Der Schlüsselroman - ein publikumswirksames Genre
Die ganze Wahrheit – ein boshafter Schlüsselroman?
Metafiktionalität als Qualitätsmerkmal?
Fiktionalität als Deckmantel, „um ordentlich schmutzige Wäsche zu waschen"?
Literarizität abseits der Schlüsselroman-Problematik?
Der Schlüsselroman – ein publikumswirksames Genre
Gemeinhin geschieht es ja eher selten, dass belletristische Neuerscheinungen – und mögen sie noch so starke Beachtung im literarischen Feld finden – die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit außerhalb der Feuilletons auf sich ziehen. Wird doch einmal jenseits der Nobelpreisvergabe oder der Frankfurter Buchmesse etwas ausführlicher über ein Werk berichtet, dann ist das Interesse wohl in den seltensten Fällen auf die literarische Qualität zurückzuführen: Weniger das Buch, sondern vielmehr der Autor oder die Autorin steht bei der Berichterstattung im Vordergrund. Besonders publikumswirksam ist naturgemäß der Skandal: So etwa im Fall von Martin Walsers 2002 erschienenem Roman Tod eines Kritikers , der in der Öffentlichkeit als chiffrierte (und tendenziös antisemitische) Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki wahrgenommen wurde [1] . Maxim Billers „autobiografischer“ Roman Esra – oder vielmehr der langwierige Prozess um die letzten Endes untersagte Veröffentlichung – erregte die mediale Aufmerksamkeit aus einem ähnlichen Grund; dem Autor wurde vorgeworfen, real existierende Personen (besonders eine ehemalige Freundin und deren Mutter) unter dem Deckmantel der Fiktion zu diskreditieren. [2]
Die Fragen, die in beiden Fällen die publizistische Debatte dominieren, sind relativ einfach zu bestimmen: Darf ein Autor reale Personen (die im journalistischen Idealfall – der besseren Vermarktbarkeit wegen – bereits über eine hinreichende Medienpräsenz verfügen) als „Vorlage“ für meist deutlich negativ gezeichnete literarische Figuren verwenden, oder ist das Persönlichkeitsrecht der Porträtierten unter allen Umständen zu wahren? Welche Verbindung besteht zwischen Wirklichkeit und Fiktion? Und was hat den Verfasser überhaupt dazu bewogen, einen Schlüsselroman [3] zu schreiben?
Blickt man zurück in der Literaturgeschichte, dann wird schnell klar, dass es sich bei Werken mit skandalträchtigen Bezügen zur Realität keinesfalls um eine Modeerscheinung des neuen Jahrtausends handelt: Klaus Manns Mephisto , der den Opportunismus Gustav Gründgens’ wenig schmeichelhaft in der Handlungsweise des Protagonisten Hendrik Höfgens darstellt, wurde in den 1970er Jahren auf Betreiben von Angehörigen des „Opfers“ verboten. 1984 entfesselte Thomas Bernhard mit seinem Roman Holzfällen. Eine Erregung einen ähnlichen Skandal – Gerhard Lampersberg, ein österreichischer Künstler und Mäzen, glaubte sich in dem Gastgeber einer Abendgesellschaft, die vom Ich-Erzähler in einem provokativen Monolog abqualifiziert wird, zu erkennen und strebte ein Verbot des Buchs an. Und bereits vor mehr als 100 Jahren setzte sich Klaus Manns berühmter Vater Thomas mit dieser Thematik auseinander – sah er sich doch gekränkt in seiner Ehre als Verfasser literarisch hochwertiger Texte: [4] 1903 hatte ein ehemaliges Mitglied des preußischen Heeres, Fritz Oswald Bilse, mit seinem nur dürftig camouflierten, wenig anspruchsvollen, aber des Skandals wegen umso beliebteren Militär-Schlüsselroman Aus einer kleinen Garnison Aufsehen erregt. Thomas Mann wurde 1906 von Lübecker Bürgern, die in den Buddenbrooks Analogien zur Realität festzustellen vermeinten, ein Prozess gemacht, in dem der Ankläger das 1901 erschienene Werk als „Buch à la Bilse“ bezeichnete. [5] Mann – verständlicherweise verstimmt ob der Gleichsetzung seines Romans mit der minderwertigen Skandalschrift aus der Feder eines rachsüchtigen Leutnants – sah sich prompt dazu veranlasst, in einem in den Münchner Neuesten Nachrichten publizierten Essay spitzzüngig Stellung zu beziehen: In dem Aufsatz vertritt Mann ein radikal-ästhetisches Konzept, demzufolge die Verwendung jeglicher realer Anreize (und mag es sich bei dem literarisch in Beschlag Genommenen um das „Nächste und Liebste“ [6] des Autors handeln) bedingungslos gestattet sei – vorausgesetzt, der Schriftsteller hege die ernsthafte Intention, Kunst zu betreiben.
Ein Autor der Gegenwart, der die Relation von Wirklichkeit und Fiktion wiederholt zum Gegenstand seiner Werke gemacht hat (und dafür auch massiv kritisiert worden ist), ist der Tiroler Norbert Gstrein. Im August 2010 ist sein Roman Die ganze Wahrheit erschienen – ein Buch, das bereits im Vorfeld Gegenstand sensationslüsterner Debatten war, was nicht zuletzt von Gstrein selbst zu verantworten ist, hatte er doch in einer öffentlichen Diskussion die zugleich kryptische wie auch Interesse heischende Ankündigung lanciert, der Roman weise in seiner Figurenkonstellation Parallelen zum Suhrkamp-Verlag auf: Der Ich-Erzähler Wilfried, Lektor eines Wiener Kleinverlags, hat sich nach dem Tod des Leiters Heinrich Glück mit dessen esoterisch-exzentrischer Witwe Dagmar überworfen, als diese ein den Tod mystisch glorifizierendes Buch über das Sterben ihres Mannes verfasst hat. Durch Darstellung der Ereignisse aus seiner Perspektive will er nun der „Wahrheit“ genüge tun; hinzu kommt, dass Dagmar sich durch Verbreitung von Lügengeschichten, die stets mit der – rhetorischen – Frage „Soll ich dir die Wahrheit über […] erzählen?“ einsetzen, ihrer Kontrahenten entledigt – soweit zur Erklärung des Titels.
