Um 1900 herrschte eine gewisse Goldgräberstimmung auf dem deutschen Buchmarkt. Aus der flächendeckenden Alphabetisierung der deutschen Bevölkerung und der Industrialisierung aller Bereiche des Buchgewerbes war im Laufe des 19. Jahrhunderts erstmals ein Massenmarkt für Bücher und Presserzeugnisse erwachsen, der für jeden Geldbeutel und jedes intellektuelle Vermögen den passenden Lektürestoff bereit hielt. Vor allem nach der Reichsgründung expandierte die Buchbranche beträchtlich, der jährliche Titelausstoß stieg kontinuierlich von ca. 10.600 Titel im Jahr 1871 auf ca. 35.000 Titel im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg. Weit mehr als 900.000 Neuerscheinungen fanden im Kaiserreich ihren Weg in die Buchhandlungen oder andere Vertriebsstationen.

Auf diesen Massenmarkt traten in Abständen von nur wenigen Jahren hochmotivierte, meist noch junge Verleger, denen es gelingen musste, die Aufmerksamkeit des Publikums und des Buchhandels auf sich zu ziehen, wollten sie erfolgreich ihr Programm verkaufen. Zu diesen Verlegern gehörten zum Beispiel Samuel Fischer ab 1886, Eugen Diederichs ab 1896, Bruno und Paul Cassirer ab 1898, Reinhard Piper ab 1904, Ernst Rowohlt und Kurt Wolff ab 1910. Gemeinsames Merkmal dieser Verleger, denen später das Attribut „Kulturverleger“ zugeschrieben wurde, war ihr besonderes Engagement in der Profilierung eines individuellen Verlagsprogramms. In diesen Verlagshäusern erschien die Literatur der Moderne, erschien die Literatur der Avantgarde. Sie alle verfolgten als primäres Ziel, nicht Bücher, sondern Autoren und ihr Gesamtœuvre zu verlegen. Mit diesem ideellen Anspruch programmatisch verbunden war die Konzentration auf die Publikation von Werken der jeweiligen Gegenwartsautoren. Dazu bedurfte es besonderer Autorenpflege mit dem Anspruch, den Autoren Freund, kompetenter literarischer Berater und unterstützender Partner zu sein. Das Autor-Verleger-Verhältnis war geprägt durch enge persönliche Beziehungen, und das jeweilige Verlagsprofil entsprach dem kulturpolitischen Selbstverständnis der Verlegerpersönlichkeit.

Der Verleger Eugen Diederichs (1867-1930) wurde schon zu Lebzeiten als „Kulturverleger“ bezeichnet, denn kaum ein Verleger vor ihm hatte in dieser Konsequenz ein Verlagsprogramm aufgelegt, das nach seinen eigenen Worten die „Universalität der Welterfahrung“ in sich aufnehmen sollte. Ihm ging es weniger um die Durchsetzung einer bestimmten literarischen Richtung, sondern vor allem um die Vermittlung weltanschaulicher Werte. Diederichs hatte seinen Verlag 1896 in Florenz gegründet, ließ sich nur ein Jahr später in Leipzig nieder und siedelte schließlich 1904 nach Jena über, wo der Verlag seine Blütezeit erlebte. Von Beginn hatte Diederichs sich das Wappentier der Republik Florenz, den sitzenden Löwen des Donatello, als Verlagssignet zugelegt, der es in leicht modifizierter Weise dauerhaft blieb. Ein Verleger hatte in dieser Zeit recht gute Chancen, einen Käuferkreis an sich zu binden, einen Markt aktiv zu erschließen. Für die Orientierung in der Vielfalt der literarischen Strömungen nach dem Anbruch der literarischen Moderne konnte ein Verlagsname als Gütesiegel fungieren: „Nicht nur billige Bücher muß die Parole lauten, sondern auch Bücher, die für ein Menschenalter ausreichen und von unserem Sprachgefühl und unseren Anschauungen das ihrige dazu tun.“ So Eugen Diederichs 1912. Diederichs stand der Jugendbewegung um 1900 nahe, der Lebensreformbewegung, und sein Verlag ist als Verlag der Neuromantik und des Neuidealismus in die buchhändlerischen Annalen eingegangen. Diese Charakteristik greift aber eindeutig zu kurz, was schnell deutlich wird, wenn man die nun vorliegende vollständige Verlagsbibliographie aufschlägt.

Eugen Diederichs‘ jüngst verstorbener Enkel, Ulf Diederichs, der bis 1988 Leiter des Eugen Diederichs Verlags war, hat noch kurz vor seinem Tod eine opulente Bibliographie publizieren können, die sämtliche Bücher verzeichnet, die vom Anfang des Verlags 1896 bis ein Jahr nach dem Tod des Verlagsgründers 1931 erschienen sind. Die Komposition des Verlagsprogramm in den 36 Jahren seines Schaffens ist in jährlichen Schritten nachgezeichnet, mit kurzer Einführung in die wichtigsten Verlagsereignisse. Erfreulicherweise werden die Buchtitel nicht nur in ihren bibliographischen Angaben samt Auflagen und Ausstattungsmerkmalen, auch unter Angabe ihrer Graphiker und Typographen, verzeichnet, sondern es sind auch sämtliche Verlags- und Reihensignets und eine Auswahl der stets vorbildlich gestalteten Titelblätter zu sehen. Die Bibliographie eröffnet damit den Blick auf die Verlagsentwicklung in inhaltlicher Hinsicht wie in der äußeren Aufmachung.

