Jedes Jahr am 10. Dezember schaut die literarische Welt nach Stockholm. Dort wird der Nobelpreis für Literatur vergeben. Herta Müller war 2009 die dreizehnte in der Reihe deutschsprachiger Preisträger (und die dritte deutschsprachige Autorin innerhalb von 10 Jahren). Der Nobelpreis, der so alt ist wie das 20. Jahrhundert, ist die weltweit höchste, angesehenste und mit umgerechnet einer Million Euro höchstdotierte Literaturehrung, die ein Schriftsteller zeitlebens erfahren kann, ein „Weltpreis“, wie der Nobelpreisträger  Thomas Mann schreibt. Der Nobelpreis steht an der Spitze eines internationalen Auszeichnungssystems, das von Land zu Land verschieden ist, aber nirgends so ausgeprägt wie in Deutschland. In keinem anderen Land Europas werden so viele Literaturpreise und Stipendien vergeben: deutlich über 600 jährlich. Bis auf ganz wenige Ausnahmen haftet so gut wie jeder verstorbene Dichter von Rang mit seinem Namen für einen Preis. Der Preissegen hat inzwischen auch die lebenden Autoren erreicht. Im April 2012 hat die Stiftung Monheim der dortig ansässigen Stadtsparkasse einen mit 6.000 Euro dotierten Ulla-Hahn-Preis für ein literarisches Debütwerk ausgelobt (in Monheim ist die 1946 geborene Ulla Hahn aufgewachsen).

Ob das gut oder schlecht ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die einen befürchten, dass zu viele Preise das Genie in die Ecke treiben und das Mittelmaß fördern. Ingo Schulze hat einmal die vermeintliche Abhängigkeit des Preisträgers vom Sponsor des Preisgeldes angeprangert, Daniel Kehlmann meidet den kunstfeindlichen Wettlauf der Autoren, Michael Lentz distanziert sich vom Neideffekt unter Kollegen, der auf der anderen Seite mache lehrreiche Literaturbetriebssatire hervorgebracht hat. Die anderen sehen in der Preispolitik keine Überförderung, sondern eine existenzsichernde Maßnahme für die Autoren und eine Kulturveranstaltungsform, von der alle etwas haben. So viel verdient ein Autor durch Bücherverkauf und Lesungshonorare nicht, als dass er nicht des Lebensunterhalts wegen für jede literarische Förderung dankbar wäre.

Das war so und ist tatsächlich noch immer so. Im Jahr 1341 wurde Petrarca auf dem römischen Kapitol zum Dichter-König gekränzt. Der Lorbeer des poeta lauretaus sicherte ihm nicht nur Ehre und Ruhm, sondern auch ein erkleckliches Einkommen. Im 19. Jahrhundert wurde diese Praxis durch ein differenziertes Preissystem höfischer und bürgerlicher Preisstiftungen abgelöst. Noch 1750 erhielt Klopstock vom dänischen König eine ordentliche Lebensrente. Die 1855 gegründete Deutsche Schillerstiftung, die satzungsgemäß „literarischen Talenten tatkräftig Beistand leisten sowie Schriftstellern im Falle schwerer Lebenssorge helfen“ wollte, unterstützte bereits im Gründungsjahr den Schriftsteller Otto Ludwig mit 400 Talern. Der 1859 gestiftete Schillerpreis – der erste seiner Art – war mit für damalige Verhältnisse opulenten 1.000 Goldtalern (ein Taler Gold entspricht etwa 3,30 Mark) ausgestattet.

Heute bewegen sich die Dotationen für Literaturpreise im Spektrum zwischen 2.000 und 50.000 Euro. Daneben gibt es einige undotierte Ehrengaben. Der Träger des Deutschen Bücherpreises, der in den Jahren 2002 bis 2004 auf der Leipziger Buchmesse verliehen wurde, erhielt statt des Schecks eine von Günter Grass gestaltete, acht Kilogramm schwere Bronzetrophäe, den sog. Bücher-Butt, der im Werk von Grass für Lebenserfahrung und ,Weisheit’ steht.

