Die Frage, was Literatur ist und welche Aufgaben jene haben, die sie in ihrem Entstehungs- und Rezeptionsprozess begleiten (heute sind das etwa Lektoren und Literaturkritiker) ist so alt wie die Literatur. In Krisenzeiten stellt sich diese Frage jedoch immer wieder auf neue und radikale Weise, so auch in den Jahren der sogenannten Studentenbewegung um 1968. Im Zentrum des Diskurses über das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft stand ein Verlag – der Suhrkamp Verlag, der zwar nach dem Gründer Peter Suhrkamp heißt, dessen Name für Literaturinteressierte aber untrennbar mit dem bereits von 1959 an den Verlag leitenden Siegfried Unseld verbunden ist. Unseld und der Suhrkamp Verlag gelten als Erfolgsgeschichte ohne Fehl und Tadel – wenn da nicht die Zeit um 1968 wäre. Was genau der „Aufstand der Lektoren“ war, wie es dazu kam und welche Folgen er hatte, darüber klärt jetzt eine „Chronik“ auf, die unscheinbar genug daherkommt und doch weit mehr ist als ein Stück Verlagsgeschichte. Sie schreibt eine wichtige Episode in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur neu. Wer sich bereits etwas auskennt, aber das nicht weiß, was er hier liest, dem werden die Haare zu Berge stehen, während er immer wieder vor Überraschung den Kopf schüttelt. Selten sind „Chroniken“ eine so spannende Lektüre.
Zu Wort kommen jene, denen der Verleger seinerzeit keine Stimme geben wollte – die früheren Lektoren des Verlags Karlheinz Braun, Peter Urban, Walter Boehlich, Klaus Reichert und Urs Widmer, doch auch die ebenso betroffenen KollegInnen wie Anneliese Botond oder Günther Busch werden nicht vergessen. Die Geschichte selbst ist, so kompliziert sie sich dann in ihren Deutungen darstellt, schnell erzählt:
Der Suhrkamp Verlag, zu dem seit 1963 auch der Insel Verlag gehört, ist in den 1960ern zu DEM avantgardistischen Verlag der Bundesrepublik geworden, mit modernen Klassikern wie Bertolt Brecht und Hermann Hesse, Autoren wie Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger oder Peter Handke im Programm. So war beispielsweise Enzensbergers legendäres und im Verlag erschienenes Kursbuch eines der geistigen Flaggschiffe der Studentenbewegung. Zwar verstehen sich Verleger Unseld und Cheflektor Walter Boehlich nicht gut, aber sie ergänzen sich und auch die anderen, überwiegend jungen LektorInnen haben nur das eine Ziel: Suhrkamp zum „besten“, die neueste und interessanteste Literatur präsentierenden Verlag Deutschlands zu machen. In den Worten Karlheinz Brauns: „Es war, so schien es, ein Privileg, in diesem Verlag arbeiten zu dürfen. Sogar ohne Lohn“ (S. 63).
Die Lektoren schildern, was 1968 geschieht, in etwa so: Der autokratische Stil des Verlegers und seine zögerliche oder gar ablehnende Haltung gegenüber den besonders avantgardistischen und kritischen Texten gipfelt in einem als symbolisch verstandenen Verhaltensakt. Als sich auf der Frankfurter Buchmesse Demonstranten und Polizisten schlagkräftige Auseinandersetzungen liefern und die Buchmesse zu sprengen drohen, vermittelt Siegfried Unseld erfolgreich zwischen den Positionen; die Buchmesse kann weitergehen. Die Lektoren jedoch hätten sich größere Sympathie des Verlegers für die Demonstranten gewünscht. Sie werden noch misstrauischer als ohnehin schon und beschließen, Unseld eine Lektoratsversammlung vorzuschlagen, die künftig über die Auswahl und Präsentation der zu veröffentlichenden Bücher berät und beschließt. Die Lektoren wollen Unseld aber keineswegs „entmachten“, wie man es nicht nur in den Verlagsgeschichten, sondern beispielsweise auch auf Wikipedia nachlesen kann. Sie wollen zwar einen demokratischen Entscheidungsprozess, gestehen ihm aber zugleich zu, Zünglein an der Waage zu sein. [1] Der Vorschlag war als Provokation gedacht, um Unseld seine autokratische Verlagsführung zu verdeutlichen. Die LektorInnen wollten ihrem Verleger klarmachen, dass er nicht so tun konnte, als würde er allein über das Programm entscheiden, wenn er Lektoren hatte, die für ihn die Auswahl trafen und die Manuskripte betreuten. Es war mehr eine Frage der Präsentation und der faktischen Betriebsabläufe als der Macht, da Unseld selten gegen seine LektorInnen entschied, aber oft erst in langen Gesprächen überzeugt werden wollte. Doch die Reaktion des Verlegers hat keiner vorhergesehen. Karlheinz Braun kann sich „nicht erklären, wie der ‚linke Verleger‘ Unseld auf den Brief seiner Lektoren samt beigefügtem Vorschlag einer Lektoratsverfassung reagierte“ (S. 61). Urs Widmer wird noch deutlicher: „Was wir allerdings nicht erwarteten, war, dass Siegfried Unseld […] wie ein angeschossener Eber reagieren würde“ (S. 173). Brauns ironische Bilanz lautet: „Wahrscheinlich ist der Schritt von einer durch äußerliche Verbindlichkeit kaschierten Alleinherrschaft zu einer offenen demokratischen Verfassung bereits ein revolutionärer Akt“ (S. 62).
