„Seit einigen Monaten geistert eine Debatte durchs Netz, die das Schrumpfen der Literaturkritik und der Feuilletons überhaupt zum Gegenstand hat“, schreibt Thierry Chervel, der Herausgeber des Perlentauchers im „Magazin“ am 24.6.2015. Tatsächlich ‚geistert’ nicht nur eine Debatte durch die Netz- und Printwelt, sondern es sind zwei, die allerdings eng miteinander zusammenhängen. Die eine – die Chervel meint, ist die Frage, ob und in welchem Ausmaß die Literaturkritik in den Feuilletons der deutschsprachigen Printmedien rückgängig ist. Die andere geht auf die Bedeutung der Literaturkritik im Netz mit Fokus auf die Bloggerszene ein und schließt mit dieser Frage direkt an die parallele Debatte an, denn Bloggen hat durchaus etwas mit der prekären Lage der Literaturkritik und ihrer Vertreter zu tun: „In der professionellen Literaturkritik ist kaum noch Geld zu verdienen. Sind privat betriebene Buchblogs die Lösung?“, fragt Jan Drees im Freitag am 29.5.2015. Auslöser dieser Debatte war ein Artikel von Caterina Kirsten auf boersenblatt.net , in dem die philologisch und in Verlagskultur ausgebildete und selbst als Bloggerin ( SchöneSeiten ) tätige Literaturagentin Klarheit in den von Missverständnissen und Vorurteilen vernebelten Diskurs über die ‚Bloggerszene’ zu bringen versucht. Erstens gälte es hier zu differenzieren und nicht nur zwischen Kundenrezensionen und -bewertungen auf Plattformen wie Amazon und LovelyBooks zu unterscheiden, sondern auch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Literaturblogs wahrzunehmen, die je nach literarischem Genre und persönlichem Motiv als Schreibanlass verschiedene Funktionen einnehmen:

Die Landschaft der Literaturblogs ist so vielfältig wie die Literatur selbst; Blog ist nicht gleich Blog, und es erübrigt sich zu erwähnen, dass Blog auch nicht gleich LovelyBooks-Rezension oder Amazon-Bewertung ist. Je nach Blog stehen verschiedene Genres im Fokus, werden verschiedene Anliegen verfolgt, liegen verschiedene Kriterien und Maßstäbe der Beurteilung von Büchern zugrunde und werden schlussendlich verschiedene Menschen angesprochen.

Was selbstverständlich klingt, erregt aber doch einige der sensiblen Gemüter der Literaturkritiker-Szene, denn Caterina Kirsten findet nach dem anfänglichen Aufruf zur Differenzierung dann selbst zu dem weniger differenzierten Befund, dass „Laienkritik“ die „professionelle Literaturkritik“ erweitere und grundsätzlich über einen „größeren Spielraum“ verfüge und unabhängig von „Zwängen“ des Markts „auch jene Leser“ erreiche, „die mit der klassischen Kritik wenig anfangen können“. Thomas Wörtche will dies in seiner Replik auf Kirstens Artikel nicht so stehen lassen, sondern die aus seiner Sicht unübersehbare Spreu vom Weizen trennen, nämlich die „Profis unter den Bloggern von denen, die sich bloß anmaßen, „bei ‚den Großen’ mitspielen“ zu wollen. Jan Drees, der die Debatte auf seinem Blog LesenMitLinks weiterführt, überlässt das Herauspicken literaturkritischer Perlen anderen und zieht sein ganz persönliches Fazit aus der prekären Situation, in der Literaturkritiker heute arbeiten. Wenn nicht mehr als „1,3 cent pro Zeichen [...], 100 Euro in Fachmagazinen für die Doppelseite und 200 Euro im öffentlich-rechtlichen Radio“ bezahlt werden, freiberufliche Kollegen „bei ihren Eltern wohnen“ und mit Nettoeinnahmen  von 1.400 Euro auskommen müssen, wird er

[…] einen anderen Weg finden, um Literaturkritik weiterhin betreiben zu können – bislang bin ich noch in der Spielphase und komme ‚irgendwie klar‘. Aber das kann kaum das Maß für zukünftige Engagements sein. – Ein schönes Projekt ist deshalb ein Blog wie LesenMitLinks , der es mir ermöglicht, über Literatur nachzudenken, mit dem Linkradar nahezu wöchentlich die Neuigkeiten der Szene abzugreifen, im Diskurs zu bleiben und die Debatten weiterhin zu begleiten. Eine Familie ernährt man damit nicht.

