Veranstaltungen vom Schlage der Rauriser Literaturtage, die in diesem Jahr zum 43. Mal stattfinden, hüten als Schatz einen Gründermythos. Demnach waren die Erfinder des Rauriser Modells kulturell umtriebige Persönlichkeiten, die nichts anderes im Sinn hatten als der Bevölkerung auf dem Land die große, weite Welt der Literatur zu erschließen. Das passt auch gut in die Zeit der 1970er Jahre, als die Kunst breitenwirksam zu werden versuchte, den Elite-Status abschüttelte und sich um neue Formen der Präsentation kümmerte. Die fortschreitende Demokratisierung der Gesellschaft sollte Kunst und Kultur einschließen. Literatur ist für jedermann, lautete die Devise, deren Folgen die Rauriser zu spüren bekamen.
Erwin Gimmelsberger – er leitete 1970 das Büro der APA in Salzburg und war selbst in bescheidenem Ausmaß literarisch tätig – soll mit Unterstützung von Hans Weigel, um den damals niemand herumkam, der in Sachen Literatur etwas auf die Beine zu stellen wagte, das Festival erfunden haben. Eine weniger erhabene Version lautet anders. Demnach soll sich der Bürgermeister von Rauris mit Erwin Gimmelsberger und Rudolf Bayr, dem Intendanten des ORF-Landesstudios Salzburg, der auch gern Schriftsteller gewesen wäre, getroffen haben, um zu erörtern, wie die Gemeinde unterstützt werden könnte. Die Zeiten waren hart und Rauris war dringend auf Touristen angewiesen, zumal andere wirtschaftliche Möglichkeiten in der Region dürftig waren. Also erfand man die Literaturtage, die prominente Literaten ins Land bringen sollten. Der ORF unterstütze das Ereignis medial, und so kam der Ort Rauris in die Schlagzeilen – diesen Werbeeffekt könnte sich die kleine Gemeinde, versteckt in den Bergen der Hohen Tauern, auf anderem Wege niemals leisten. Fernsehberichte rückten nicht allein die Literatur ins Bild, sondern schwenkten auf die gigantische Naturkulisse. Man kam nicht umhin, den Sonnblick als krönenden Abschluss des Tales, wolkenumkränzt oder sonnenumstrahlt, wie es einem Götterliebling zukommt, abzubilden. Jeder, der die Berichterstattung über die Rauriser Literaturtage verfolgte, musste mitbekommen, dass eine gewaltige Natur, wild, unberührt und mit dem Auto gut erreichbar, nur darauf lauerte, von Städtern entdeckt zu werden. So wurde die Literatur zum Anstifter und Förderer des Tourismus.
1971 wurde der Ort zum ersten Mal zum Treffpunkt hochkarätiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Ilse Aichinger, Thomas Bernhard, Gerhard Amanshauser und Gabriele Wohmann traten auf, in den folgenden Jahren lasen H. C. Artmann und Peter Handke. Heute wirkt solch eine Versammlung sensationell, zumal sich manche der Größen im Literaturbetrieb bald rar machten. Einerseits ermöglichten persönliche Kontakte und Freundschaften Gimmelsbergers solch eine Gästeliste, andererseits waren spätere Literaturbetriebs-Verweigerer wie Bernhard und Handke gerade auf dem Sprung, die deutsche Literatur zu erobern und auf solch eine Öffentlichkeit noch dringend angewiesen. Die Programmgestaltung unterstand einfachen Prinzipien. Eingeladen wurde der, dessen Literatur Gimmelsberger gefiel.
Und doch war Rauris schon in den frühen Tagen mehr als ein reiner Lesemarathon. Die Universität Salzburg beteiligte sich daran, allmählich kamen jene von Innsbruck, Wien und Klagenfurt dazu. Lehrende und Studierende nützen seither die Anwesenheit bedeutender Literaten dazu, mit Autorinnen und Autoren öffentlich die Diskussion zu suchen und der Veranstaltung dank Werkstatt-Gesprächen einen theoretischen Boden einzuziehen. Am Anfang mussten sich die Studenten eine Einladung nach Rauris verdienen. Sie fertigten Autorenporträts an, die auf hektographierten Zettel in den Veranstaltungsräumen auflagen, damit sich der Besucher über den jeweiligen Vortragenden ein Bild machen konnte.