Unseld las den Brief der LektorInnen, als er aus dem Urlaub zurück kam, und verstand ihn nicht als produktiven Versuch, mit ihm mehr ins Gespräch zu kommen, sondern als Kriegserklärung. Er sammelt die AutorInnen um sich, die er als besonders verlässlich kennt und zu denen er ein persönliches Verhältnis hat, überzeugt sie von den – wie er es sah – Umsturzplänen seiner MitarbeiterInnen und es kommt am Abend des 14. Oktober 1968 zu einem bis weit in die Nacht dauernden Gespräch zwischen Autoren, Lektoren und Unseld – das ist die später so benannte „Nacht der langen Messer“. Die LektorInnen waren auch deshalb wie vor den Kopf gestoßen, weil sie ein Programm betreuten, das sich massiv gegen die „kapitalistische bürgerliche Gesellschaft“ und für mehr Demokratie einsetzte. Sie mussten lernen, dass den AutorInnen das Hemd näher war als die Hose, die Praxis näher als die Theorie.
So katastrophal die Situation damals auch gewesen sein mag – schließlich führte sie zum Exodus der LektorInnen –, so positiv war sie letztlich für die sich selbst freisetzenden Intellektuellen. Mit einem abgewandelten Zitat des Suhrkamp-Autors Hermann Hesse kann man sagen: Allem Ende wohnt ein Anfang inne. Aus dem Engagement im Suhrkamp Verlag wurde die Gründung des Verlags der Autoren, eines genossenschaftlich organisierten Verlags, der zunächst vor allem als Theaterverlag fungierte und der weitaus demokratischere Strukturen schuf, als es sich die LektorInnen bei Suhrkamp-Unseld hätten träumen lassen. Nicht alle setzten hier ihre Arbeit fort, Urs Widmer beispielsweise sieht den halben Rauswurf als – um ein Zitat Erich Kästners zu verwenden – „Fußtritt Fortunas“, schließlich gilt er heute als einer der bedeutendsten Gegenwartsautoren der Schweiz.
So weit, so gut. – Soll man diese „Chronik“ lesen, um über die Hintergründe eines Zwists zwischen Unseld und seinen LektorInnen aufgeklärt zu werden? Das ist natürlich eine rhetorische Frage, also: Nein, natürlich nicht, dann hätten sich wohl auch diese eher zurückhaltenden Intellektuellen nicht die Mühe der Rekonstruktionsarbeit gemacht. Mir scheint, um den Bogen zurück zum Anfang der Besprechung zu schlagen, dass in diesem Buch zentrale Fragen der Produktion und Rezeption von Literatur allgemein verhandelt werden.
Siegfried Unseld, so scheint es, hat die Arbeit seiner mit dem „antiautoritäre[n] Virus der Mitbestimmung“ (Karlheinz Braun, S. 65) infizierten LektorInnen eher mit Misstrauen beobachtet, auch wenn sie bereits früh seinerzeit noch unbekannte Autoren wie Michel Foucault oder Ernst Jandl an den Verlag binden konnten. Klaus Reichert bilanziert die erste Begegnung Unselds und Jandls im Verlag wie folgt: „Unseld, der wohl erst kurz vor dem Gespräch in Texte Jandls geschaut hatte, hatte dem Autor erklärt, das seien keine Gedichte, und ihn darüber belehrt, wie Gedichte auszusehen hätten“ (S. 156). Peter Urban sieht eine entscheidende Differenz im Schielen des Verlegers nach Amerika und in seiner „kostspieligen, jahrzehntelang erfolglosen Jagd nach dem Bestseller auf dem US-Markt“. Unselds „großer Bestseller-Traum“ sei dann „erst 1984 mit dem Geisterhaus von Isabel Allende in Erfüllung“ gegangen (S. 83). Weiß man um solche Zusammenhänge, dann erklärt sich auch der, mit Pierre Bourdieu gesprochen, Verlust symbolischen Kapitals des Verlags leichter, der bereits vor Unselds Tod begann und durch die Übernahme der Leitung durch seine Witwe Ulla Berkéwicz fortgesetzt wurde. Ein Blick auf die Verlagshomepage genügt als Beleg. Am 19.11.2011 wurden auf dem Kopf der Seite folgende Titel präsentiert – vier Romane und ein Sachbuch, genau in dieser Reihenfolge: Don Winslow: Zeit des Zorns (mit dem Zusatz: „Vom Autor des Bestsellers Tage der Toten “), Esi Edugyan: Spiel’s noch einmal , Louis Begley: Schmidts Einsicht , Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Isabel Allende: Die Insel unter dem Meer .