Üblicherweise erhält der Preisträger vom Preisstifter neben dem Scheck eine Urkunde; dafür gibt er eine Dankrede und seinen guten Namen. Insofern wird der Preisträger durch den Preis geehrt, umgekehrt wird der Preis durch den Preisträger geadelt. Dieses Ritual der Gabentauschlogik ist ein erstaunlich stabiles Element in unserem um Innovationen nicht verlegenen Kulturbetrieb. Keine Feierstunde ohne das festgesetzte Ritual: Dazu gehören eine Laudatio auf den Preisträger, eine Dankrede und der Akt der Übergabe des Preises, meist auch eine musikalische Umrahmung.

Am deutlichsten tritt dieses Ritual bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises zutage, des renommiertesten und traditionsreichsten deutschen Literaturpreises, den sogar die Tagesschau regelmäßig mit einer eigenen Meldung würdigt. 1923 vom Volksstaat Hessen als Staatspreis für Kunst gestiftet, 1933 von den Nationalsozialisten ausgesetzt, wurde der Büchnerpreis nach 1945 in zwei Anläufen – seit 1951 unter den Auspizien der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung – institutionalisiert. Die Liste der Büchnerpreisträger liest sich wie ein Who is who der Gegenwartsliteratur; wer wissen will, wo diese Autoren poetologisch und gesellschaftlich stehen, braucht nur ihre Dankreden zu lesen. Mut zur Qualitätsentscheidung beweist die Wahl des Büchnerpreisträgers 2012: Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe entzieht sich gängigen Moden und markiert mit ihrem eigenwilligen Schreibprogramm sozusagen die andere Seite der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Interessant sind die Preisverleihungen, bei denen das Ritual in Frage gestellt wird. Von Thomas Bernhard (1931-1989), dem Enfant terrible der österreichischen Literatur, gibt es ein ganzes Buch über diese strategisch wichtigen Ritualbrüche: Es heißt Meine Preise und ist entstanden 1980, veröffentlicht 2009. Beim Grillparzer-Preis (1972) setzte er sich, weil ihn niemand in Empfang nahm, trotzig in die Mitte des Saals statt in die erste Reihe, in Bremen hielt er (1966) die allerkürzeste Rede, die je ein Bremer Literaturpreisträger gehalten hat, beim Österreichischen Staatspreis für Literatur (1967) sprach er über die „Nichtigkeit aller Staaten“, beim Büchnerpreis (1970) verglich er das Gewicht der Urkunden der Preisträger.

Robert Gernhardt (1937-2006) waren Literaturpreise so vergällt, dass er 1983 das Nobelpreiskomitee bat, ihn am besten gar nicht erst in Erwägung zu ziehen. Und Walter Kempowski (1929-2007) hat in Weimar auf einer Parkbank an der Ilm darüber nachgedacht, warum Preise so oft zu früh oder zu spät kommen und was dies bei dem Autor anrichtet. Diesmal hatte der lange Zeit als besserer Unterhaltungsautor und in die Literatur verirrter Archivar Verkannte Glück. Mit seinen Überlegungen bedankte er sich im Frühjahr 1994 für den zwei Jahre zuvor ins Leben gerufenen Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung – der diesmal genau zur „rechten Zeit“ kam – für seine epochale Chronik Das Echolot .

Dass der Preismarkt noch lange nicht gesättigt ist, zeigt der Deutsche Buchpreis. Im achten Jahr 2012 ist er eine Art „Stiftung Warentest“-Siegel der deutschen Literatur. Longlist und Shortlist haben auf breiterer Basis etwas bewirkt, das man hierzulande in der Förderkultur seit geraumer Zeit vermisst. Man vergleicht wieder Bücher, man streitet über den „besten Roman“. Der Buchpreis hat einen mehrheitsfähigen Geschmack standardisiert. Die Konkurrenz der Kandidaten hat den Diskurs über belletristische Bücher belebt. Und den ausländischen Buchmarkt: Fünf der sechs Shortlist-Titel aus dem Jahr 2006 wurden im angolamerikanischen Raum übersetzt. Andererseits gibt es auch eine lesenswerte Literatur jenseits des Buchpreiskanons. Bei einer jährlichen Romanproduktion von ca. 6.000 Titeln schafft es ja nur jeder tausendste Roman auf die Shortlist. Das ernüchtert.