Hinzuzufügen ist noch, dass Gstrein – der heute bei Hanser veröffentlicht – ehemals von Suhrkamp verlegt worden ist, allerdings nach dem Tod Siegfried Unselds (mit dem ihn angeblich eine relativ enge Freundschaft verbunden hat) und der Übernahme der Verlagsleitung durch dessen Frau Ulla Unseld-Berkéwicz infolge diverser Unstimmigkeiten den Verlag verlassen hat. Weiters hat Unselds Witwe, eine schillernde Persönlichkeit des Literaturbetriebs, 2008 ein Buch mit dem Titel Überlebnis [7] vorgelegt, in dem sie das Sterben ihres Mannes thematisiert – auf eine zugegebenermaßen etwas irritierende Art (sowohl inhaltlich als auch sprachlich), nämlich dergestalt, dass der Tod als Höhepunkt des Lebens interpretiert wird; mystisch-kabbalistische Exkurse tun ihr Übriges, eine Kontroverse anzuregen. Natürlich liegt es nun nahe – insbesondere nach der geschickt platzierten, mit Sicherheit verkaufsfördernden Bemerkung Gstreins im Vorfeld, hinter der Ganzen Wahrheit tatsächlich eine Abrechnung mit der Suhrkamp-Leitung zu vermuten. In einer Vielzahl von Rezensionen wird ausgiebig über die Gründe, die den Autor zur Abfassung des Romans bewogen haben könnten, spekuliert: Sieht er sich als legitimen Vertreter und Verteidiger des verstorbenen Unseld? Will er ein Gegenmodell zum mystifizierenden Stil Berkéwicz’ etablieren? Oder sind es schlichtweg persönliche Animositäten in Hinblick auf die Zusammenarbeit mit dem Verlag, die Gstrein zu einer dermaßen unfreundlichen Charakterisierung der Protagonistin getrieben haben? Die in vielen Kritiken überpräsente Diskussion über Hintergründe, Autorintention und Wahrheitswert lässt den Roman selber beinahe untergehen.
Seit der Veröffentlichung sind nun zwei Jahre vergangen – Zeit, Rückschau zu halten, die Rezeption des Romans nochmals neu zu überdenken und einer genaueren Analyse zu unterziehen. Ich möchte dabei weniger chronologisch vorgehen, sondern vielmehr zwischen Urteilen differenzieren, die sich hinsichtlich der Bewertung der Metafiktion im Roman unterscheiden: Ein Teil der Rezensionen geht überhaupt nicht auf Fiktionalisierungsstrategien ein; es wird hauptsächlich Kritik am Schlüsselroman geübt (der ohne Rücksicht auf etwaige komplexe Erzählstrategien direkt in die Wirklichkeit übertragen wird). Differenziertere – meist auch ausführlichere – Kritiken bringen den selbstreflexiven Charakter zur Sprache und kommen oft zu einem positiven Ergebnis. Weitaus am häufigsten wird ein dritter Standpunkt vertreten, dessen negativer Grundtenor darauf zurückzuführen ist, dass der Konstruktionscharakter als Finte zur straffreien Diffamierung von Personen des öffentlichen Lebens gedeutet wird: Hier schließt sich der Kreis zur Kritik am Schlüsselroman wieder.
Die Rezeption [nach oben]
„Die ganze Wahrheit“ – ein boshafter Schlüsselroman?
Schon im Vorfeld der Veröffentlichung im August 2010 wurde Gstreins Roman (wie erwähnt, nicht zuletzt auf einen Fingerzeig des Autors hin) vielerorts als Suhrkamp-Schlüsselroman betrachtet – und dementsprechend mit einiger Skepsis erwartet. Tilman Krause etwa schreibt Ende Mai in der Welt :
[…] dieser Ehrgeiz scheint vor allem Norbert Gstrein anzutreiben, dessen bedenklich vollmundig überschriebenem Roman „Die ganze Wahrheit“ das Gerücht vorauseilt, er werde die Diskussion um das Haus Suhrkamp weiter anheizen, indem er endgültig das Anathema über Ulla Unseld-Berkéwicz verhängt. Der Autor, bislang eher mit leisen und subtilen Geschichten aufgefallen, ist ein Suhrkamp-Abtrünniger und wird sich hoffentlich nicht nur rechtlich gut abgesichert haben. Er muss auch viel Fantasie und handwerkliches Können aufwenden, um den Verdacht von Enttäuschung und Abrechnung zu entkräften, der ja schon Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ vor einigen Jahren sehr zu recht diskreditiert hat. [8]
Allein die Wortwahl („bedenklich vollmundig“, „Suhrkamp-Abtrünniger“) verweist auf Krauses skeptische Einstellung gegenüber dem noch unveröffentlichten Roman; der Titel wird ganz offensichtlich als völlig ungebrochene und deshalb dokumentarischen Anspruch erhebende Vorausdeutung auf den Inhalt gewertet. Nach der Vorab-Lesung und der Diskussion im Hamburger Literaturhaus im Juni kommt kaum mehr ein Artikel ohne die Erwähnung von Unseld-Berkéwicz aus – Gerrit Bartels etwa ist nach der Veranstaltung der Meinung, dass Gstrein sich „sehr nah an das reale Vorbild gehalten“ [9] habe und mokiert sich über die Themenwahl, die er – ähnlich wie Krause – in Missstimmigkeiten zwischen Gstrein und dessen ehemaligem Verlag begründet sieht.
Bereits die Titel vieler Rezensionen spiegeln unverkennbar die Fokussierung auf die Persönlichkeit und den – imaginierten – Lebensstil von Ulla Berkéwicz wider: So wirft etwa der Tages-Anzeiger in Erwartung des Romans schon im Juni die Frage nach dem Realitätsgehalt auf („Die ganze Wahrheit über Ulla?“ [10] ); der Tagesspiegel titelt am 15. August „Ulla und ihre Männer“. [11] Die Bedeutsamkeit der realen Person für die Rezeption des Werks lässt sich oftmals allein auf optischer Ebene feststellen: Einer Vielzahl von (meist ausführlicheren) Artikeln sind Fotos beigefügt – nicht nur, wie durchaus üblich, Porträts des Autors, sondern auch der Suhrkamp-Leiterin. Nicht selten ist das Bild der angeblichen Protagonistin an deutlich prominenterer Stelle platziert; [12] in manchen Fällen wird sogar gänzlich auf eine Abbildung Gstreins zugunsten von Ulla Berkéwicz verzichtet. [13]
Die schillernde Persönlichkeit der (angeblich) literarisch Porträtierten selbst scheint also ein ganz wesentlicher Faktor für die recht ausgeprägte Besprechung zu sein – manche Kritiken sind beinahe ausschließlich um die Verlegerin zentriert: Urs Jenny etwa beschränkt sich im Spiegel [14] völlig auf einen Vergleich mit der realen Ulla Unseld-Berkéwicz, die dem Rezensenten – wie dessen doch eher intime Äußerungen suggerieren – seit längerer Zeit persönlich bekannt sein dürfte (sie wird als „herzhafte, gesellige, lachlustige junge Frau“ beschrieben, die „die Öffentlichkeit auf ihrem Weg von der Bühne in die Literatur überrascht, verzaubert […] und irritiert“ habe). Auf literarische Ansprüche geht der Verfasser nur in einer Nebenbemerkung ein und konstatiert abschließend, dass „alles in allem, Ulla Unseld-Berkéwicz nicht zur Kenntlichkeit gebracht, sondern zu Unkenntlichkeit entstellt“ werde. Dass die kritisierte Überspitzung und Entstellung möglicherweise von Gstrein beabsichtigt sein könnte, wird nicht in Erwägung gezogen; außerdem ist zu vermuten, dass die, gelinde gesagt, leicht enthusiasmiert wirkende Einstellung Jennys zu Ulla Berkéwicz einer objektiven Bewertung der Ganzen Wahrheit nicht unbedingt entgegenkommen dürfte.
