Bei literarischen Veranstaltungen kommen den einbezogenen Personen verschiedene Rollen zu, wobei gewisse Parteien immer in einer Beziehung zueinanderstehen. Mich interessieren vor allem die Beziehung zwischen den Moderator*innen, Autor*innen und dem Publikum. Einerseits ist dabei von Interesse, wer zu welchem Teil auf welche Weise gestaltet und insbesondere auch, wie diese Dynamik durch das digitale Format beeinflusst wird.
Auch in diesem Jahr wurden zwölf Autor*innen zu den Rauriser Literaturtagen eingeladen und mit ihnen Gespräche über ihre Werke und ihr literarisches Schaffen geführt. In drei von diesen Gesprächen, die mit Erwin Einzinger, Julya Rabinowich und Peter Henisch, finden wir drei verschiedene Gestaltungsformate vor, welche die Beziehung zwischen Moderatorin, Autor*in und Publikum maßgeblich beeinflussen. Das Gespräch mit Einzinger wird im Mesnerhaus in Rauris abgehalten. Johanna Öttl und Peter Henisch führen das Gespräch im „urbanen Außenposten“ durch, in der Alten Schmiede in Wien. Julya Rabinowich und Ines Stöckl kommunizieren ganz per Internetübertragung, denn Ines Stöckl befindet sich im Mesnerhaus, während Julya Rabinowich kurzfristig verhindert nun doch von ihrem Wohnsitz in Wien aus spricht. In allen Fällen ist eine mehrfache Distanzierung erkennbar, die erstens aus der digitalen Übertragung hervorgeht und damit die Gesprächsteilnehmenden vom Publikum räumlich fernhält. Zweitens sind die Gesprächsteilnehmer an die Abstandsregeln gebunden, weshalb sie scheinbar unnatürlich weit auseinander sitzen. Bei dem Gespräch zwischen Öttl und Henisch kommt eine dritte Form der Distanzierung hinzu, denn sie befinden sich nicht, wie die meisten der anderen Partizipierenden, in Rauris, sondern in Wien. An diese dritte Form der noch extremeren Distanzierung ist auch Julya Rabinowich gebunden, denn im Gegensatz zu allen anderen ist sie allein und wird doppelt übertragen; erstens ins Mesnerhaus zu ihrer Gesprächspartnerin Ines Stöckl und zweitens an das Publikum. Besonders in diesem Gespräch fällt ein beträchtlicher Teil der Kommunikation der Regie und Technik zum Opfer. Durch die relativ schlechte Qualität des übertragenen Bildes und den bereits erwähnten Bildausschnitt lässt sich die nonverbale Kommunikation von Rabinowich teilweise nur erahnen. Auch ist für das Publikum meist lediglich eine der beiden Gesprächspartnerinnen sichtbar, sodass die Reaktion der jeweils anderen wegfällt. Insofern kann hier nicht von einem Gespräch in seiner vollen Funktions- und Wirkweise die Rede sein, da dieses durch die unumgehbaren Bedingungen verknappt ist.
Eine ganz bestimmte Leerstelle bleibt und zieht sich durch jedes der Gespräche: die räumliche Abwesenheit des Publikums. „Danke liebes Publikum zuhause und nicht in Rauris, wir vermissen euch sehr, haben wir schon festgestellt“ bekundet Magdalena Stieb und Birgit Birnbacher stimmt ihr mit einem mitfühlenden Lachen und Nicken zu. Nun, von einer absoluten Abwesenheit des Publikums ist nicht zu sprechen, viel mehr definiert es sich in diesem Jahr auf eine andere Weise. Klassischerweise ist das Publikum im Saal anwesend, es klatscht, nickt zustimmend, verzieht das Gesicht, lacht vielleicht sogar laut auf oder beobachtet die Gespräche schweigend. Vor allem für die Personen auf der Bühne bildet das Publikum einen wichtigen Bezugspunkt, von dem sie ein spontanes Feedback auf das Geschehen erhalten. Erwin Einzinger sagt dazu: „drum lies i a so gern vor Publikum, weil dann merk i genau, wann sich irgendwas spießt“. In seiner Rolle als Feedbackgebende fällt ein massiver Teil des Publikums weg, denn es sitzt nicht im Saal und lauscht den Gesprächen, sondern es folgt ihnen nun via digitaler Übertragung vor Fernsehern, Computern, Laptops und mithilfe der sonstigen Möglichkeiten, die die digitale Welt heute bietet. Was man als Zuschauer*in nicht sehen kann: es gibt auch in diesem Jahr Publikum. Wir würden nicht wissen, dass Peter Rosei bei dem Gespräch zwischen Erwin Einzinger und Petra Nagenkögel anwesend war, wenn Einzinger dies nicht beklagt hätte: „Der Peter Rosei lächelt im Hintergrund, das können die Leut ja nicht sehen“. Das führt uns zu einer weiteren Besonderheit der diesjährigen Literaturtage. Aufgrund des digitalen Formates ist es eine Notwendigkeit, einen bestimmten Bildausschnitt zu wählen, diesen vorzubereiten und ihn schließlich an das Publikum weiterzuleiten. Es handelt sich also um ein gesteuertes Blickfeld und ist nicht mit jenem vergleichbar, welches man als Rezipient*in live vor Ort haben würde.