Die Geschichte des „Verlags der Autoren“ zeigt hingegen, um Walter Boehlich zu zitieren, „was ein Markt ist, wie man ihn bedient und wie man ihn durch Beharrlichkeit überlisten kann“ (S. 103). Doch auch wenn diese Verlagsgründung eine Erfolgsgeschichte ist und sich ihr andere Verlage an die Seite stellen lassen, die Boehlichs Diktum unterschreiben würden: „Literatur unterscheidet sich dadurch von allen Industrie- und Handelsgütern, daß ihr Wert und ihre Bedeutung völlig unabhängig von ihrer Verkäuflichkeit sind“ (S. 104), so zeigt der exemplarische Blick auf Suhrkamp wie auf die derzeitige Verlagslandschaft mit dem Konzernmonster Random House eher das Gegenteil.
Es fehlt jemand, der die VerlegerInnen, LektorInnen, KritikerInnen – und nicht nur sie – an etwas ganz Grundlegendes erinnert, so wie dies Boehlich 1963 bei Siegfried Unseld getan hat, als der während eines Verlagsumzugs in Urlaub fuhr: „Die Welt ist nicht in viele eingeteilt, die schleppen und räumen und schrubben müssen, und wenige, die das nicht nötig haben, sondern sie besteht aus Menschen relativ gleicher Rechte und Pflichten“ (S. 111). Auch folgender Satz Boehlichs, gemünzt auf den Konflikt zwischen dem ost- und dem westdeutschen Verlagsbetrieb, hat heute noch ganz allgemein Bestand: „Nichts scheint so schwer, als die Freiheit, deren wir uns unbeirrt rühmen, auch zu praktizieren“ (S. 117). Boehlich hatte damals – daraus resultierte ein bezeichnendes Missverständnis (Unseld strich einfach das „bürgerlich“) und ein wichtiger Teil des Streits – die „bürgerliche Literatur und Literaturkritik“ für tot erklärt (sein entsprechender berühmt-berüchtigter Kursbuch -Beitrag Autodafé ist auf S. 142 ff. abgedruckt). So schreibt Boehlich beispielsweise erklärend an den bekannten Kritiker Joachim Kaiser:
„Welche Literatur (bestimmt nicht die) tot sei, und was dieses ‚tot‘ zu bedeuten hätte, darüber müsste man sich unterhalten. Entsprechend über die Kritik, die freilich noch elender dran ist. Wäre ich der Meinung, es solle keine Literatur und keine Kritik mehr geben, dann hätte ich vermutlich inzwischen eine Kommune gegründet oder mich um einen Posten in der Konsumgüterindustrie beworben“ (S. 132).
In diesem Sinne war Walter Boehlich Kritiker des Literaturbetriebs und Lektor zugleich; Boehlich war, wie es Günther Busch formuliert hat, „der Kritiker als Lektor, der Lektor als Kritiker“ (S. 151).
Und zuletzt: Dieses Buch, das mit Titel und Umschlag so trocken daherkommt, ist ein Lesegenuss erster Güte. Die es geschrieben haben, die können schreiben. Walter Boehlich kann auf unnachahmliche Weise den Finger in die Wunde legen und dabei Samthandschuhe tragen. Die elegant-ironische Art Urs Widmers, seine Schilderung, wie das Ehepaar Unseld auf dem Weg zur Beerdigung Wolfgang Hildesheimers ist und, weil der Verleger pausenlos redet, in den falschen Zug steigt, um dann mit einem Taxi den Trauerzug aufzuhalten und die Position hinter dem Sarg einzunehmen – das ist nicht nur Chronik des Literaturbetriebs, das ist großartige Literatur, wie sie heute, so scheint es dem (deutlich jüngeren) Autor dieser Zeilen, weniger zu finden ist als in jener mit dem „antiautoritären Virus“ infizierten Zeit.
Stefan Neuhaus , 19.12.2011
Stefan.Neuhaus@uibk.ac.at
[1] Auf Wikipedia (abgerufen am 19.11.2011) heißt es: „1968 kam es zum Konflikt zwischen Unseld und den Lektoren des Suhrkamp-Verlages. Diese (Walter Boehlich, Urs Widmer, Karlheinz Braun, Klaus Reichert) forderten die Einrichtung einer "Lektoratsversammlung", die alle wesentlichen Entscheidungen getroffen hätte. Unseld sollte ihr als einfaches Mitglied angehören, wäre also als Verleger faktisch entmachtet worden. Unseld verteidigte seine Entscheidungsgewalt; nicht zuletzt gelang es ihm, sich der Unterstützung prominenter Autoren zu versichern.“ Vgl. dagegen Punkt 4 der vorgeschlagenen „Lektoratsverfassung“: „Die Lektoratsversammlung faßt ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit. Außer den Lektoren hat der Verlagsinhaber eine Stimme. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Verlagsinhabers“ (S. 19).