„Das Vergabekomitee weiß, dass zwei Gewinner vom selben Kontinent, ja selbst aus einer wie auch immer verstandenen, bislang als dominierend angesehenen Traditionslinie („westliche“ oder „weiße“ Literatur) nur neue Kritik an der Institution des Literaturnobelpreises hervorrufen würden. Im Zuge der MeToo-Bewegung ist er ins Kreuzfeuer geraten, nun wird er für die Advokaten jeglicher Art von politischer Korrektheit zum gefundenen Fressen.
Auf der Strecke bleibt dabei das, worum es eigentlich gehen müsste: die literarische Qualität („das Herausragendste“) eines humanistisch relevanten Stoffs („in idealistischer Richtung“). Für die individuellen Grundlagen beider Faktoren haben Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder Bildungsweg der jeweiligen Autoren zweifellos Bedeutung, doch zu bewerten sind die Resultate: ihre Bücher. Man darf gespannt sein, ob sich das Vergabekomitee des Literaturnobelpreises dieser Aufgabe gewachsen zeigt.“
Nun, das Vergabekomitee wusste offenbar nicht (oder es war ihm egal), und welch großes Glück, so müsste man schlussfolgern, dass nun zwei weiße, europäische AutorInnen ausgezeichnet wurden, ein Mann noch dazu, so ist sichergestellt, dass die literarische Qualität obsiegt hat. Gemessen an Olssons Ankündigungen war die Verkündung der Entscheidung dann einigermaßen bizarr. Margarete Stokowski twitterte treffend:
‚Wisst ihr noch wie die Feuilletonboys orakelt haben, dass der Literaturnobelpreis dieses Jahr wegen metoo so ~politisch korrekt~ vergeben werden wird, so „hu hu es werden bestimmt zwei schwarze Lesben mit Behinderung“ und dann wird es Peter Handke und ich lache laut‘.
Andere lachten weniger laut. Angela Schader kommentierte in der NZZ postwendend: „ Die neue Jury bricht ihr Wort und hält den alten Kurs“ . Gott sei Dank! frohlocken da viele. Denis Scheck zum Beispiel. Der ist von seinem eigenen Wortspiel so begeistert, dass er der politischen Korrektheit mal „eine krachende“ dann wieder eine „schallende Ohrfeige“ verpasst sieht, eine Niederlage habe diese erlitten. Schecks unter anderem in der 3Sat Kulturzeit getätigte Äußerung, diese Entscheidung sei „[e]ine schallende Ohrfeige ins Gesicht der Politischen Korrektheit“, offenbart eine bedenkliche Ätschi-Bätschi-Mentalität und wirft die Frage auf, wer denn nun mit diesem Schlag getroffen worden sei und welche Entscheidung man denn als „politisch korrekt“ motiviert hätte verstehen können oder gar müssen. Wären Margaret Atwood oder Maryse Condé demnach solche „politisch korrekten“ Preisträgerinnen gewesen? Weil die eine Feministin und die andere dunkelhäutig ist? Wären zwei Frauen an sich schon ein Zugeständnis gewesen an die verteufelte politische Korrektheit? Ein Literaturbetrieb, dem nichts besseres einfällt, als eine mögliche Verleihung an zwei weibliche Schriftstellerinnen oder nicht-westliche Autor_innen als Ausdruck der politischen Korrektheit zu interpretieren, hat wirklich noch gar nichts verstanden. Auch der Spiegel befindet: „Politisch korrekt ist die Entscheidung für Handke nicht. Handke ist weder jung noch afroamerikanisch, er vertritt keine Minderheit und keine Opfergruppe.“ [1] Damit wären die Kriterien politischer Korrektheit also dargelegt. Diese auf die Literatur anzuwenden ist ein Armutszeugnis, das zudem Autor_innen der genannten Gruppen von vornherein literarische Qualität abspricht. Eine zum Beispiel afrikanische Autorin hätte sich dann automatisch als „politisch korrekte“ Lösung fühlen müssen, statt die eigene Schaffenskraft gewürdigt zu sehen. Mit der Keule der politischen Korrektheit zu drohen, heißt hegemoniale Machtverhältnisse umzukehren und so zu tun, als würden weiße, westliche Männer automatisch für ihr Werk ausgezeichnet, während in Wahrheit herausragende Autorinnen und Autoren bisher konsequent ignoriert wurden, weil sie eben nicht mit dieser patriarchalen Dividende geboren wurden.
Trennung von Autor und Werk oder mangende Textkenntnis?