Zu einer ähnlich Schlussfolgerung wie Jenny (nämlich, dass der Roman die Wirklichkeit nur sehr mangelhaft abbilde) kommt Julia Kospach im Falter : [15] Der Transfer der Handlung nach Wien in eine Kleinverlag gehe nicht auf – noch dazu scheitere der Autor in seiner (von der Rezensentin vermuteten) Intention: „Eine Siegfried-Verteidigung ist es schon gar nicht.“ Eingedenk Norbert Gstreins Sensibilität für Realität und Fiktion (die ihm auch in den negativsten Rezensionen attestiert wird) [16] wäre es nun konsequent, einen Schritt weiterzugehen: Die Annahme liegt nahe, dass der Autor möglicherweise nicht ausschließlich eine chiffrierte Abbildung der Suhrkamp-Konstellation intendiert haben könnte.
Bemängelt wird besonders die schablonenhafte Art der Figurenzeichnung – zu stereotyp seien die mit Berkéwicz assoziierten Eigenschaften und Geisteshaltungen auf Dagmar übertragen. So moniert Krekeler, dass der Autor „Dagmar mehr Klischees um[hänge], als einem Weihnachtsbaum an Strohsternen“ [17] gut tue. „Nichts lässt er aus, kein Klischee […]“, [18] kritisiert Schröder in der taz und Kospach findet, dass Gstrein Dagmar „alle Klischeebilder und Gerüchte umgehängt [habe], die so oder ähnlich in den letzten Jahren […] die Runde machten“. [19]
Wird die Protagonistin Dagmar als Ulla Unseld-Berkéwicz identifiziert, liegt natürlich die Gleichsetzung von Erzähler und Autor nahe – Krekeler etwa stellt folgende (psychologisierende) Vermutung in den Raum:
Und niemand fragt nach, warum er das eigentlich macht. Niemand fragt, warum Gstrein von Suhrkamp zu Hanser gewechselt ist. Und ob der Antrieb für diesen Anti-Ulla-Furor, der sich deutlich negativ auf seine Sprache auswirkt, nicht eine gewaltige narzisstische Kränkung sein könnte? [20]
Dementsprechend negativ gesehen wird vielerorts auch die „Häme“ [21] des Romans; Gstrein habe „sein Gemälde über den Literaturbetrieb […] mit erheblicher Boshaftigkeit“ ausgestattet; er verschwende „sein Können an die Betriebigkeit“. [22] Auch in Zeitungen mit größeren Feuilletons wie dem FALTER wird Die ganze Wahrheit als „fruchtloses Verlegerwitwen-Bashing“ [23] gewertet – die maliziöse Rachsucht, die dem Autor attestiert wird, disqualifiziert in den Augen vieler Rezensentinnen und Rezenten den Roman von vornherein, die Beurteilung der literarischen Qualität wird an den Rand gedrängt oder völlig ausgespart.
Metafiktionalität als Qualitätsmerkmal? [nach oben]
Trotz der überwiegend negativen Aufnahme sind doch einige äußerst positive Kritiken zu verzeichnen. [24] Freilich nimmt auch in den beifälligen Artikeln die Beziehung des Romans zur Realität, die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion, eine zentrale Stellung ein. Auf struktureller Ebene werden die komplexen Fiktionalisierungsstrategien hervorgehoben, die bereits im ersten Satz des Buches zum Tragen kommen:
Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben, und natürlich kenne ich Dagmar lange genug, um zu wissen, was mich erwartet, wenn nur etwas von dem, was ich über sie in die Welt setze, anfechtbar ist. [25]
Klaus Zeyringer etwa deutet im Standard diese Einleitung als „ironische[n] Konter der Schlüssellochrezeption“; [26] er betont den selbstreferentiellen Charakter des Romans („[…] die Frage, was Literatur ist und wie Fiktionalisierung funktioniert“).
An Bedeutsamkeit gewinnt in den Rezensionen, die die Metafiktion als Qualitätsmerkmal betrachten, vor allem die Erzählperspektive, also die hochgradig subjektive Sicht des Lektors Wilfried, der nichtsdestoweniger den Anspruch hegt, objektiv an die „Wahrheit“ heranzugehen. Durch die im Verlauf der Handlung immer deutlicher zu Tage tretenden obskuren Züge des Ich-Erzählers werde dessen Prätention in Frage gestellt, wenn nicht gar gänzlich unterminiert: Zum einen lasse seine ausgeprägte Rachsucht Zweifel an seiner Objektivität aufkommen; [27] darüber hinaus werfe die unleugbare Anziehung, die Dagmar auf den (bei Frauen übrigens wenig erfolgreichen) Erzähler ausübe, ein dubioses Licht auf seine Darstellung: Der Bericht setze sich „dem Verdacht aus, seinerseits ein Zerrbild zu sein, ein Produkt enttäuschter Liebe“, [28] bemerkt Kämmerlings in der FAZ .
