen künstliche Befruchtung, nannte die auf diese Weise gezeugten Kinder „Halbwesen“, stellte einen absurden Nazivergleich[1] an. Dafür erhielt sie mehr Reaktionen als auf ihre erfolgreichsten Bücher. Der gute Ruf war mit ihren kruden biopolitischen Ausführungen mit einem Mal dahin, „aus der Erfolgsschriftstellerin wird nun eine Skandalautorin“[2] hielt Elke Schmitter damals treffend fest. Doch mit dem Tod der Büchner-Preisträgerin von 2013 am 13. Mai 2023 startete auch eine Art Rehabilitation, die nicht nur dem Gebot des Respekts gegenüber Verstorbenen geschuldet ist. Betrachtet man die Rezeption Lewitscharoffs und ihres Werkes über die letzten 25 Jahre, erhält man auch einen Überblick über Moden in der Literaturkritik, ästhetische Vorlieben und gesellschaftspolitische Entwicklungen.

Bei ihrem Sieg beim Bachmann-Preis 1998 gab es keinen Widerspruch: Jury, Publikum und Feuilleton waren sich einig: Mit Lewitscharoff, die aus ihrem später in diesem Jahr erscheinenden Roman Pong las, war nicht nur eine würdige Gewinnerin gefunden, sondern „Eine echte ‚Klagenfurter Entdeckung‘“ gemacht worden.[3] Man freute sich über die Grenzüberschreitung dieses „halbverrückten Sonderlings“,[4] zelebrierte den Wahnsinn als Metapher, überbot sich mit schillernden Beschreibungen von Pongs ‚Irrsinn‘, ‚Wahnsinn‘, ‚Wahnwitz‘, ‚Verrückung‘. Heute wäre man wahrscheinlich vorsichtiger mit dem Wahnsinnsvokabular, wer will schon des Ableismus gescholten werden, dabei war nichts davon ableistisch gemeint, im Gegenteil, Pong war ein Held und mit ihm seine Erschafferin, der ein „anmutiger Seitensprung aus dem Mainstream der Gegenwart“[5] gelungen war. Der Roman konnte bei Erscheinen den durch den Bachmann-Preis geweckten Erwartungen gerecht werden, es blieb einhellige Begeisterung. Der surreale Stil traf offenbar einen Nerv, der sprachliche Witz, der augenzwinkernde intellektuelle Gestus waren ein willkommener Kontrast zum fad gewordenen Realismus von im besten Fall ichbezogener, häufig schlicht narzisstischer Popliteratur. Den bildungsbürgerlichen, theologisch geschulten Impetus schätzte man auch noch bei ihren folgenden Romanen Montgomery (2003) und Consummatus (2006). Für Apostoloff folgte 2009 der Leipziger Buchpreis und weitere Begeisterungsstürme, da war Lewitscharoff endgültig im Kanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur angekommen, sie war von „einer schon fast skurrilen Entdeckung bis in die Mitte der deutschen Literatur“[6] gewandert, wie Thomas Steinfeld festhielt. Das ‚Kuriose‘‚Kafkaeske‘, das ‚Skurrile‘ und das leicht ‚Boshafte‘ gefiel, und auch mit der schwäbelnden Autorin und ihrer unverstellten Art konnte man sich gut anfreunden. Blumenberg (2011), das am meisten besprochene Werk der Autorin, wurde ebenfalls großteils positiv aufgenommen, doch mittlerweile gehörte die Suhrkamp-Autorin zum Establishment, und der Tonfall, den man einst erfrischend gefunden hatte, galt einigen nun als prätentiös. Lobte man sie am Anfang ihrer Karriere als preiswürdig, wurde das Prädikat „Literaturpreisliteratur“[7] plötzlich zum Schimpfwort. Die Literaturkritik hatte sich etwas abgelesen an ihrem Stil, und natürlich spielte bei der Bewertung auch die Selbstpositionierung als Kritiker:in eine Rolle: Lobte man zunächst die Außenseiterin, die dem literarischen Wahnsinn eine neue Facette gab, wurde das Lob nun zur Bestätigung einer Etablierten. Der Versuch, Pong mit Pong revidivivus nochmals zu reaktiveren, gelang – gemessen an der Aufmerksamkeit der Kritik – nicht, die Erzählung wurde 2013 kaum wahrgenommen, der Wahnsinn hatte wohl keine Konjunktur mehr. Das konnte ihr egal sein, der Büchner-Preis hob sie in andere Sphären, er verleiht eine überzeitliche Bedeutung, die die Preisgekrönten eigentlich von kurzfristigen literarischen Moden und den Bewertungen von Einzelwerken unabhängig macht. Eigentlich. Denn dann machte besagte Dresdner Reder Lewitscharoff kurzfristig zur Persona non grata. Zumindest nannte man das damals noch so: Man mag sich nicht ausmalen, welcher Shitstorm heute in den sozialen Medien über Lewitscharoff hereinbrechen und welcher Druck auf ihrem Verlag lasten würde. Damals fand die berechtigte Empörung und Zurückweisung ihrer Aussagen im Feuilleton bzw. im Literaturbetrieb statt und blieb auch dort. Dass die freigeistige, zur Übertreibung und zum Skurrilen neigende Autorin dermaßen engstirnig, ja reaktionär, argumentierte, passte für viele nicht ins Bild und war gerade einer Büchner- und Kleist-Preisträgerin nicht würdig. Dabei blieb sie sich stilistisch in ihrer Rede durchaus treu, in ihrem elaborierten, zur Übertreibung neigenden, manchmal etwas predigthaften Tonfall. Verteidiger:innen fanden sich wenige, Rüdiger Safranski war darunter, auch Denis Scheck, der bei einer Präsentation des Kriminalromans Killmousky in Stuttgart „Kollektivirrsinn“ und „Pausenhofmentalität“ ortete, der sich gegen Lewitscharoff richtete, die vorher von den Kritiker:innen in den Himmel gelobt worden sei, zusammenrotteten, ortete.[8] Lewitscharoff hatte sich schon davor für die Wortwahl entschuldigt, blieb aber bei ihrer Kritik an der modernen Kinderwunschmedizin mit dem sehr theologischen Ansatz, dass man das Schicksal, das einen trifft, annehmen müsse. Nun sind ihre Aussagen auch heute noch beleidigend und schwer entschuldbar, doch Lewitscharoff konnte nicht nur austeilen, sondern auch einstecken. Man nahm sie als nicht wehleidig wahr: sie sei ein „alter Streithammel“[9], „ein immer kampfbereiter Terrier“[10].