Die Reaktionen auf den Nobelpreisgewinner Peter Handke fielen erwartbar sehr unterschiedlich aus. Während ausländische Medien sich überwiegend ausgesprochen kritisch bis entsetzt äußerten – hier sei exemplarisch auf die Washington Post verwiesen – und der amerikanische PEN-Club sogar ein Statement veröffentlichte („ We are dumbfounded by the selection of a writer who has used his public voice to undercut historical truth and offer public succor to perpetrators of genocide"), herrschte im offiziellen Österreich und in den Medien zunächst überraschend einhellige Freude. Auch die deutschsprachigen Nachbarn zeigten sich durchaus zustimmend, wobei unterschiedliche Argumentationslinien gefahren wurden: Während die einen argumentierten, dass Handke kein Genozid-Leugner sei und man seine Texte lesen müsse, um seine differenzierte Haltung zu verstehen (eine Haltung, die die meisten österreichischen ExpertInnen vertraten), beharren die anderen auf der Trennung von Autor und Text. Da wurde Handke als politischer Idiot und Schlimmeres bezeichnet, während man von seinen Texten schwärmte. Darin schwingt eine Genie-Ästhetik mit, die romantische Vorstellung vom genialen Dichter, dessen Genie ihn der Welt entrückt und dessen Charakter unerheblich, wenn nicht gar Voraussetzung für seine Genialität sei. Eva Menasse schreibt beispielsweise in der Zeit :
„Große Kunst setzt voraus, dass ein fehlbares Menschlein etwas geschaffen hat, das seiner Bedeutung und Wirkungsdauer weit über ihm, dem Menschlein, steht. Das ist eines der Geheimnisse der Kunst und unverhandelbar; sie wird nicht vom guten Menschen geschaffen, sondern vom genialen. Es ist viel darüber sinniert worden, ob sich der gute Mensch, den mal wohl als ausgeglichenen, vermittelnden, aufopferungsvollen Philanthropen definieren würde, womöglich besonders schlecht zum Künstler eignet.“ [2]
Da war ja noch jemand … Frau Tokarczuk
Bei der Literaturnobelpreisträgerin für das Jahr 2018, Olga Tokarczuk, hingegen vergaß man dann offenbar die groß ausgerufene Trennung von Autor und Werk und die Entpolitisierung der Literatur und lobte sie für ihr gesellschaftspolitisches Engagement, ihren Einsatz für die in Polen massiven Repressionen ausgesetzte LGBTIQ-Gemeinde, ihre Kritik an der polnischen Flüchtlingspolitik und einem grassierenden Antisemitismus, und nannte so nebenbei noch ein paar Titel ihrer Texte. „Schreiben wie die Engel“ betitelt Iris Radisch Tokarczuks ästhetisches Konzept und würdigt sie als „eine der stärksten weiblichen Stimmen der europäischen Gegenwartsliteratur“ [3] . Auch Ulrich Schmidt wittert in der NZZ eine „neue weibliche Sensibilität für Geschichte, Politik und Umwelt“. Was daran neu oder spezifisch weiblich sein soll, wird zwar nicht klar, aber wo Schriftsteller Stimmen haben, haben Frau weibliche Stimmen. Wie ein roter Faden zieht sich die Betonung von Tokarczuks Geschlecht und ihrer politischen Verortung durch die durchgängig sehr positiven, aber oberflächlich bleibenden Reaktionen auf die Auszeichnung der polnischen Schriftstellerin. Sie ist die Frau, die zusammen mit Handke ausgezeichnet wird, ein Gegengewicht, so der Tenor und so muss sich Tokarczuk die Frage gefallen lassen , „ob sich die Autorin in der Rolle des «Good Girls» neben der des «Bad Guys» von Handke gefalle“. Ausgerechnet Tokarczuks Übersetzerin Esther Kinsky stößt am lautesten in das Horn der politisch motivierten Auszeichnung und spricht der von ihr Übersetzten zugleich die literarische Qualität ab: „Ihre Stärke ist nicht die Sprache.“ Ihr „Werk sei durch einen esoterischen Feminismus geprägt“ [4] , die Auszeichnung verdanke sie dem Lobbying literarischer Zirkel in Polen bei der schwedischen Nobelpreis-Akademie.