Zu einem ähnlichen Schluss – nämlich, dass Wilfried klammheimlich in die exzentrische Witwe verliebt sei und deshalb der Wahrheitsanspruch des Titels zu hinterfragen sei – kommt auch Arno Widmann:
Der Erzähler wehrt sich gegen seine Empfindungen. Er fährt seine Skepsis aus und schreibt „wirkten“ statt „waren“. Aber vergebens. Am Ende erliegt er der Witwe. […] „Die ganze Wahrheit“ ist kein Schlüsselroman und schon gar nicht eine Satire auf den Literaturbetrieb. Es ist eine ironisch abgefederte Liebeserklärung. [29]
Als Hinweise auf den hohen literarischen Anspruch des Romans werden also die Fragwürdigkeit des Erzählers, die Konterkarierung der Gattung ‚Schlüsselroman‘ und die vexierende Doppelung der Perspektiven – die Sichtweise der kapriziösen Dagmar im Kontrast zur (zumindest vorgeblich) rational-abgeklärten, distanzierten des Lektors – gesehen. Eng mit diesen Themen verknüpft ist laut den meisten in diese Richtung argumentierenden Kritiken ganz generell die Frage nach der Wahrheit und deren Verarbeitung in der Literatur: Dieses Problem sei das „philosophische Kernmotiv“ [30] des Romans. Die „Grundsatzfrage nach der Erzählbarkeit eines Lebens“, [31] das „Ausloten der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit“ [32] und die „scharfe Kritik am grassierenden Glauben an eine mögliche Authentizität von Literatur“ [33] werden als Motive aufgelistet, die den Autor nicht erst seit der Ganzen Wahrheit beschäftigen und die auch jenseits der Suhrkamp-Debatte künstlerisch anspruchsvoll seien. Die bei Gstrein offenbar als besonders komplex empfundenen Strategien der Metafiktionalisierung und der Konstruktionscharakter werden als Qualitätsmerkmale angeführt.
Als repräsentativ sei hier nochmals die Kritik von Arno Widmann zitiert, der sich besonders detailliert mit der Figur des obskuren Erzählers und den daraus erwachsenden Implikationen für etwaige Wahrheitsansprüche auseinandersetzt:
Wer freilich eine Handlung erwartet, plot und action, sex and crime, der wird nicht auf seine Kosten kommen, und wer nun gar auf Klatsch und Tratsch hofft, der wird das Buch gähnend zur Seite legen. Statt sich der schaukelnden Wahrheitssuche des Erzählers, seinem stochernden Stöbern nach dem Richtigen, den richtigen Wörtern, den richtigen Sätzen, der richtigen Perspektive, dem richtigen Blick anzuvertrauen. […] Norbert Gstrein ist ein sehr souveräner Erzähler in diesem Buch. Einer, der seiner Hauptfigur nicht, ja nicht einmal seinem Erzähler auf den Leim geht. Dabei zuzusehen, wie er zwischen Schärfe, Ironie und Hingabe schwankt, ist eine Freude. [34]
Nicht unerwähnt bleiben sollen Kritiken, in denen die Fiktionalisierungsstrategien überraschenderweise nicht als solche erkannt werden – ja, das Fehlen von Hinweisen auf die Konstruiertheit, der angeblich nicht vorhandene Zweifel an der „Wahrheit“ des Erzählers explizit bemängelt wird. So befindet etwa ein Rezensent im profil :
In seinem Roman „Die ganze Wahrheit“ berichtet Norbert Gstrein, erzähltechnisch betrachtet, nichts als die Unwahrheit. Über weite Strecken gleicht das Buch einem Muster an Vagheit und Verschwommenheit. Gerüchten wird ebenso Platz eingeräumt wie kryptischen Tagebucheintragungen, schwammigen Erinnerungen und grandiosen Fehleinschätzungen […] Die Grundkonstellation der Erzählung [pendelt] zwischen simplifizierendem Grundkurs „Was ist Wahrheit?“ und ausgeklügeltem Verschleierungsspiel […] [35]
Trotz des abschließenden Verweises auf das „Verschleierungsspiel“ und das Problem von Wahrnehmung und Realität wird gerade das Unklare, die ironische Brechung der vorgeblich objektiven Berichterstattung (die de facto keineswegs neutral und auch teils von anderen Figuren im Umlauf gesetzte Gerüchte und üble Nachreden miteinschließt), nicht als metafiktives Erzählen gedeutet, sondern offenbar wörtlich genommen. Auch Brigitte Schwens-Harrant „vermisst hier den vollen Einsatz seiner [Gstreins] Fähigkeit, mit Zweifel an der Sprache zu schreiben, mit Zweifel an der Wahrnehmung und an der Sagbarkeit des Wahrgenommenen“ [36] – das Vexierend-Täuschende der Erzähltechnik scheint tatsächlich so ausgeprägt und trügerisch zu sein, dass eine eindeutige Festlegung nicht möglich ist; die schillernde Ambiguität des Romans lässt unterschiedliche, sogar gegensätzliche Lesarten zu.
Fiktionalität als Deckmantel, „um ordentlich schmutzige Wäsche zu waschen“ [37] ? [nach oben]
Ein beträchtlicher Anteil der Rezensenten und Rezensentinnen geht zwar ausführlich auf die Fiktionalisierungsstrategien ein, ja, beschränkt sich in manchen Fällen auf diesen Aspekt – und kommt dann schlussendlich zu einem negativen Urteil: Vielerorts wird hinter der Offenlegung des Konstruktionscharakters eine geschickt vom Autor eingesetzte Finte vermutet, über den Umweg der Pseudo-Fiktionalisierung indiskreter Details persönlichen Ressentiments zu frönen – durch die gemeinhin als niveauvoll empfundene Metafiktion werde ein künstlerischer Anspruch erzeugt, der (nachdem die Freiheit der Kunst in den seltensten Fällen zur Diskussion steht) als Vorwand diene, Rachegelüste abzureagieren und Animositäten zur Schau zu stellen.
