Präliminarien I: Betriebsgeräusche

Inzwischen ist ein volles Jahr ins Land gegangen, seit auf dem XX. Mainzer Kolloquium des Instituts für Buchwissenschaft (wieder einmal) die Frage nach dem potentiellen Ende der Literaturkritik gestellt und parallel dazu in der Community über Jörg Sundermeiers pauschale Kritik-Schelte debattiert worden ist. [1] Die Wellen, die dieser „Sturm im Wasserglas“ [2] seinerzeit erzeugt hatte, haben sich inzwischen geglättet, ebenso wie jene, die im Umfeld der durchaus fruchtbaren und notwendigen perlentaucher - Debatte zur Literaturkritik im Netz vom Sommer des zurückliegenden Jahres geschlagen worden waren. Nur Sigrid Löffler kann das Nachtarocken nicht lassen und hat kürzlich im Spectrum der Wiener Presse eine abermalige „Attacke“ geritten gegen das Schwinden der „Marktnischen für unabhängige Kulturkritik“ und ihre schrumpfende „Deutungsmacht“. [3] Evelyne Polt-Heinzl hat eine Woche später am selben Ort mit dem Versuch einer differenzierteren Einschätzung der Lage repliziert. [4] Eine veritable Debatte hat sich und wird sich daraus aber wohl nicht (mehr) ergeben; „Attacken“ wie die Löffler’sche gehören vielmehr zum allgemeinen Betriebsgeräusch, dessen Repertoire in regelmäßigen Intervallen wiederkehrende Melodien und Motive umfasst: Und dann und wann ein weißer Elefant ... (Tatsächlich war die seitenfüllende „Attacke“ aus der Presse selbst schon einmal fast wortgleich vor einem knappen Vierteljahr in der Literarischen Welt zu lesen gewesen, und zwar als Einleitung zu Löfflers gleichfalls seitenfüllend abgedruckter Laudatio auf Daniela Strigl, [5] als diese verdientermaßen den „Berliner Preis für Literaturkritik“ erhalten hatte: Platz scheint also noch genügend vorhanden zu sein in den Nischen der vor sich hin schrumpfenden Feuilletons, die sich nicht nur in solchen Fällen immer wieder als breiter und umfangreicher erweisen, als vermutet und beklagt. Die Literaturkritik jedenfalls bekommt darin nicht nur als journalistisches Format, sondern auch als Gegenstand der Betrachtung und als preiswürdige Kategorie nach wie vor einen gebührenden Platz zugewiesen – und das ist doch schön so und gut).

 

Präliminarien II: Was sich so tut

Lässt man sich also nicht von weißen Elefanten irritieren, deren Reiterinnen und Reiter auf dem literaturkritischen Karussell zur Attacke gegen die Dämonen des Untergangs blasen, und blickt man stattdessen frohgemut auf das, was sich während des zurückliegenden Jahres an Positivem getan hat im weiten Feld der Literaturkritik, so kann man fast den Eindruck gewinnen, es stünde Anfang 2016 besser bestellt da als je. Zugegeben, Fritz J. Raddatz und Hellmuth Karasek sind gestorben, aber dafür konnte der Betrieb ausnahmsweise mal nichts. Dafür darf die Literaturkritik jetzt auch in die Verlagsbranche einsteigen – wenn das kein Vertrauensbeweis in erwiesene literarische Kompetenz ist! Die von Frau Löffler reklamierte Deutungsmacht der Kritikerzunft kann sich jetzt also in konkreter Programmplanung niederschlagen; man wird sehen, was das bedeuten wird.

Und sonst so? Nun, in der zweiten Jahreshälfte 2015 sind mit tell und Die Wiederholung gleich zwei neue, ambitionierte Zeitschriftenprojekte für Literaturkritik an den Start gegangen, von denen freilich erst die Zukunft zeigen wird, ob sie sich etablieren werden. Mit je unterschiedlicher Akzentuierung, aber vergleichbar hohem Anspruch sind beide parallel zu den Krisendebatten des Jahres 2015 konzipiert worden – das eine online, das andere im guten alten Print –, wobei sich das bislang nur mit einer Teaser-Seite im Netz präsentierende Online-Magazin für Literatur, Kritik und Zeitgenossenschaft um Sieglinde Geisel, das sein Ersterscheinen für „Frühjahr 2016“ ankündigt, explizit als ein praktisches Ergebnis dieser Debatten verstanden wissen möchte. Man wird auch hier sehen, was sich im einen wie im anderen Fall aus den immerhin wagemutigen Vorstößen entwickeln wird – dass sie überhaupt initiiert worden sind, stimmt schon einmal hoffnungsfroh und zeigt, dass sich allerorten was tut.