Erwartbare Fronten und Nebenschauplätze
In den sozialen Netzwerken haute und haut man sich in der Zwischenzeit Textbausteine um die Ohren, alte Interviews, Videos, Fotos von Handke in der Badehose in Višegrad. Langsam kommen auch in den deutschsprachigen Medien einige kritische Kommentare, die ihren Höhepunkt finden, als der selbst aus Višegrad geflohene Autor Saša Stanišić für seinen Roman Herkunft mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde . Was wie ein Generationenkonflikt anmutet (und es zum Teil auch ist), ist gleichzeitig ein spannender Nebenschauplatz, auf dem es um etwas völlig anderes geht. Eine social-media-affine Generation von LiteraturwissenschaftlerInnen, JournalistInnen, BloggerInnen, AutorInnen und LeserInnen, kurz ProtagonistInnen des Literaturbetriebs, positionierte sich deutlich gegen Handke und erntete dafür eine Welle an Polemisierungen, die sich nicht inhaltlich mit der vorgebrachten Kritik auseinandersetzte, sondern das Medium Twitter an sich als Beweis für die Uniformität der sich hier Artikulierenden vorbrachte, nach dem Motto: Wer ein solches Medium nutzt, der hat Handke gar nicht gelesen und liest wahrscheinlich sowieso nichts, das länger als 180 Zeichen lang ist. Johannes Franzen kommentiert das einsetzende Twitter-Bashing : „Die Debatte um Handke ist eine Stellvertreterdebatte. Das ist in dem eigentümlichen Triumphgeheul über den Nobelpreis sofort sehr deutlich geworden.“
Insgesamt ist die Diskussion um Handkes Nobelpreis in einen persönlich gefärbten Meinungsstreit mit undurchlässigen Fronten ausgeartet. Es ist ein moralischer Streit, kein literarischer. Das war nicht nur erwartbar, es war vorhersehbar und das Nobelpreiskomitee muss sich die Frage gefallen lassen, welche Intention es mit dieser Entscheidung verfolgte. Es ist schwer vorstellbar, dass die Reaktionen auf den Preis und die damit angestoßenen Diskurse nicht mitgedacht wurden. Nach dem letztjährigen Skandal stand das vergebende Gremium dermaßen unter Beobachtung, dass seine Entscheidung nur als Selbstoffenbarung und gesellschaftspolitische und literarische Positionierung gelesen werden kann. Natürlich kann man den Nobelpreis für Handke als Statement für die Trennung von Autor und Werk lesen. Dass der Plan nicht aufgegangen ist, sieht man allein schon daran, dass mehrere Juroren nach der anhaltenden Kritik ihre Entscheidung öffentlich verteidigten. Man musste kein Wahrsager sein, um die Reaktionen auf die Doppelentscheidung ziemlich genau vorhersehen zu können. Man konnte also wissen, dass es hier nicht um die Literatur gehen würde, sondern um die Frage, ob Handke nun ein Genozidleugner und wie seine Grabrede für Slobodan Milošević zu werten sei. Dass die schon geführte Diskussion einfach wieder neu aufgekocht werden würde, ohne konstruktive neue Perspektiven. Dass sich die Pro’s und die Contra’s wochenlang dermaßen beknüppeln würden, war für die Schweden vielleicht schwer vorstellbar, aber mit ein bisschen Recherche hätte man auch das zumindest als Reaktion in Betracht ziehen müssen. Und man konnte wissen, dass der zweiten Preisträgerin Olga Tokarczuk wenig Aufmerksamkeit zuteilwerden würde, noch dazu, wo sie mit dem Preis für das schon vergangene Jahr ausgezeichnet wurde. Einen Mann und eine Frau auszuzeichnen, mag wie ein Zeichen der Geschlechtergerechtigkeit wirken, hatte aber nur den verstärkenden Effekt einer Betonung des weiblichen anderen und verstärkte so die Betonung der andersartigen Weiblichkeit, statt Autorinnen unabhängig von ihrer biologischen Geschlechtszugehörigkeit zu inszenieren. Dass sich viele Menschen in immer noch traumatisierten Postkriegsgebieten im ganzen ehemaligen Jugoslawien, auch in Serbien, vor den Kopf gestoßen fühlen würden, nahm man herab vom hohen nordischen Ross offenbar in Kauf, angeblich im Dienste der Literatur, über die aber kein Mensch spricht. Das alles passierte ohne Not, gäbe es doch so viele grandiose Autor_innen, deren Auszeichnung den Blick zurück auf die Literatur gelenkt haben würde. Handke hätte das auch überlebt und seine Texte sowieso.
Wenn schon Peter Handke und Olga Tokarczuk als LiteraturnobelpreisträgerInnen für 2018 und 2019, dann hätte man zumindest die Jahre vertauschen müssen. Das hätte man dann tatsächlich als Aufbruchssignal werten können. Vielleicht sollte man den alternativen Literaturnobelpreis, der 2018 in Ermangelung eines „echten“ Nobelpreises ins Leben gerufen wurde, wieder reaktivieren.
Veronika Schuchter, 06.11.2019
Veronika.Schuchter@uibk.ac.at
Anmerkungen:
[1] Sebastian Hammelehle, Elke Schmitter, Claudia Voigt, Volker Weidermann: Abschied von den Göttern. In: Der Spiegel v. 12.10.2019, S. 128.
[2] Eva Menasse: Passt schon. In: Die Zeit v. 17.10.2019, S. 56
[3] Iris Radisch: Schreiben wie die Engel. In: Die Zeit v. 17.10.2019, S. 58
[4] Sebastian Hammelehle, Elke Schmitter, Claudia Voigt, Volker Weidermann: Abschied von den Göttern. In: Der Spiegel v. 12.10.2019, S. 129.