Julia Encke, die nach eigenem Bekunden Gstrein zu seinem Roman interviewt hat, dann aber auf Order des Schriftstellers einen Großteil des Materials nicht veröffentlichen durfte, verpasst in der FAZ weniger dem Roman, sondern vielmehr dem Autor eine ordentliche Abreibung:
Der Roman gerät dabei völlig aus dem Gleichgewicht. Er erzählt vor allem die Geschichte eines Kontrollverlusts des Autors Norbert Gstrein. Der sieht sich erhaben auf hohem Ross reiten, verliebt in sein „brillantes Vexierspiel“, gegen das kein Jurist wird vorgehen können, weil es so ausgefuchst ist, gewaschen mit allen Wassern der Fiktion. „Ist doch ein Roman, eine Fiktion als Antwort auf Fiktionen!“, hört man ihn rufen. Aber er irrt sich. Indem er einen ganzen öden Roman lang nichts anderes tut, als Gerüchte auszuweiden, wird das Vexierspiel zur Nebensache. Es dient ihm – im Gegensatz zum „Handwerk des Tötens“ – nur noch als Vorwand; als ein Alibi, um ordentlich schmutzige Wäsche zu waschen. [38]
Auch Hubert Winkels, im übrigen Moderator jener Diskussion, in der Gstrein im Juni 2010 die Parallele zum Suhrkamp-Verlag angesprochen hatte, argumentiert in eine ähnliche Richtung: In der Zeit betont er zwar, dass der Roman „erkennbar den Unsinn im Anspruch dieses Titels entlarven will“, aber „diesen Anspruch hinterrücks“ behaupte, sodass ihm „wenn schon nicht etwas Fundamentalistisches, so doch etwas Aufgeputschtes und auch Aufwieglerisches“ eigne. [39]
Tilman Krause, Literaturredakteur der Welt , der sich bereits im Vorfeld der Veröffentlichung äußerst skeptisch geäußert hat, findet noch deutlichere Worte und vermutet hinter der metafiktiven Erzählweise schlichte Bösartigkeit. Im Unterschied zu anderen Kritikern ist er allerdings der Meinung, dass Gstrein neben seinen absichtlich zur Befriedigung von Rachefantasien eingesetzten Fiktionalisierungsstrategien auch unbewusste Entgleisungen unterlaufen – die ein moralisch äußerst zweifelhaftes Licht auf den Autor werfen:
Dieser Königin der Ungeniertheit [Ulla Unseld-Berkéwicz] […] wird das verdruckste Gehampel eines abtrünnigen Suhrkamp-Autors nicht die Bohne schaden. […] Ein Schriftsteller kann sich noch so sehr verschanzen hinter Fiktionen und Konstruktionen, wes Geistes Kind er ist, wird immer offenbar. Bei Gstrein nun fällt zweierlei auf: Um seine Ulla-Dagmar-Figur zu diskreditieren, greift er tief in die Mottenkiste autoritärer Männerfantasien. […] Hier werden geradezu wie aus dem Lehrbuch des Antifeminismus die unkontrolliert fließenden Körpersäfte als das spezifisch Weibliche betont. Die durchgehende Sexualisierung der Figur verweist auf die Bedrohung des autoritären Mannes durch die Frau, die mit ihrer Weichheit den Männlichkeitspanzer zerstören könnte. […] Sonst taugt das Buch zu gar nichts. [40]
Zwar erwähnt Krause die Fiktionalität, belässt es dann allerdings auch dabei – und geht schnell dazu über, den Autor mit seinem Erzähler gleichzusetzen, jenem also (durchaus zu diskutierende) misogyne Tendenzen des anderen zu unterstellen. Hinsichtlich der Qualität des Romans äußert er sich kaum (das Urteil „verdruckste[s] Gehampel“ ist nicht unbedingt als präzise zu bezeichnen und wird auch nicht weiter begründet). In einem weiteren, ebenfalls in der Welt erschienenen Artikel mokiert er sich nicht nur über Roman und Verfasser, sondern auch über eine positive Rezension: Die ganze Wahrheit empfindet er offenbar als dermaßen ungebührlich und defizitär, dass eine ernst gemeinte beifällige Kritik – ohne opportunistische Intentionen – ausgeschlossen ist (eine solche wird demgemäß als „Männchen manchen“ vor Hanser und Gstrein beurteilt):
„Jedenfalls bringt es der Kollege fertig, Gstreins perfide denunziatorische Machwerk als Spiel mit Fiktionen, Selbstfiktionalisierungen, On dits und übler Nachrede zu betrachten und seine hohe Literarizität zu rühmen, als sei das Buch gar nicht von dieser Welt.“ [41]
In der Wortwahl offenbart sich die Konzentrierung der Kritik auf das problematische Verhältnis zwischen Realität und Fiktion – „perfide[s] denunziatorische[s] Machwerk“ ist eine mehr als eindeutige Wertung, die ausschließlich die (mögliche) Intention des Autors als Beurteilungskriterium heranzieht. Bei diesem Kriterium handelt es sich interessanterweise allerdings keineswegs um ein literarisches, sondern vielmehr um ein moralisches – dessen Validität für eine sinnvolle Bewertung der literarischen Qualität zumindest fragwürdig erscheint.
In der Wiener Zeitung kommt Wirthensohn – wenngleich hinsichtlich seiner Diktion etwas dezenter – zu ganz ähnlichen Schlüssen (bis hin zur Kritik an der positiven Einschätzung anderer, impliziert er doch – wenngleich subtil – mit seine Nebenbemerkung über eine „ganz professoral“ dozierende Rezension im Standard eine leicht angestaubte Gesinnung des Konkurrenzblattes):
Vielleicht ist Wilfried in der Tat ein „Erregungs- und Übertreibungsmonomane“, ein „Opportunist“, dessen Charakter der Alkohol schwer in Mitleidenschaft gezogen hat, aber Tatsache ist auch, dass beispielsweise sämtliche Frauengestalten in diesem Buch so dezidiert negativ geschildert werden, dass das Ganze fast schon misogyne Züge trägt. […] man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese ganzen Spielereien hier vor allem dazu dienen, den eigenen Ressentiments freien Lauf zu lassen und sich zugleich unangreifbar zu machen. […] Viel wichtiger ist, dass hier […] nichts […] – altmodisch formuliert – allgemein Menschliches sichtbar wird.“ [42]
Wie Krause verweist er auf die von Gstrein (ob absichtlich oder unabsichtlich) selbst losgetretene Debatte und den metafiktionalen Gehalt des Romans, auf den er allerdings etwas differenzierter eingeht. Die Conclusio bleibt allerdings dieselbe: Der gynophobe Grundtenor schmälere die Qualität des Buches – gleich wie die zu offensichtlich zutage tretenden Rachegelüste des Autors. Als Wertungskriterium zieht Wirthensohn – neben den bereits diskutierten moralischen Aspekten – die Forderung nach Übertragbarkeit aufs ‚allgemein Menschliche‘ heran, die seiner Einschätzung zufolge nicht gegeben ist.
Christoph Schröder befindet in der taz , dass „die Fiktionalisierungsversuche, die Gstrein auf den ersten Seiten unternimmt“, „[a]llzu routiniert, gar ein wenig läppisch“ seien – und schlägt wieder den Bogen zur Lesart als Suhrkamp-Schlüsselroman, indem er auf die Möglichkeit der indirekte Dechiffrierung – den Umweg über die Pseudo-Fiktion – verweist. Allerdings resümiert er, dass der Aufruhr um das Buch „auf einen kleinen Kreis von Feuilletonisten [beschränkt sei], die nach der Lektüre enttäuscht sein müssen – steht nichts Neues drin“. [43] Die Feststellung, dass Die ganze Wahrheit „nichts Neues“ biete, ist hier natürlich auf die im Roman kolportierten vermeintlichen Indiskretionen über Ulla Unseld-Berkéwicz bezogen; zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen auch einige Rezensenten, die den Roman ausschließlich und ohne Miteinbeziehung der metafiktionalen Komponente als Schlüsselroman lesen. Ein Enthüllungsroman, der nichts enthüllt – unter diesem Gesichtspunkt betrachtet erscheint die Lektüre freilich wenig ergiebig.