Jan Drees ist nicht der einzige ‚professionelle’ Kritiker, der sich – in seinen eigenen Worten – die „Spielwiese“ in Form eines Blogs erlaubt. Es tun dies auch Uwe Wittstock mit Die Büchersäufer und Thomas Hummitzsch mit intellectures und auch viele andere, die mit einem Fuß oder auch voll im Literaturbetrieb stehen. Nicht nur Literaturvermittler, sondern auch die Autoren selbst bereichern das Netz anstatt sich selbst tagtäglich mit dem von allen so sehr gewünschten Gespräch über Literatur. Die Angst, dass dieses versiegt, ist also heute mehr denn je unberechtigt. Auch wenn nicht jede Quelle jeden befriedigt fließt ein gewaltiger Strom an Informationen über Literatur durchs Netz. Für manchen der kostenlos dafür kämpfenden Akteure tritt vermutlich auch die, mal mehr und mal weniger stark, erhoffte Konvertierung des damit erworbenen symbolischen Kapitals in ökonomischen Mehrwert ein, doch „Wen kümmert’s, wer spricht“ [1] – den Literaturmarkt sicher nicht, denn dieser bekommt ungefragt und freiwillig das – und auch mehr –, was er vormals mit eigenen Mitteln selbst finanzieren musste.

Wenn allerdings ein anerkannter Berufskritiker wie Ijoma Mangold die „digitale Dialektik“ der Kommunikation auf Facebook der konfrontationsscheuen Praxis in den Zeitungen gegenüberstellt und ersterer mehr „Würde und Glaubwürdigkeit“ attestiert als letzteren, lässt dies sehr wohl aufhorchen. Wer sagt hier was? Die von dem Image der Unabhängigkeit lebende Zeitung, die ihrer an fachlich begründeter Kritik und Berichterstattung interessierten Leserschaft verpflichtet ist, spricht sich selbst das ab, worauf sie fußt? Mangold ist nicht der erste, der den Verlust von Glaubwürdigkeit der Literaturkritik in den etablierten Medien beklagt. Wir erinnern uns an Sigrid Löfflers Anprangerung des „Service-Journalismus“ 2006, [2] wir erinnern uns an die von Felix Philipp Ingold im Volltext 2014 ebenfalls monierte Praxis der „Kumpelhaftigkeit“ im aktuellen Literaturbetrieb [3] und gehen davon aus, dass dies nicht die letzten mahnenden Zeigefinger sein werden, die darauf aufmerksam machen, was eigentlich alle wissen: Die nach der deutschen Wiedervereinigung in den 90er Jahren von Verlagen und Literaturvermittlern eingeforderte Trendwende zu einer besser verkäuflichen, marktkonformen Literatur (siehe dazu die Dokumentation der 1998 geführten Debatte in Maulhelden und Königskinder ) [4] hat die Glaubwürdigkeit der Literaturkritik beschädigt. Wenn jemand verliert, gibt es aber automatisch einen Gewinner, der den Verlust als Marktlücke entdeckt und profitabel nutzen kann.