Am Anfang galten die Literaten, wenn sie Jahr für Jahr für ein paar Tage das Dorf in Beschlag nahmen, als Exoten. Von den Einheimischen wurden sie skeptisch begutachtet. Das änderte sich im Lauf der Jahre und Jahrzehnte, als eine junge Generation, die in Volks- und Hauptschule mit Autoren in Berührung kam, diese ohne Vorbehalte annahmen. Mit der Literatur kam eine neue Künstlichkeit in die Welt der Berge. Sie feierte die Heimat nicht als einen Ort, wo noch alles in Ordnung war und pries nicht das Landleben als letzten Hort der Natürlichkeit. Wo gerade noch Einfachheit und Übersichtlichkeit herrschte, wurde mit den Illusions-Räubern alles kompliziert. Mit Thomas Bernhard, dem Rabauken und stets verneinenden Geist, kam verdrängte Geschichte aufs Land. Seine Figuren, verstört im Herzen, zerstört am Leib, waren ja keine Gestalten, deren Versehrtheit man als einen naturgegebenen Zustand hatte abtun dürfen. Sie schleppten die Bürde ihrer eigenen Vergangenheit mit, die im Verschwiegenen des österreichischen Unheils gründete. Noch schlimmer kam es für die Rauriser, als 1975 Franz Innerhofer für seinen Roman „Schöne Tage“ mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Damit traf er das ohnehin schon wunde Herz der Landbewohner, die sich von einem Schriftsteller sagen lassen mussten, dass der Skandal der Leibeigenschaft keineswegs ein missliches Relikt einer längst überwundenen Vergangenheit sei. Was Innerhofer so unangreifbar machte, war seine Biografie, die alle beschriebenen Ungeheuerlichkeiten am eigenen Leib beglaubigte. Eine Geschichte der Gewalt mitten unter ihresgleichen war einer vorwiegend bäuerlichen Gesellschaft nur schwer vermittelbar. Machte es einem da nicht ein H. C. Artmann leichter, der zwar verspielt vertändelte Texte las, die ebenso sprach- wie selbstverliebt waren, aber wenigstens nicht auf Konfrontationskurs mit den Bewohnern gingen? Seine Literatur ist ja ein Beispiel für die reine Künstlichkeit. Sie greift auf keine erfahrene oder beobachtete Wirklichkeit zurück, sie entsteht gleichsam aus sich selbst heraus. Sie entwirft ungesehene Bilder, schafft ungehörte Klänge und Rhythmen und balanciert über einem Abgrund, der von Mythos und Mär gesättigt ist. Alles erlogen, aber in erlesenen Worten. Artmann gefiel sich als Schöpfer der Himmel und der Erde auf dem Papier, und wenn man aus dem Fenster sah auf die Rauriser Landschaft, mochte man durchaus glauben, dass er recht hatte.
Josef Winkler, Adolf Muschg, Friederike Mayröcker, Herta Müller, sie alle und noch viel mehr kamen im Lauf der Jahre, sie waren die Attraktionen für ein Publikum, das von auswärts anreiste. Die Favoriten der Rauriser sahen lange anders aus. Catarina Carsten und Walter Müller übernahmen das Amt der Dorfschreiber. Sie schrieben für das Volk, ohne ihm nach dem Mund zu reden. Carsten führte Tagebuch über die Vorgänge im Dorf, sie drückte in jeder Zeile ihr Glück aus, mit den Raurisern zusammenwohnen zu dürfen. Carsten ist ja eine umgängliche Person, die stets für alle ein freundliches Wort verfügbar hat und allem Augenschein zum Trotz unbeirrbar einen Hoffnungstraum am Leben hält. Walter Müller nahm einen Fußweg von Salzburg nach Rauris auf sich, das bot ihm Stoff genug, darüber zu räsonieren. Beide standen im Bann der Natur, sie suchten das echte, unverfälschte, ja, das natürliche Leben. Im Schreiben suchten sie es festzuhalten.