Literarizität abseits der Schlüsselroman-Problematik? [nach oben]
Wie die angeführten Beispiele zeigen, nimmt das spannungsreiche Verhältnis zwischen Realität und Fiktion in vielen Rezensionen eine zentrale Stellung ein; nur wenige Kritiker gehen auf den literarischen Gehalt fernab der Schlüsselroman-Problematik ein. Als Ausnahme sei hier etwa Hubert Winkels in der Zeit angeführt, der – wiewohl er ebenfalls ausführlich auf den Bezug zum Suhrkamp-Verlag eingeht – Struktur und Form des Romans zur Sprache bringt:
Gstrein hat im Laufe von über zwanzig Jahren Mittel der Überfeinerung und Überkomplexität entwickelt wie parallel zu ihm vielleicht nur noch Andreas Maier. Beide erzählen nämlich die Welt vom Hörensagen her. […] Man könnte geradezu von on dit -Literatur sprechen. Man achte nur einmal auf die sprechaktbezogenen Ausdrücke […] Die fast völlige Konzentration der Erzählung, der dramaturgischen wie sprachlichen Mittel auf jene böse Dagmar unterbindet jeden Spannungsaufbau. Es gibt kein Gegengewicht […] Der Roman hinkt. Er ist zu eng angelegt, konzentriert sich einseitig, trotzig-störrisch auf eine Person […] [Er] befriedigt nicht das Bedürfnis nach einer gelungenen Form, mit der wir den Dingen begegnen können. [44]
Probleme in Hinblick auf die Figurenkonstellation werden auch von anderen Rezensentinnen und Rezensenten bemängelt – tendenziell in eine ähnliche Richtung gehend wie bei Winkels: Die obsessive Konzentrierung auf Dagmar schade dem Roman, der Ich-Erzähler sei – gleich wie der dekadent-morbide Lebemann Heinrich Glück – viel zu blass, um gegen die Überpräsenz der Protagonistin ankommen zu können. [45]
Darüber hinaus wird auf die stilistische Qualität [46] des Romans verwiesen – oftmals in Kombination mit dem selbtsreferentiellen Charakter, führt doch der Ich-Erzähler eine Vielzahl an Beispielen für stilistische Schlampereien an, die ihn ganz offensichtlich zur Weißglut bringen. [47] Brigitte Schwens-Harrant nennt weitere Aspekte, die zentrale Positionen im Roman einnehmen und ihrer Ansicht nach Die ganze Wahrheit als lesenswertes Buch auszeichnen: Sie führt Anspielungen auf eine Vielzahl (bevorzugt österreichischer) Autoren an und deutet das Buch als mögliche Satire über den Literaturbetrieb; außerdem verweist sie auf gesellschaftskritische Aspekte, die ebenfalls einen ausgeprägten Österreich-Bezug aufweisen. [48]
Fazit – Kritik an der Kritik [nach oben]
Wie die Analyse der Rezeption von Gstreins Roman gezeigt hat, lassen sich die Rezensentinnen und Rezensenten grob in drei Gruppen aufteilen – eine erste, die Die ganze Wahrheit ausschließlich als Schlüsselroman liest – in den meisten Fällen verbunden mit einer negativen Wertung. In einer relativ übersichtlichen Zahl von Kritiken werden die komplexen Fiktionalisierungsstrategien hervorgehoben, was oft zu einer positiven Beurteilung führt, wohingegen eine dritte Gruppe gerade den Konstruktionscharakter beanstandet und als geschickt eingesetzte Finte des Autors deutet – über den Umweg der Fiktion könne Gstrein schließlich doch straffrei seinen Rachegelüsten frönen.
Beinahe allen Rezensionen gemein ist die so gut wie ausschließliche Fokussierung auf die Problematik des Schlüsselromans – kaum ein Artikel (abgesehen von den vorhin angeführten) geht detaillierter auf sonstige Aspekte ein, die Rückschlüsse auf die Literarizität des Textes fernab seiner Parallelen zur Realität zulassen würden. Es scheint so, als hätten die von Gstrein selbst lancierten Gerüchte von vornherein jede andere Lesart, ja, auch nur die Diskussion über andere Faktoren, die den Roman lesenswert erscheinen lassen könnten, im Keim erstickt. Diese Entwicklung ist wenig erfreulich, bietet Die ganze Wahrheit doch weit mehr als eine voyeuristisch-seichte Abrechnung eines möglicherweise von seinem Verlag enttäuschten Autors: Zu nennen wäre einmal die in vielen Rezensionen entweder gar nicht erwähnte oder aber als blass verkannte Figur des Erzählers, der einerseits sehr wohl einen würdigen Konterpart zur Protagonistin abgibt und andererseits auch die Komplexität der Konstellation erhöht, offenbart er sich doch im Verlauf der Handlung als reichlich angeschlagen und wenig vertrauenswürdig. Der sich schleichend ins Krankhafte steigernde Alkoholkonsum wirkt sich auf die ohnehin schon zweifelhafte psychische Konstitution und die Sozialisierung des beinahe pathologisch zynischen Erzählers nicht unbedingt vorteilhaft aus. Hinzu kommt, dass er sich trotz seiner Rachsucht offenbar ihrer körperlichen Attraktivität kaum erwehren kann – die Vermutung liegt nahe, dass er ihr in der ersten Zeit ihrer Beziehung während der nächtlichen Alkoholeskapaden doch näher gekommen sein dürfte, als er es zugibt, sodass er sich sogar dazu veranlasst fühlt, seine emotionale Distanziertheit explizit zu betonen. Das von Dagmar diesbezüglich in die Welt gesetzte Gerücht („Du bist ein Säufer […] Ein elender Grapscher“ [49] ) scheint, nebenbei bemerkt, interessanterweise der „Wahrheit“ ziemlich nahe zu kommen.