Wer aber soll das alles lesen? Insgesamt müssen die Buchpreisjuroren etwa 150 eingereichte Romane in knapp vier Monaten lesen. Selbst wenn man die aufgrund ihrer Exotik von vornherein ausgemusterten Bücher abzieht, dürfte man mit der Schätzung von zehn Buchlektüren pro Woche nicht ganz falsch liegen: ein Lesepensum, das angesichts der Mehrhundertseitenzahl der Romane auch von dem besten Leser, für den Arno Schmidt einmal eine Lebensleseleistung von maximal 5.000 Büchern errechnet hat, kaum zu bewältigen wäre. Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Literaturhauses und Buchpreisjuror 2008, hat uns einmal einen Blick hinter die Kulissen erlaubt: „Natürlich kann keiner alle diese Bücher lesen. Wir haben sie also zunächst innerhalb der Jury verteilt. Und dann wurde gelesen, manches ganz, manches in Teilen.“ Ein Vorteil ist es, wenn der Juror im Literaturbetrieb arbeitet. Als „gesellige Verlängerung des Literaturkritikers“ (so der Kritiker des Deutschlandsfunks, Dr. Hajo Steinert) kennt er die Werke, aus denen er eine rigorose Auswahl treffen muss. Ist ein Autor zugleich Juror, wird das riskant.

So war der Autor Joachim Lottmann als Wolfgang-Koeppen-Preisträger 2010 ganz allein verantwortlich für die Wahl des Nachfolgers zwei Jahre später. Dieser Modus ist ein Alleinstellungsmerkmal dieses Preises. Lottmann öffnet uns die Nöte einer Jurorenseele. „Auf der Suche nach dem preiswürdigen Autor“ (FAZ, 21.4.2012) lassen ihn alle im Stich: Sein Lieblingsautor hat Freunde, die den Juror nicht mögen, und dieser hat Kollegen, die etwas gegen seinen Kandidaten haben; ein Kollege droht ihm sogar die Freundschaft aufzukündigen, sollte er ihn für den Preis vorschlagen. Als Lottmann seine Kandidaten besuchen will, um sich selbst ein Bild von ihnen zu machen, kursiert das Gerücht, er mache aus dem Preis eine Casting-Show. Ein preisbegieriger Autor bombardiert ihn „mit Manuskripten, Geschenken, Mails, Einladungen“. Schließlich gibt der größte gemeinsame Nenner den Ausschlag: Die Autorin Anna Katharina Hahn „schreibt präzise, unideologisch, gegenwärtig: Stuttgart 21 kommt vor, schwache Vatermänner kommen vor, die aber liebevoll zu ihren Kindern sind. Die negative Hauptfigur hat einen ,Migrationshintergrund’. ... Man sieht alle Beschädigungen und kann sich nicht auf eine Seite schlagen. Eben echte Literatur“. Gut getroffen: Hahn ist denn auch Koeppen-Preisträgerin 2012.

Der dreistufige Concours aus Longlist, Shortlist und Preisverleihung macht das Verfahren spannend. Schon die Mitte August veröffentlichte Longlist aus 20 Buchpreiskandidaten ist ein Marketinginstrument, das jede bessere Buchhandlung ebenso gerne nutzt wie das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels , der ein nützliches Booklet zum Buchpreis mit Leseproben, Autorenporträts und Hintergrundinformationen herausgibt. Auch auf den Websites der Heimatverlage der Longlist-Titel sind diese eigens gewürdigt. Es gibt – bis zum Datum der Publikation der Shortlist – Blinddate-Lesungen von Longlist-Autoren von Köln bis St. Petersburg; das Geheimnis, wer wo liest, wird erst am Tag der Lesung gelüftet.