Aber die leitenden Moderator*innen Manfred Mittermayer und Ines Stöckl geben ihr Bestes, um den Fokus auf das Wesen der Rauriser Literaturtage zu lenken und es gelingt ihnen auch. Beschäftigt man sich nicht analytisch mit der Beziehung zwischen den Teilnehmenden, gerät die große digitale Herausforderung, vor der sie stehen, beinahe in Vergessenheit. Man gewöhnt sich an die neue Normalität. Auch in den drei einleitend genannten Gesprächen verläuft die Moderation souverän. Die Moderator*innen sind für zahlreiche Funktionen zuständig: sie leiten die Gespräche ein und geben dabei einen Überblick über die Biografie und das Werk des jeweiligen Autors oder der Autorin. Sie eröffnen direkt und unmittelbar neue Themen, in dem sie beispielsweise konkrete Fragen stellen oder auch Zitate vorlesen und mit ihren Interpretationen versehen. Sie kommentieren, machen sich Notizen, greifen bereits Gesagtes wieder auf, um eventuelle Unklarheiten zu vermeiden oder bestimmte Aspekte hervorzuheben. Besonders in der letzten Funktion übernehmen sie die Rolle vom „Sprachrohr des Publikums“, denn sie sind es, die stellvertretend für das fehlende Publikum spontanes Feedback abgeben. Dies ist für den Autor oder die Autorin die einzige unmittelbar erlebbare Reaktion. Der Moderation kommt daher die Autorität zu, den Diskurs direkt und unmittelbar zu lenken und steuern, ihn zu eröffnen und zu verknappen. Eine weitere klassische Aufgabe von Moderator*innen ist die Strukturierung des Gespräches durch die Einhaltung der Zeit und der Erhaltung des roten Fadens. Vielleicht sind es die besonderen Umstände oder die Abwesenheit des Publikums, die Erwin Einzinger dazu bringen, seine Rolle in diesem literarischen Diskurs anzuzweifeln, denn er stockte einige Male in der Ausformulierung seiner Gedanken aufgrund der Sorge, er ginge nicht auf die Fragen ein oder er rede zu viel. Tatsächlich ist in dem Gespräch zwischen Einzinger und Nagenkögel das klassische Frage-Antwort-Spiel mit den recht klar aufgeteilten Gesprächssequenzen einem kohärenten Wortgeflecht gewichen. Allerdings hat dieses durch das assoziative Kommunikationsverhalten von Einzinger, der strukturierenden Wortführung Nagenkögels und dem häufigen Lachen der beiden zu einem ebenfalls sehr gelungenem und sympathischen Gespräch geführt.
Die Autor*innen haben also gleichermaßen die Möglichkeit, den Diskurs zu lenken, dennoch ist es in den meisten Fällen die Moderation, die eine Gesprächssequenz einleitet, wodurch dem Autor oder der Autorin die Option bleibt, das Gespräch durch die Antwort zu beeinflussen. Die angebotene Vorlage kann angenommen werden und dadurch die Frage der Moderation beantwortet werden oder die Antwort wird verwehrt. Zudem kann die Länge, die Richtung der Antwort und auch der Grad an Präzision von den Autor*innen bestimmt werden. Eine maßgebliche Steuerung des Gesprächs findet allerdings bereits vor der Ausführung dessen statt, denn die Autor*innen suchen sich das Werk und die Textstellen für die Lesung selbst aus. Diese Entscheidung beeinflusst vorab das gesamte Gespräch, denn auch die Moderation bereitet sich nach diesen Angaben vor.
Die Autor*innen und Moderator*innen gestalten gemeinsam ein Netz an literarischen Informationen, in dem sie sich von Faden zu Faden hangeln und von einem Thema zu dem Nächsten übergehen. Einiges wird dabei ausführlicher besprochen und verdichtet, anderes wiederum bleibt lückenhaft. Dabei ergänzen sich Autor*innen und Moderator*innen von dem Zeitpunkt der Vorbereitung des Gespräches bis zu seinem Ende. Je nach Gespräch werden aber auch die Grenzen zwischen ihren Funktionen neu gezogen. Jedes der Gespräche wird durch das digitale Format und die Abwesenheit des klassischen Publikums, durch den geschichtlichen Hintergrund der Rauriser Literaturtage und deren traditionellen Ablauf bestimmt, geprägt, verknappt und gestaltet. Und die mehrfache Distanzierung ist der Preis, den jede teilnehmende Person klaglos zahlt, denn die traurige Alternative wäre das Absagen der Rauriser Literaturtage.
Klara Lindinger , 07.06.2021