Die dubiose Figur des Lektors – eines aller Wahrscheinlichkeit nach enttäuschten, dem Alkohol verfallenen Liebhabers – lässt freilich die vorgebliche Objektivität und Wahrheitsnähe der Berichterstattung äußerst fragwürdig erscheinen. Auch die allzu deutliche Sexualisierung der Protagonistin, die vermeintliche Misogynie, die Gstrein in mehreren Artikeln zum Vorwurf gemacht wird, erscheint unter diesem Blickwinkel fraglich. Aus der Perspektive des Erzählers – eines Mannes, der seine emotionale Degeneriertheit und seine Beziehungsunfähigkeit unter dem Deckmantel intellektueller Überheblichkeit verbirgt – sind etwaige gynophobe Anwandlungen bzw. übersexualisierte Imaginationen psychologisch schlüssig und auch strukturell zur Charakterisierung der Figur sinnvoll. Seine beinahe protzige Sprachgewandtheit, der beißende Sarkasmus und seine mokanten Exkurse über stilistische Fehler von Schriftstellern, die ihn offenbar zur Weißglut treiben, zeigen umso deutlicher die Diskrepanz zwischen seiner Selbsteinschätzung und der Realität (des Romans) auf – in der der Erzähler nicht anders als verkrachte Existenz zu bezeichnen ist.
Zu dieser komplexen und zugleich ungemein unterhaltsamen Erzählperspektive kommen noch andere Merkmale, die auf den hohen literarischen Anspruch des Textes hindeuten. In kaum einer Rezension wird die Vielzahl an intertextuellen Anspielungen (etwa auf Josef Winkler, Thomas Bernhard – und nicht zuletzt auf Ulla Unseld-Berkéwicz’ Überlebnis ) zur Sprache gebracht. Beispielsweise erinnert die absurd-witzigen Beschreibung einer pseudo-intellektuellen, typisch österreichischen Bussi-Bussi-Gesellschaft aus der Perspektive eines reichlich asozialen Misanthropen, der sich überhaben glaubt und dennoch nur ein kaum beachteter Untergebener ist, stark an Bernhards Schlüsselroman Holzfällen . In den seltensten Fällen wird auf die Komik verwiesen, die aus der Darstellung des provinziell anmutenden Literaturbetriebs erwächst (kein Wunder, dass österreichischen Kritikern die „Jubel-Steirer“ und „Hurra-Tiroler“, [50] deren folgsam abgefasste Rezensionen vom Erzähler mit beißendem Spott bedacht werden, wenig behagen).
Der spezifische Regionalitätscharakter könnte möglicherweise erklären, warum der Roman in den in Deutschland erscheinenden Medien überwiegend negativ rezipiert wurde – österreichische Klischees und Anspielungen werden von deutschen Kritikerinnen und Kritikern unter Umständen übersehen, was freilich wiederum den Eindruck einer allzu exzessiven Konzentrierung auf Ulla Berkéwicz erwecken könnte.
Der unreflektierte Philosemitismus und der beinahe fundamentalistisch anmutende Antiamerikanismus – Geisteshaltungen, die in dem intellektuellen Milieu, in dem der Roman spielt, zweifelsohne gang und gäbe sind – werden von Gstrein aufs Korn genommen und erzielen in Kombination mit der kabbalistisch-mystischen Weltsicht der Protagonistin eine komische, beinahe schon groteske Wirkung. Welche Weltsicht – die zynische und vorgeblich abgeklärte des Erzählers oder die abstrus-esoterische Dagmars – letzten Endes siegreich aus dem Machtkampf hervorgeht, lässt der ungemein vieldeutige Schluss, der noch einmal die Brücke zur Realität schlägt, offen. Sicher ist, dass nicht nur die Verlegerwitwe beißendem Spott ausgesetzt ist, sondern auch der Lektor (wenngleich nur implizit) sein Fett abbekommt.
Um noch einmal auf die Lesart als „Berkéwicz-Roman“ [51] zurückzukommen: Wie bei vielen Anspielungen auf soziale Gegebenheiten, auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und bei intertextuellen Verweisen erhöht die Kenntnis der jeweiligen Grundlage den Lustgewinn an der Lektüre. Im Falle eines vielschichtigen Werkes sind solche Einblicke in einzelne Details und das Realisieren jeder Andeutung aber nicht zwingend vonnöten, um ästhetisches Vergnügen zu empfinden. Genau das trifft auch auf Die ganze Wahrheit zu: Zwar steigert die vorausgehende Lektüre von Unseld-Berkéwicz’ Roman Überlebnis klarerweise das Amüsement, das durch Wiedererkennen – nicht nur von inhaltlichen Parallelen, sondern auch in Hinblick auf Wortwahl und Stil – erzeugt wird. Grundlage ist hier eher ein intellektuelles denn ein voyeuristisches Vergnügen, wie es einige Kritiken unterstellen – schließlich wird über Unseld-Berkéwicz nichts verlautbart, was nicht schon vorher bekannt gewesen wäre. Weiß man als Leser oder Leserin nichts über die Verlegerin, so tut das dem Unterhaltungspotenzial des Romans kaum Abbruch – die Figuren (vor allem Dagmar und ihr wütender Konterpart) sind äußerst komplex angelegt und darüber hinaus mit dermaßen grotesken Charakterzügen versehen, dass die Lektüre auch ohne ein solches Wissen unterhaltsam ist.
Freilich ist Die ganze Wahrheit ein anspruchsvoller Roman, der von der Vielzahl an Andeutungen auf literarische und reale Gegebenheiten lebt – hat man neben der fehlenden Kenntnis der Geschehnisse im Suhrkamp-Verlag auch keine Vorstellung vom Wiener Schickeria-Milieu, in dem die Handlung spielt, versteht man die Persiflage auf den österreichischen Literaturbetrieb und die intertextuellen Anspielungen nicht, dann könnte die Lektüre an Vergnügen einbüßen. Eine Reduktion auf die Berkéwicz-Lesart wird der Komplexität und Vielschichtigkeit des Romans nicht gerecht – wie Thomas Mann in seinem berühmten Essay postuliert hat, müsse wohl ein Unterschied bestehen zwischen hochwertiger Literatur und dem „Wesen und Wirken eines Winkel-Pasquillanten“ [52] wie Leutnant Bilse. Und dieser Unterschied ist im Fall von Gstreins Roman deutlich genug gegeben. [53]
Magdalena Bachmann , 29.9.2012
[1] Vgl. dazu Michael Braun: „J’accuse.“ Literarische Skandalisierung in Offenen Briefen am Beispiel der Grass- und der Walser-Debatte. In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hrsg. von Stefan Neuhaus und Johann Holzner. 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 588-597; Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, S. 121ff.
[2] Martin Hielscher: Bilse, Biller und das Ich. Der radikale Roman und das Persönlichkeitsrecht. In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hrsg. von Stefan Neuhaus und Johann Holzner. 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, S. 686-694.