Allerorten – das heißt auch: nicht nur in den Nischen. Dass etwa im selben Moment, in dem landauf landab der nahende Untergang der Literaturkritik prophezeit wurde, das Literarische Quartett wieder ins Fernsehen zurückgekehrt und dann auch noch die monatliche Literaturbeilage des Spiegel auf dem Zeitschriftenmarkt eingeführt worden ist, ist immerhin einer Erinnerung wert. An beides hat man sich inzwischen schon als etwas Selbstverständliches gewöhnt, und mag man auch von jedem dieser Formate im Detail halten was man will: als medienpolitische Grundsatzentscheidungen zugunsten der Literatur und ihrer Kritik (oder was dafür gilt) wird man sie schwerlich wegdiskutieren können.

Insbesondere der Literatur-Spiegel bietet in erheblichem Umfang, was angeblich vom Aussterben bedroht ist: Rezensionen. Man mache die Probe aufs Exempel und breite einmal die Feuilletonbeilagen des letzten Jänner-Wochenendes 2016 vor sich aus: 22 Seiten Literatur-Spiegel liegen da neben 28 Seiten Bücher am Sonntag (der monatlichen Literaturbeilage der NZZ am Sonntag ) und 8 Seiten Literarischer Welt – das will erst mal gelesen werden, und die donnerstägliche Zeit ist da noch nicht mal angeblättert oder verdaut, von der FAS und der Welt am Sonntag , dem sonntäglichen Tagesspiegel und der Wochenend- taz , der SZ am Wochenende , der Presse am Sonntag und den beiden samstäglichen Beilagen Presse-Spectrum und Standard-Album (letztere immerhin mit eher kürzeren Rezensionen) ganz zu schweigen. Wer allein an diesem einen Wochenende die Buchbesprechungen wenigstens der wichtigsten Tages-, Wochen- und Sonntagszeitungen im deutschsprachigen Raum in Ruhe lesen wollte, käme schneller selbst in eine Krise (nämlich zeitökonomischer Art) als dass er feststellen könnte, das Feuilleton befände sich in einer.

Doch das ist natürlich wieder mal nichts anderes als eine impressionistische Momentaufnahme, die gefühlte Werte produziert – und davon waren die Debatten des vergangenen Jahres übervoll. Halten wir uns stattdessen lieber an die Empirie und folglich an harte Fakten, mit denen sich besser argumentieren lässt.

 

Balken und Kurven zum Status der Rezension im Printfeuilleton

Denn immerhin waren es ja auch die harten Fakten eines statistischen Befunds gewesen, der im Winter 2014/15 von Thierry Chervel vom perlentaucher verlautbart worden war und in der Folge zur zentralen Referenz für die Klagerufe über die düstere Zukunft des deutschsprachigen Rezensionsfeuilletons avancierte. In zwei Beiträgen für das Online-Journal literaturkritik.de vom 9. Februar und vom 7. Juli 2015 habe ich bereits versucht, Chervels Zahlen – die im Übrigen solide erhoben und in nichts anzuzweifeln sind – mit alternativen Erhebungen aus dem Datenbestand des Innsbrucker Zeitungsarchivs (IZA) zu kontrastieren, die das entworfene Schreckensszenario zumindest relativieren können und zu einer differenzierteren Betrachtungsweise einladen. Das Fazit hatte seinerzeit gelautet: Konzentriert man sich auf die Besprechungen von belletristischen Buchveröffentlichungen in der deutschsprachigen Tages- und Wochenpresse, kann von einer kontinuierlichen Halbierung der behandelten Titelzahl im Verlauf der zurückliegenden eineinhalb Jahrzehnte keinesfalls gesprochen werden – auch eine klare Tendenz für den Rückgang an Besprechungen ist nicht auszumachen. [6]