Bei der Ausrufung der sechs Shortlist-Autoren im September kommt es nochmals zu einer Marktwertsteigerung. Die Bücher werden ein zweites Mal besprochen, die Autoren interviewt, die Romane in Auszügen übersetzt, was man seit 2007 auf der englischsprachigen Seite des online-Kulturmagazins www.perlentaucher.de nachlesen kann. Die Preisverleihung ist die dritte Stufe des Verfahrens, der Höhepunkt. Wer der neue Preisträger ist, wird erst in der Feierstunde auf der Frankfurter Herbstbuchmesse publik gemacht. Das Ereignis fällt mit der Nachricht zusammen. Wenn der aktuelle Buchpreisträger auf dem Podium steht und den mit 25.000 Euro dotierten Hauptpreis entgegennimmt (die Mitfinalisten bekommen jeweils 2.500 Euro), zeigt sich, worauf es wirklich ankommt: auf das umkämpfte Gut der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Natürlich ist kein Literaturpreisverfahren perfekt. Der klassische Einwand gegenüber Bestsellerlisten und Bestenlisten (was nicht dasselbe ist!) gilt dem, was anscheinend fehlt. Ibsen, Tolstoi und Zola wurden seinerzeit als Nobelpreiskandidaten abgelehnt. Der amerikanische Romanautor Philip Roth ist der wahrscheinlich am längsten gehandelte Anwärter auf den Nobelpreis. Auf der Longlist des Buchpreises vermisst man die Lyrik, weil der Buchpreis eigentlich ein Romanpreis ist. Und die Gründe, warum in einer Jury der eine Autor vorgeschlagen wird und der andere ignoriert, verlieren sich im Nebel der Neuerscheinungen.

Wenn im Schnitt pro Tag zwei Preise verliehen werden, müsste theoretisch jeder namhafte Autor – insgesamt 730 stellt das Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur derzeit vor – einmal im Leben einen erhalten können. Aber es gilt Marcel Reich-Ranickis eiserne Regel: „Preisgekrönt wird, wer preisgekrönt ist.“ Selten kann ein Debütantenpreis wie der Jürgen-Ponto-Preis den Kreis der üblichen Verdächtigen durchbrechen. Auch der Klagenfurter Literaturwettbewerb, der sich als Dichtermarkt, Arbeitstreffen, Autorenbörse und literarische Modenschau großer Beliebtheit erfreut, ist manches Mal für eine Überraschung gut, Televisionsdruck hin oder her (der „Weimarer Salon“ des MDR, der von 2001 bis 2005 ausgestrahlt wurde, hatte eine Einschaltquote von 2 bis 3 Prozent). Man mag den Juroren, die keine leichte Arbeit haben, wenn sie wie ihr Vorsitzender Burkhard Spinnen die „Konfrontation mit dem Urteil“ nicht scheuen, Mut zur Lücke wünschen. Aber auch die Konvention hat ihre guten Seiten. Jeder Preis ist so gut, wie der Autor, der ihn erhält – und die Jury, die ihn ermittelt.

Was bleibt? Literaturpreise sind ein Markenzeichen unseres föderalistischen Kulturbetriebs. Sie unterstreichen die Vielfalt des literarischen Lebens. Sie kurbeln den Buchverkauf an und geben der deutschen Literatur einen kräftigen Anerkennungsschub, wie sich nach der Nobelpreisverleihung an Grass (1999) gezeigt hat. Zudem sind sie ein Instrument, das etwas Ordnung schafft in der Gegenwartsliteratur und lesenswerte Bücher anzeigt. Vom eigenen Lesen und vom selbständigen Beurteilen der Bücher entbinden die Literaturpreise nicht.

 

Michael Braun , 29.9.2012

Michael.Braun@kas.de

Prof. Dr. M ichael Braun ist Leiter des Referats Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und apl. Professor an der Universität zu Köln.

 

Literaturempfehlungen:

Thomas Bernhard: Meine Preise. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2009.

Deutscher Buchpreis 2009. Leseproben. Frankfurt/Main: Börsenblatt, 2009.

Robert Gernhardt: Wege zum Ruhm. 13 Hilfestellungen für junge Künstler und 1 Warnung. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1999.

Ulrich Janetzki, Christina Böde: Preise und Stipendien. Handbuch für Autoren. Berlin: Quadriga, 2000.

Judith S. Ulmer: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals. Berlin/New York: de Gruyter, 2006.

Andreas J. Wiesand: Handbuch der Kulturpreise 4. Neufassung des Standardwerkes zur individuellen Künstlerförderung 1995-2000. Bonn: Arcant Media, 2001.

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