Onlinemedien profitieren (noch) von dem Imageverlust der ‚alten Medien’. Authentizität, Offenheit, Skepsis gegenüber überlieferten hierarchischen Strukturen gehören zum ‚Habitus’ vieler sich auch mit diesen Charaktereigenschaften präsentierenden Onlinemedien. Andere sind offen marktorientiert und profitieren wiederum genau mit dieser Form der ‚Ehrlichkeit’. Die von Caterina Kirsten zu Recht in ihrer Verteidigung des Status quo angesprochene ‚Vielfältigkeit’ des Angebots fördert jedoch umgekehrt den Wunsch nach Orientierung und Kanonisierung, weshalb es nicht verwundert, dass Wolfram Schütte unlängst im Magazin des Perlentauchers von einer Form der „Zeitung, die online steht“, träumt: „Nennen wir sie Fahrenheit 451.“ Thierry Chervel ermuntert daraufhin gleich, Argumente für und wider den schönen Traum Schüttes zu finden, der die einer „Hauptbahnhofshandlung“ gleichkommende Unübersichtlichkeit des Netzangebots durch einen „zentralen Umschlagbahnhof“ ersetzen soll, der nicht weniger als „ein sich selbst regelmäßig journalistisch regenerierender Ort literarischen Lebens [...] für alle literarische Waren“ sei könnte, eine „Heimat für die im Print bedrohte, schwindende Zeitung & die dort einmal heimische Buch-Lektüre-Kultur“. Verwirklichen ließe sich das in der Vorstellung Schüttes in Form einer Stiftung und mit Unterstützung der Verlage, ohne dass dabei aber deren Interessen inhaltlich einfließen dürften. Das Traumprojekt könnte außerdem etwas kosten und auch durchaus etwas elitär sein.

Wenn Wolfram Schütte weniger träumen und dafür wachen Auges das wahrnehmen würde, was es bereits gibt, würde er erstens vielleicht sehen, dass auch ein „Fahrenheit 451“nicht mehr als ein zusätzliches Angebot im Netz sein würde, das sich seine an kostenlosen Zugang gewöhnte und verwöhnte Leserschaft erst aufbauen müsste und zweitens, dass das Bedürfnis nach Orientierung und Übersicht bereits in überbordendem Ausmaß mittels Rankings und Bewertungstools erfüllt wird. Für diejenigen Leser und Leserinnen, die sich lieber unabhängig davon informieren, gibt es auch heute schon eine Vielzahl von Angeboten – einige wurden in diesem Artikel bereits genannt, die anderen lassen sich über Blogrolls und Netzkommunikation finden. Der Wunsch nach Rückkehr zu dem ‚einen’, allumfassenden und nicht alle, sondern eine ganz bestimmte Gruppe beglückenden Medium ist für die Generation, die von Kind auf gewohnt ist, sich gezielt das aus dem Netz herauszusuchen, was sie will, vermutlich nicht nachvollziehbar. „Finden ohne zu suchen“, wie Schütte es gerne im „Goetheschen Sinne“ hätte, ist kein guter Ratschlag für die Zukunft, denn genau das Suchen als Fertigkeit wird mehr und mehr zur Voraussetzung werden, selbstbestimmt und gut informiert zu sein. Und dies  ist und wird – leider – auch wieder eine kleine Elite sein. Der Rest googelt...

 

Renate Giacomuzzi , 15.07.2015

 

[1] Zur Herkunfts- und Bedeutungsgeschichte dieser hier von Foucault ausgeliehenen Formulierung siehe den Exkurs von Florian Hartling: Michel Foucault und Samuel Becket . In: Der Digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets . Bielefeld: Transcript 2009, S. 116-123.

[2] Siehe dazu Stefan Neuhaus: Von Emphatikern, Gnostikern, Zombies und Rettern. Zur aktuellen Situation der Literaturkritik in den Printmedien . In: Renate Giacomuzzi, Stefan Neuhaus, Christiane Zintzen (Hrsg.): Digitale Literaturvermittlung. Praxis  – Forschung  – Archivierung. Innsbruck: Studienverlag 2010, S. 36-47.

[3] Felix Philipp Ingold: Zum aktuellen Status von Literatur und Literaturkritik . In: Volltext, Heft 3, 2014.

[4] Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hrsg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur . Leipzig: Reclam 1998.