Die Natur ist die große Verwandlungskünstlerin, die Literatur macht es ihr nach. Die Natur verwandelt einen strengen Winter in einen sanften Frühling, die Literatur Erlebtes in Sprache. Der größte Schwindel der Literatur ist das Bestreben, authentisch zu sein. Das weiß ein durch die Schule der Sprachkritik gegangener Autor wie Hans Joachim Schädlich, der Machtverhältnisse, die ihm zu Zeiten der DDR so heftig zusetzten, in vertrackten Wortspiele aufgehen lässt. Aus dem Leiden macht er ein Kunstprodukt, das nichts anderes sein will als die Umbiegung des wirklichen Lebens in eine neue Wortwirklichkeit. 1977 wurde er mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 1972 vergibt eine jährlich wechselnde Jury den Rauriser Literaturpreis für das beste Prosadebüt des Jahres. 8000 Euro ist er in eine Zahl ausgemünzt heute wert. Bodo Hell machte den Anfang, ihm folgten so illustre Gestalten wie Judith Kuckart, Helen Meier, Michael Köhlmeier und Juli Zeh. Parallel dazu wird der Förderungspreis vergeben für Autorinnen und Autoren, denen man zutraut, in Zukunft ein vorzeigbares Werk zu schaffen.
Als Erwin Gimmelsberger 1988 die Leitung der Literaturtage abgab, übernahm Franz Mayerhofer, Wissenschaftsredakteur der Salzburger Nachrichten, die Programmgestaltung. Nach zwei Jahren musste man fürchten, dass die Zeit für die Veranstaltung abgelaufen war. Die Autoren waren unzufrieden, das Publikum freudlos. Im Jahr 1990 übernahm Brita Steinwendtner, Literaturberichterstatterin im ORF Salzburg und Schriftstellerin, die Organisation. Mit ihr kam frischer Wind auf und rasch verwirklichte sie neue Ideen. Sie arbeitete ein Konzept aus, das die nächsten Jahre halten sollte. Sie ließ sich jeweils einen Themenschwerpunkt einfallen, der die Auswahl der Gäste steuerte. Manchmal erwiesen sich Themen als derart elastisch, dass nahezu alles in ihnen Platz findet: „Zwischen den Worten, zwischen den Welten“ oder „Sprache: Lust.Spiel.Wut“.
„Erfindung der Wahrheit“ hieß ihr letztes Projekt im Jahr 2012, bevor sie die Intendanz in jüngere Hände legte. Sie schaffte es, große Wirtshaussäle zu füllen und den Leuten auf dem Land die Wichtigkeit von Literatur verständlich zu machen. Sie ging auf die Menschen zu, die liebten sie dafür. Als Publikumsmagnet erwies sich in jedem Jahr ein Gespräch über Kindheit, zu dem sich Steinwendtner immer Literaten mit höchst unterschiedlichen Biografien suchte. So kamen umsorgte Kindheiten ebenso zur Sprache wie solche, die unter den Zeichen Vertreibung und Not standen. In der Moderation herrschte das Prinzip Einfühlsamkeit vor. Bisweilen hätte man sich etwas mehr von der kühlen Luft der Theorie gewünscht, um nicht im Gefühlsstau stecken zu bleiben.
Im April 2013 wird alles anders. Das neue Intendanten-Team Ines Schütz und Manfred Mittermayer hat übernommen. Alles wird anders? Wenn wir es nicht wüssten, wäre es niemanden aufgefallen, dass ein Wechsel stattgefunden hat. „Lebens.Wege“ klingt vertraut und ist von der Thematik so dehnbar, dass der größte Teil der Gegenwartsliteratur mühelos darunter zu subsumieren ist. Die Auswahl der Gäste ist frei von jedem Risiko. Kaum, dass jemand dabei ist, der einen überrascht oder der nicht vor einiger Zeit ohnehin in Salzburg aufgetreten wäre. Man geht derart auf Nummer sicher, dass man sich den Luxus einer eigenen Idee gar nicht leistet. Von Inspiration keine Spur. Man darf gar nicht darüber nachdenken, was alles möglich wäre, wenn man die ungeheure Chance bekommt, ein Literaturfestival zu leiten. Alles wie gehabt, schade eigentlich.
Anton Thuswaldner