Es ist an dieser Stelle angebracht, Margaret Atwood zu kondolieren. Das mit dem Literaturnobelpreis wird jetzt wohl nichts mehr. (Immerhin hätte sie sich für ihre faire Reaktion – „Hooray! Alice Munro wins 2013 Nobel Prize in Literature“ [1] – für den Friedensnobelpreis deutlich stärker empfohlen als der letztjährige Preisträger in dieser Kategorie.) Schriftsteller weltweit halten vorsorglich die Hand über den Telefonhörer, Verlage haben ein „Druck frei“ auf den Lippen, falls sie so glücklich sein sollten, über die Übersetzungsrechte des Gewinners zu verfügen, Wikipedia-Jünger wollen die ersten sein, den entsprechenden Eintrag um ein „Nobelpreisträger“ zu ergänzen, und das Feuilleton sitzt auf Nadeln, die Sensation will schließlich dem Anlass entsprechend pompös verkündet werden. Es ist Oktober und die Verleihung des Nobelpreises für Literatur steht an. Wenn ein literarisches Ereignis über ein literaturaffines Publikum hinaus wahrgenommen wird, so ist es der Nobelpreis. Daher kann seine Bedeutung kaum überschätzt werden: Es geht nicht um die Vergabe eines Preises, sondern um ein jährlich zu vergebendes Motto. Die Literatur bekommt einen Stempel, der für die breite Masse gedacht ist, nicht für den Literaturbetrieb. Das Nobelpreiskomitee, so lässt sich zugespitzt formulieren, verfügt in der öffentlichen Wahrnehmung über die Definitionshoheit im Kampf um literarische Legitimität. Dieses Jahr also: Alice Munro. Die Recherchemaschinerie läuft an: Kanadierin, 82 Jahre, verheiratet, schreibt Kurzgeschichten. Und dann passiert erst mal nichts. Wie langweilig: Der Nobelpreis wird verliehen und alle sind damit einverstanden. Kein Skandal, keine Ohnmachtsanfälle, nicht mal neidische SchriftstellerkollegInnen. Zugegeben: Gegen eine 82-Jährige „Hausfrau“ zu wettern, verbietet sich schon aus Respekt. Denis Scheck bricht in Lobeshymnen aus. FAZ und taz sind sich einig. Sogar Helmut Karaseks Frau liebt die Erzählungen dieser Autorin und empfiehlt sie ihrem Gatten schon seit Jahren. Nicht, dass ihn das dazu bewogen hätte, zumindest einen Munro’schen Text auch tatsächlich zu lesen, aber wer will ihm das schon verdenken. Frauenliteratur halt. Gut, dass Frau Karasek jetzt Schützenhilfe vom Nobelpreiskomitee bekommen hat. Zugegeben, Martin Walser hat „null“ Ahnung, von wem überhaupt die Rede ist, das kann man aber indes getrost als Auszeichnung interpretieren. Denn Alice Munro hält sich in ihrer Prosa wesentlich kürzer und in ihrem öffentlichen Auftreten deutlich zurückhaltender, da wird man schon mal übersehen. Wenn man wenigstens Marcel Reich-Ranicki noch fragen könnte! Der fand schon Doris Lessing als einziger bedauerlich. Da ist man schon froh, wenn zumindest Bret Easton Ellis auf Twitter ordentlich stänkert: „Alice Munro was always an overrated writer and now that she's won The Nobel she always will be. The Nobel is a joke and has been for ages...“ [2] . Gut, dass Herr Ellis nicht unbedingt Gefahr läuft, irgendwann selbst in die Verlegenheit zu kommen, mit dem Nobelpreis bedacht zu werden.

Da waren die letzten Jahre schon konfliktreicher: Die Reaktionen nach Mo Yans Sieg waren von deutlichen Misstönen geprägt. Dem chinesischen Autor wurden seine Verbindungen zum kommunistischen Regime angelastet, von einem Affront [3] war die Rede, Herta Müller gab sich entrüstet, kaum einer äußerte sich vorbehaltlos zustimmend.