Diedrichs begann sein Verlagsprogramm mit Ferdinand Avenarius, Julius Hart, Maurice Maeterlinck, dessen Schatz der Armen 1898 mit Buchschmuck von Melchior Lechter auch gleich zu einem beeindruckenden Zeugnis neuer deutscher Buchgestaltung wurde. Ein erster wichtiger Autor war auch Wilhelm Bölsche. Seine populärwissenschaftlichen Bücher wie z. B. Das Liebesleben der Natur (1898) und Vom Bazillus zum Affenmenschen (1899) erlebten mehrere Auflagen und waren bis in die 1920er Jahre erhältlich. Als der Verleger 1927 auf 30 Jahre Verlagsarbeit zurückblickte, war er auch dem Höhepunkt seines Erfolgs angekommen. Strategisch geschickt erschien das Programm in mehr als 50 Reihen, die dem Verleger den Vorteil brachten, nicht jedes Buch einzeln bewerben zu müssen, und für die unterschiedlichen Titel eine integrierende Wirkung auslösten. Die Reihen spiegeln inhaltlich die Vorstellung des Verlegers von der Weltliteratur. Dazu gehörten die berühmte Sammlung Thule. Altnordische Dichtung und Prosa (24 Bde. 1911-1930), mit der sich Diederichs vorgenommen hatte, „den Literaturschatz eines ganzen Volkes zu heben“; sodann Das Zeitalter der Renaissance mit ausgewählten Quellen zur Geschichte der italienischen Kultur (14 Bde. 1910-1927), Deutsche Volkheit mit Schwänken, Märchen, Volksliedern und Erzählungen (77 Bde. 1925-1931) und die bis in die 1990er Jahre hinein weiter geführte Reihe Märchen der Weltliteratur (40 Bde. 1912-1940). Flankiert wurden die Buchserien von einer stattlichen Reihe Periodika wie zum Beispiel den Jahrbüchern 1912-1914 des Deutschen Werkbunds und nicht zuletzt der einflussreichen konservativen kulturpolitischen Zeitschrift Die Tat .

Das Panorama der vom Kulturverleger initiierten Werkausgaben liefert in ihrer literarischen, ästhetischen und kulturphilosophischen Bedeutung beeindruckende Zeugnisse der verlegerischen Leidenschaft, des jungen wie des gereiften Verlegers. Sie reichen von Platon  und Paracelsus, über die Werkausgaben Hans Christian Andersens, Friedrich Hölderlins und Novalis‘, über Giordano Bruno bis Maxim Gorki und Leo Tolstoi. Mehr als 20 Werkausgaben hat Diederichs herausgebracht. Mit diesen aufwendigen Ausgaben hat er schon früh begonnen, obwohl er keineswegs von Beginn an auf ökonomischen Erfolg hoffen konnte. So erinnerte sich Diederichs später: „Übrigens fingen meine Bücher erst vom Jahre 1906 an, […] in größerem Maß gekauft zu werden. Das Jahr 1906 ist überhaupt ein Wendepunkt im Buchabsatz gewesen. Es war, als wenn Deutschland auf einmal reich geworden sei, die sprichwörtliche Knauserigkeit im Bücherkaufen hörte auf.“

Das Panorama dieses Kulturverlags ist facettenreich und scheint gar nicht so recht zur Profilierungsthese zu passen. So soll Max Weber vom Diederichs Verlag als „Warenhaus für Weltanschauungen“ gesprochen haben. Profil gewinnt der Verlag jedoch in der von Eugen Diederichs gewollten Darbietung sinnstiftender Schriften zu den Weltreligionen und zeitgenössischen Weltbildern. Der Eindruck vom Kulturverlag bliebe unvollständig, wenn die Selbstdarstellung des Unternehmens unberücksichtigt bliebe. Diederichs vermittelte sein Programm über vorzüglich gestaltete Kataloge, die jährlich herausgebracht wurden und mit den ab 1928 vierteljährlich erscheinenden Berichten aus dem Verlag Der Diederichs-Löwe (bis 1938) zu Instrumenten der Verlagswerbung wurden. Die wertbesetzten Inhalten der Bücher sollten sich dem interessierten Publikum auch im entsprechenden äußeren Gewand präsentieren. Diederichs war ein Förderer der zeitgenössischen Buchkunst und arbeitete mit renommierten Gestaltern zusammen. Das Register der Illustratoren, Buchgestalter und Schriftkünstler vereinigt alle renommierten Namen des ersten Jahrhundertdrittels, u.a. Peter Behrens, Otto Eckmann, Fritz Hellmuth Ehmcke, F. H. Ernst Schneidler, Heinrich Vogeler, um nur wenige zu nennen. Die Anerkennung seiner Bemühungen um das gut ausgestattete Buch im Zusammenklang mit den jeweiligen Inhalten brachte Diederichs 1914 die Auszeichnung, auf der BUGRA in Leipzig in der „Halle der Kultur“ ein eigenes Diederichs-Zimmer einzurichten, um den gegenwärtigen Entwicklungsstand des Buchgewerbes zu dokumentieren. Mit einer in tiefblaues Licht getauchten Buchkapelle in sakraler Anmutung feiert sich der Verleger selbst. Rückblickend schrieb Diederichs in seinen Erinnerungen Aus meinem Leben 1927: „Kulturverleger sein heißt nicht dieses und jenes wichtige und schöne Buch zu verlegen, sondern unbeirrt von augenblicklichem Erfolg und dementsprechend unbekümmert um Tagesmode verlegen und an den Sieg der Idee glauben.“ Wie gut ihm das gelungen ist, lässt sich nun anhand der Bibliographie akribisch nachvollziehen.

 

Ute Schneider , Mainzer Institut für Buchwissenschaft

Dieser Beitrag ist zuerst am 16.08.2014 unter dem Titel "Beruf: Kulturverleger" in der Tageszeitung Die Welt erschienen. Die Wiederveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.