[3] Zur Gattung des Schlüsselromans vgl.Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen: Niemeyer, 2004. (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 170).
[4] Vgl. Hielscher: Bilse, Biller und das Ich, S. 687f.
[5] Thomas Mann: Bilse und ich. In: Gesammelte Werke, Bd. 10: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1960, S. 11-22, hier S. 11.
[6] Mann: Bilse und ich, S. 16.
[7] Ulla Berkéwicz: Überlebnis. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2010.
[8] Tilman Krause: Was wird der literarische Herbst bringen? In: Die Welt (Die literarische Welt), Nr. 21 vom 29.5.2010, S. 29.
[9] Gerrit Bartels: Die Anwesende und die Abwesende. Zwei literarische Abende in Berlin. Ora et Ira. In: Der Tagesspiegel, Nr. 20649 vom 18.6.2010, S. 30.
[10] Martin Ebel: Die Wahrheit über Ulla? In: Tages-Anzeiger, Nr. 137 vom 17.6.2010, S. 35.
[11] Gerrit Bartels: Ulla und ihre Männer. In: Der Tagesspiegel, Nr. 20707 vom 15.8.2010, S. 25.
[12] Brigitte Schwens-Harrant: Roman für Spürhunde. In: Die Furche, Beilage: booklet, Nr. 35 vom 2.9.2010, S. 9; Andreas Wirthensohn: Die „Fallgruben der Fiktion“. In: Wiener Zeitung, Beilage: extra, Nr. 172 vom 4.9.2010, S. 8.
[13] Bartels: Die Anwesende und die Abwesende (Tagesspiegel); Richard Kämmerlings: Den Teufel siezt man schließlich auch nicht. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage Bilder und Zeiten, Nr. 187 vom 14.8.2010, S. Z5.
[14] Urs Jenny: So ein verrücktes Huhn. In: Der Spiegel, Nr. 32 vom 9.8.2010, S. 106.
[ 15] Julia Kospach: Lakai gegen Schnepfe: Das ist Brutalität. In: Falter, Nr. 33 vom 18.8.2010, S. 29-30.
[16] Vgl. z. B. in Julia Encke: Denk nicht an Suhrkamp! In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 32 vom 15.8.2010, S. 22; Elmar Krekeler: Durch Suhrkamps Schlüsselloch. In: Die Welt, Nr. 139 vom 18.6.2010, S. 21.
[17] Krekeler: Durch Suhrkamps Schlüsselloch (Die Welt).
[18] Schröder, Christoph: Schweigen schadet hin und wieder nicht. In: Die Tageszeitung, Nr. 9265 vom 14.8.2010, S. 23.
[19] Kospach: Lakai gegen Schnepfe (Falter).
[20] Krekeler: Durch Suhrkamps Schlüsselloch (Die Welt).
[21] o. A.:Was der Fall ist. In: Provil, Nr. 33 vom 16.8.2010, S. 91.
[22] gm: Das Spiel mit der Wahrheit. In: FF, Nr. 33 vom 19.8.2010, S. 42.
[23] Kospach: Lakai gegen Schnepfe (Falter).
[24] Roman Bucheli: Travestie und Entblössung. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 22 vom 27.1.2011, S. 17.; Christian Metz: Was ins literarische Fotoalbum kommt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage Bilder und Zeiten, Nr. 247 vom 23.10.2010, S. Z5; Christian Schacherreiter,: Die Wahrheit über Dagmar. In: Oberösterreichische Nachrichten, Nr. 203 vom 2.9.2010, S. 24; Thomas Groß: Offene Rechnungen. In: Rheinischer Merkur, Nr. 33 vom 19.8.2010, S. 21; Klaus Zeyringer: Wem gehört eine Geschichte? In: Der Standard, Beilage Album, Nr. 6555 vom 14.8.2010, S. A10; Arno Widmann: Ein Genre entsteht. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 187 vom 14.8.2010, S. 33.
[25] Norbert Gstrein : Die ganze Wahrheit. München: Hanser 2010.
[26] Zeyringer: Wem gehört eine Geschichte? (Standard).
[27] Schacherreiter: Die Wahrheit über Dagmar (Oberösterreichische Nachrichten).
[28] Kämmerlings: Den Teufel siezt man schließlich auch nicht (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
[29] Widmann: Ein Genre entsteht (Frankfurter Rundschau).
[30] Schacherreiter: Die Wahrheit über Dagmar (Oberösterreichische Nachrichten).
[31] Kämmerlings: Den Teufel siezt man schließlich auch nicht (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
[32] Groß: Offene Rechnungen (Rheinischer Merkur).
[33] Andreas Breitenstein: Selbstentfesselung mit Suhrkamp. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 187 vom 14.8.2010, S. 19.
[34] Widmann: Ein Genre entsteht (Frankfurter Rundschau).
[35] o. A.: Was der Fall ist (Profil).
[36] Schwens-Harrant: Roman für Spürhunde (Die Furche).
[37] Encke: Denk nicht an Suhrkamp! (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
[38] Ebd.
[39] Hubert Winkels: Voodoo-Dagmar. In: Die Zeit, Nr. 33 vom 10.8.2010, S. 46.
[40] Tilman Krause: Königin der Ungeniertheit. In: Die Welt, Beilage Die literarische Welt, Nr. 32 vom 14.8.2010, S. 28.
[41] Tilman Krause: Neue Tendenzen der Literaturkritik. In: Die Welt, Beilage Die literarische Welt, Nr. 33 vom 21.8.2010, S. 25.
[42] Wirthensohn: Die „Fallgruben der Fiktion“ (Wiener Zeitung).
[43] Schröder: Schweigen schadet hin und wieder nicht (Die Tageszeitung).
[44] Winkels: Voodoo-Dagmar (Die Zeit).
[45] Breitenstein: Selbstentfesselung mit Suhrkamp (Neue Zürcher Zeitung).
[46] Thomas Rothschild: Wäre Suhrkamp in Österreich denkbar? Eben! In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 209 vom 10.9.2010, S. 27.
[47] Breitenstein: Selbstentfesselung mit Suhrkamp (Neue Zürcher Zeitung).
[48] Schwens-Harrant: Roman für Spürhunde (Die Furche).
[49] Gstrein: Die ganze Wahrheit, S. 284.
[50] Ebd., S. 174.
[51] Widmann: Ein Genre entsteht (Frankfurter Rundschau).
[52] Mann: Bilse und ich, S. 12.
[53] Die zitierten Zeitungsartikel stammen allesamt aus dem Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) .