Vargas Llosa? Zu rechts. Vielleicht auch zu links. In jedem Fall zu politisch.

Le Clézio? Langweilig und esoterisch.

Tomas Tranströmer? Schwede.

Elfriede Jelinek? Gott bewahre.

Alice Munro hingegen bekommt vorbehaltlos Zustimmung von allen Seiten. Was also macht die Autorin so unanfechtbar? Woher kommt der so einhellig positive Tenor? Will man sich an die simple, aber zutreffende Formel halten, die Nobelpreisvergabe mehr als gesellschaftspolitisches Statement zu lesen und weniger als literarisches, so lässt sich die Entscheidung des Nobelpreiskomitees als Deeskalationsstrategie beschreiben. Nach einigen äußerst kontrovers diskutierten Entscheidungen und den Turbulenzen um Mo Yan fiel die Wahl nun auf eine Autorin, die niemanden vor den Kopf stößt. Eine, die als politisch und ideologisch unbedenklich gilt, die durch keine Skandale privater oder literarischer Art aufgefallen ist und deren literarische Qualität außer Zweifel zu stehen scheint. Auch wenn sie Herrn Walser kein Begriff ist, Alice Munro ist alles andere als eine Unbekannte, in englischsprachigen Landen gehört sie nicht erst seit gestern zum engeren Kanon. Dass sie im deutschsprachigen Raum weniger Aufmerksamkeit bekommen hat als so mancher Kollege wie Philip Roth oder John Updike, erklärt sich zum einen aus der Subordination der Gattung unter den allmächtigen Roman, zum anderen ist sie der Marginalisierung weiblicher Autoren geschuldet. Das Bild trügt allerdings ein wenig, denn Munros Texte wurden in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Feuilleton umfassend und beinahe ausnahmslos hymnisch besprochen. Daraus lässt sich mitnichten die Schlussfolgerung ableiten, dass Munros Kür nur aus der Verlegenheit einer konsensorientierten Jury geboren ist. Alice Munro ist keine Verlegenheitskandidatin.

 

Meisterin der kurzen Form

Es lohnt sich also, einen Blick darauf zu werfen, welche Qualitäten am Werk der Autorin wahrgenommen und akzentuiert werden. Entgegen der vorher angenommen gesellschaftspolitischen Motivation bezeichnet das Nobelpreiskomitee in seiner offiziellen Begründung die Autorin als „ master of the contemporary short story “ und nimmt damit eine formal-ästhetische Positionierung im Feld vor, welche die historisch gewachsene Hierarchisierung der Gattungen zur Disposition stellt. (Dass damit die Gründungsidee Alfred Nobels, wonach der ideologisch-politische Wert ausgezeichnet werden solle, ad absurdum geführt wird, steht auf einem anderen Blatt.). Im Vordergrund stehen ergo formale Aspekte, weshalb die Wahl auch als Appell für die Autonomie des kulturellen Feldes interpretiert wird, dessen Grenzen in den letzten Jahren im Kontext der Nobelpreisverleihung beständig gesprengt wurden. Nun kann man natürlich darüber streiten, ob die Verleihung eines Literaturpreises, zumal eines so hoch dotierten, nicht von vornherein dem Prinzip der externen Hierarchisierung unterliegt und daher einen Eingriff in die Autonomie des literarischen Feldes darstellt. In jedem Fall ist die Kür Munros im Kontext der Begründung eine deutliche Distanzierung von ideologisch fundierten Feldüberschreitungen. Gelobt wird primär Munros sprachliche und formale Ökonomie. Die Ehrung Munros ist zweifellos eine „Nobilitierung“ [4] der Kurzgeschichte, die trotz oder gerade aufgrund ihrer verdichteten Form immer im Schatten des dominanten und leichter zugänglichen Romans steht. Ihre Erzählungen sind „komprimierte Romane“, wie Sigrid Löffler festhält. [5] Aufgrund der von ihr präferierten Gattung der Kurzgeschichte wird Munro eine spezifische Position im Feld zugewiesen, welche die Rezeption und die Reaktionen auf den Nobelpreis steuern. Nun ist natürlich anzunehmen, dass nicht jeder Artikel zum Nobelpreisgewinn tatsächlich auf einer intensiven Lektüre des Munro’schen Werkes gründet und man sich daher wie üblich mit einem Seitenblick auf die KollegInnen behilft, was die überproportionale Gewichtung des Gattungsaspekts erklärt. Und natürlich ist es schwieriger, auf den Inhalt eines so umfangreichen Kurzgeschichtenwerks einzugehen, als auf ein Ouvre, das sich aus wenigen Romanen zusammensetzt. Alice Munro wird als Kurzgeschichtenautorin rezipiert und in die Literaturgeschichte eingehen. In erster Linie ist sie aber eine Autorin, die zum genauen Hinsehen zwingt.