Dem sich langsam verfestigenden Bild der verkopften Starautorin, das so gar nicht zu ihren schriftstellerischen Anfängen passte, hätte der Katzenkrimi Killmousky möglicherweise etwas entgegensetzen können. Es wurde der erste breit verrissene Roman ihrer Karriere: ‚schlecht‘, ‚betulich‘, ‚gescheitert‘ waren noch die netteren Urteile. Nun ist der Roman, auch mit fast zehn Jahren Abstand betrachtet, immer noch kein großer Wurf, doch dass der Krimi unmittelbar nach dem Skandal der Dresdner Rede erschien, hat die Rezeption mit Sicherheit beeinflusst. Von der scharfzüngigen, klugen Ausnahmeschriftstellerin, zur konservativen Provokateurin, zur betulichen Krimi-Tante, die, wie Elke Heidenreich im Schweizer Literarturclub plötzlich etwas überraschend urteilte, wie eine „, dusselige schwäbische Hausfrau“[11] schreibe und mit Killmousky einen „Groschenroman“ vorlege, ging es schnell.

Lange dauerte die feuilletonistische Animosität gegen Lewitscharoff nicht an. (Das unterscheidet sie im Übrigen von Monika Maron, die dauerhaft in Ungnade gefallen bleibt.) Möglicherweise war ihr tiefer Fall für das Wohlwollen, das dem Dante-Roman Das Pfingstwunder 2016 entgegengebracht wurde, sogar zuträglich. Man konnte zeigen, dass man sich ganz auf den Text konzentrierte, und objektiv die Qualitäten des Werks hervorheben, ohne nochmals auf den noch nicht lange zurückliegenden Skandal einzugehen. Den Roman einer ‚gefallenen‘ Starautorin zu loben, hat eine ganz andere Qualität als den Bildungsroman einer unumstrittenen Suhrkamp-Autorin und Büchner-Preisträgerin. Da schwingt die eigene Großzügigkeit und Professionalität mit – es hätte einen fast ins Lager des Anti-Establishments versetzen können, wären nicht fast alle Rezensent:innen diesem Impuls gefolgt. In fast keiner Rezension wurde die Dresdner Rede und ihre Auswirkungen auch nur erwähnt, nur in Interviews kam verlässlich die Frage nach den „Halbwesen“ und Lewitscharoffs Bereitschaft zur Buße. Die tat sie auch recht bereitwillig, obwohl sie, bis auf den Ausdruck „Halbwesen“ nichts zurücknahm, nur einmal riss ihr dann ordentlich der Geduldsfaden, als Alem Grabovac von der taz für Lewitscharoffs Geschmack zu oft auf den Begriff zurückkam:

„Jetzt hören Sie doch auf. Ich habe mich hundert Mal für diesen Satz entschuldigt. Jetzt werde ich böse. Irgendwann muss man das auch einmal glauben, dass sich ein Mensch entschuldigt. Wollen Sie mir diesen Satz vorhalten bis ich 90 bin? Das waren dumme, aggressive, feindliche Sätze. Wie oft wollen Sie meine Entschuldigung noch hören?“[12]

Für einige hätte sie den Satz noch hundert Mal wiederholen können und es hätte nichts genutzt. Andere hatten ihr damals wohl schon heimlich recht gegeben. Und wieder andere waren wahrscheinlich immer noch entsetzt über ihre Aussagen, es befiel sie aber ein leichtes Unbehagen über die Art und Weise wie man mit Fehlern medial umging. Der Blick heute, im Jahr 2023 zurück auf das Jahr 2014 ist ein anderer. Nicht weil der Vorfall ein anderer ist, sondern weil die Empörung über Fehltritte und vermeintliche Fehltritte angeheizt von den sozialen Medien, dermaßen zugenommen hat, dass viele dazu geneigt sind, die damaligen Reaktionen neu zu bewerten. So lesen sich zumindest viele Nachrufe, die eine große Autorin betrauern, die einmal falsch abbog, aber trotzdem noch eine großartige Autorin blieb, und, wie auch viele hervorheben, ein „überaus herzlicher, liebenswürdiger, nachdenklicher Mensch“ [13] war.

 

 

[1] Zur diskursiven Verortung von Lewitscharoffs Rede vgl.: Veronika Schuchter: „halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas“: Sibylle Lewitscharoffs Angst vor der Reproduktionstechnologie. In: Wolf-Andreas Liebert, Stefan Neuhaus, Dietrich Paulus u. Uta Schaffers (Hg.): Künstliche Menschen. Transgressionen zwischen Körper, Kultur und Technik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 26—275.

[2] Elke Schmitter: „Mir fehlt es an Empathie“. In: Der Spiegel, Nr. 11, Rubrik: Kultur, Montag, 10. März 2014, S. 114-115.

[3] o. A.: Eine echte „Klagenfurter Entdeckung“. In: Wiener Zeitung v. 28. Juni 1998, o. S.

[4] Andreas Isenschmid: Es macht buh, doch ich erschrecke nicht. In: Tagesanzeiger v. 29.06.1998, o. S.

[5] Reinhard Baumgart: In der Grübelschlucht. In: Die Zeit v. 03.09.1998., o. S.

[6] Thomas Steinfeld: Höflichkeit, Genauigkeit, Klugheit. In: Süddeutsche Zeitung v. 14.03.2009, S. 18.

[7] Peter Körte: Verbrüllt. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 02.10.2011, S. 25.

[8]Rolf Spinnler: Den Terrier rauslassen. In: Stuttgarter Zeitung, 30.05.2014, S. 30.

[9] Ebd.

[10] Joachm Leitner: „Ein kampfbereiter Terrier“. In: Tiroler Tageszeitung, 21.05.2014, S. 15.

[12] Alem Grabovac: „Gut. So. Punkt.“ In: taz, 10.09.2016, S. 24-25.

[13] Alexander Solloch: Zum Tod von Sibylle Lewitscharoff: Sie liebte die versponnenen Wörter. In: NDR https://www.ndr.de/kultur/buch/Schriftstellerin-Sibylle-Lewitscharoff-gestorben,lewitscharoff152.html [abgerufen am 09.06.2023]