 

Da waren es schon dreizehn!

Wie immer, wenn eine Frau ausgezeichnet wird, treten die androzentrischen Strukturen des Literaturbetriebs ungefiltert zutage. Da wird fleißig gezählt und sich selbst auf die Schulter geklopft. „ Lucky Thirteen! “  freut man sich etwa auf der offiziellen Nobelpreis-Homepage. 13 von insgesamt 110, eigentlich kein Grund sich selbst zu loben. Auch die Hymnen in der Presse sind nicht ganz frei von mit Sicherheit unintendierter Herabwürdigung. Eine Schriftstellerin von Weltrang in paternalistischer Manier als „schreibende Hausfrau“ und „Küchentischliteratin“ [6] zu bezeichnen, zeugt von grober Ignoranz. Das heißt nicht, dass man einfach so über die Bedingungen ihres Schreibens hinweggehen soll, immerhin zwang genau die prekäre Situation, an der etwa eine Silvia Plath scheiterte, die Kanadierin zu jener Verdichtung, Stringenz und sprachlichen Ökonomie, die ihr Schreiben so besonders machen. Es macht aber einen erheblichen Unterschied, ob auf die diskursive Problematik weiblichen Schreibens hingewiesen wird oder ob man aus einem Attribut ein alles bestimmendes Substantiv formt: die Hausfrau, die nebenbei auch noch schreibt, ein Hobby sozusagen, statt die Schriftstellerin, die nebenher noch einen Haushalt schmeißt.

Die Entscheidung für eine Preisträgerin ist immer eine gegen viele andere. Eine gegen die üblichen Verdächtigen und in diesem Fall eine gegen Margaret Atwood, die ebenfalls schon jahrelang als nobelpreiswürdig gehandelt wird. Atwoods radikal dystopische Texte stehen in einem dezidiert feministischen und engagierten Kontext. Die „schreibende Hausfrau“ reizt den Literaturbetrieb offenbar weniger zu einem patriarchalen Poltern als es eine Margaret Atwood getan hätte geschweige denn eine Elfriede Jelinek getan hat. Und das, obwohl ihren Texte nicht weniger emanzipatorische Sprengkraft innewohnt. Zu behaupten, Alice Munro sei eine unpolitische Autorin, wie es die meisten Kommentare, oberflächlich über die inhaltlichen Schwerpunkte streifend, suggerieren, ist deshalb verfehlt. Munro bespielt mit ihren kurzen Prosatexten das literarische Feld so virtuos, dass man leicht übersehen kann, wie emanzipatorisch und politisch ihre Texte in Wahrheit sind. Ihren Sieg als Triumph der Form und des Ästhetischen über das Politische zu feiern, fast so, als müsse sich das zwangsläufig ausschließen, ist naiv. Das muss es nicht und ganz sicher nicht in Munros Werk. Die Form überdeckt keineswegs den Inhalt, beides bedingt sich gegenseitig, erst in der Verschränkung entsteht die singuläre Qualität dieser Prosa. Munros Kurzgeschichten sind keine handwerklichen Fingerspiele. Die Ästhetik der Aussparung spiegelt die Lebenswelten der ProtagonistInnen wider. Fast immer ist das Leben ihrer weiblichen Figuren defizitär. Da bleibt vieles im Dunklen, unbenannt, unerfüllt, unerreichbar, auch wenn die Wände, gegen die die Munro’schen Heldinnen beständig anrennen, oft unsichtbar sind, so wie auch die Textstruktur den Leser zum Lückenfüller im positiven Wortsinn macht. Der Titel des einzigen Romans der Kanadierin Lives of Girls and Women (1971) kann also als programmatisch gelten. Es gibt nur wenige männliche Figuren in Munros Werk, der Fokus liegt auf weiblichen Lebenswelten in überwiegend ländlichen Gegenden. Munros Texte sind Ausbruchphantasien aus der Enge provinzieller Sozialräume, es sind kleine Proteste gegen vorgezeichnete Lebenswege, gegen die Beschränkungen, denen Frauen in spezifischen Milieus ausgesetzt sind. Bildung ist daher ein wiederkehrendes Thema in Munros Kurzgeschichten, etwa in Dear Life , dessen autobiographische Ich-Erzählerin mit der Schule hadert, diese aber auch dann noch nicht verlässt, wenn alle anderen Mädchen schon einer weiblichen Bildungsauslese zum Opfer gefallen sind: Halbtagsjobs, Arbeit auf der heimatlichen Farm oder der eigenen Familiengründung. Die Erzählerin aber bleibt: Man erblickt in ihr schon jene Alice Munro, die den Strukturen verhaftet bleibt und gleichzeitig dagegen rebelliert. Tilman Spreckelsen bezeichnet Munros Literatur in der FAZ sehr treffend als „heimtückisch“: „Alice Munro legt beiläufig Minen und zündet sie mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt“. [ 7] Die Engstirnigkeit der puritanisch geprägten Landbevölkerung, kaum zu überkommende Klassenunterschiede, die erdrückende Enge des Familienlebens: das sind keineswegs unpolitische Themen. Aber Munro wertet nicht offen, sondern bleibt auf Distanz. Wo ihre Freundin Margaret Atwood mit dem Hammer ausholt, ist Alice Munro ein Virus im System. „Beiläufig“ ist daher das richtige Wort für Munros Rebellionen. Und die sind nicht weniger wirksam.

 

Veronika Schuchter , 22.12.2013

Veronika.Schuchter@uibk.ac.at

 


[1] Margaret E. Atwood@Margaret : „Hooray! Alice Munro wins 2013 Nobel Prize in Literature.“ Twitter, 10.10.2013, 01:47 PM.

[2] Bret Easton Ellis@BretEastonEllis : „Alice Munro was always an overrated writer and now that she's won The Nobel she always will be. The Nobel is a joke and has been for ages...“. Twitter, 11.10.2013, 10:06 AM.

[3] Wieland Freund: Halluzinatorische Wahl. Der Literaturnobelpreis für den staatsnahen Chinesen Mo Yan ist ein Affront. In: Die Welt vom 12.10.2012, S. 3.

[4] Elmar Krekeler: Den Nobelpreis hat sie am Küchentisch verdient. In: Die Welt vom 11.10.2013, S. 31.

[5] Sigrid Löffler: Zwischen Küchenherd und Schreibtisch. In: Falter vom 16.10.2013, S. 32.

[6] Elmar Krekeler: Den Nobelpreis hat sie am Küchentisch verdient. In: Die Welt vom 11.10.2013, S. 31.

[7] Tilman Spreckelsen: Nobelpreis für Literatur an Alice Munro. Es geht ums Ganze, jederzeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.10.2013, S. 31.