Noch offen geblieben und als Aufgabenstellung für eine differenziertere Analyse eingefordert worden waren vor diesem Hintergrund im Wesentlichen zwei Punkte. Sie betreffen

  1. die Frage nach dem Umfang der berücksichtigten Besprechungen generell sowie nach dem quantitativen Verhältnis von umfangreichen Rezensionen einerseits (wie sie vom perlentaucher täglich ausgewertet werden) zu kürzeren Formaten der Literaturkritik wie etwa Kurzbesprechungen und Buchnotizen andererseits (wie sie beim perlentaucher ausgeschlossen bleiben, im IZA aber mitgezählt werden); sowie
  2. die Frage nach dem quantitativen Verhältnis von Buchbesprechungen zu anderen Formaten der feuilletonistischen Literaturvermittlung, die stärker auf die Person eines Autors bzw. einer Autorin abzielen als auf die jeweiligen Werke, also etwa Interviews, Porträtartikel oder so genannte Homestories (die im Folgenden der Einfachheit halber als „personalisierende Formen“ bezeichnet werden sollen). Ihr vorgebliches Überhandnehmen auf den Feuilletonseiten der deutschsprachigen Tages- und Wochenpresse hat ja im Verlauf der Debatten des zurückliegenden Jahres und auch davor bereits wiederholt zu Befürchtungen Anlass gegeben, die ‚klassische‘ Literaturkritik würde unter einem Vordringen des literarischen Persönlichkeitsjournalismus leiden oder gar zum Opfer eines schleichenden Verdrängungsprozesses werden. So glaubte etwa schon Hubert Winkels vor über einem Jahrzehnt beobachten zu können, dass „die personenbezogenen Textsorten Interview und Autorenporträt […] immer mehr Raum auch in den seriös informierenden Tageszeitungen ein[nehmen].“ [7] Aber stimmt das auch?

Beide Fragen sollen im Folgenden anhand einer exemplarischen Analyse der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit empirischem Material aus der Datenbank des Innsbrucker Zeitungsarchivs beantwortet und in graphischen Darstellungen veranschaulicht werden. Vorausschickend ist dabei noch einmal anzumerken, dass im IZA Sachbuchrezensionen nur dann erfasst werden, wenn sie einen inhaltlichen Bezug zur ‚Schönen Literatur‘ sowie zur Literaturwissenschaft und ihren Randgebieten haben, so dass Sachbuchbesprechungen zu anderen Themen – also etwa Rezensionen von Büchern über Biochemie oder Zeitgeschichte – ausgeschlossen bleiben. Die folgenden Erhebungen beziehen sich mithin lediglich auf Besprechungen von belletristischen Titeln, behandeln also nicht die feuilletonistische Buch kritik in ihrer ganzen Breite, sondern vielmehr die Literatur kritik im engeren Sinne.

Da in der IZA -Datenbank die Länge eines jeden Zeitungsartikels durch eine automatisierte Angabe der Wortanzahl transparent gemacht wird, kann diese für statistische Auswertungen berücksichtigt werden. Eine Auszählung der Artikel nach Zeilen – wie sie etwa für die Bücherschau des perlentauchers maßgeblich ist [8] – oder auch eine in den Publizistik- und Kommunikationswissenschaften verbreitete Angabe des Raumumfangs in Quadratzentimetern wurde dagegen nicht vorgenommen.

 

Kurz oder lang: Zum Verhältnis von Kurzkritiken und längeren Rezensionen im Printfeuilleton

Die Unterscheidung von ‚kurzen‘ und ‚langen‘ Besprechungen wird im Folgenden bei einem Grenzwert von 500 Wörtern getroffen: Besprechungstexte mit einem darüber liegenden Umfang werden als vollwertige Rezensionen betrachtet, die nicht mehr als feuilletonistische ‚Häppchenware‘ zu klassifizieren sind. Alle umfangsmäßig darunter liegenden Artikel werden als Kurzbesprechungen gewertet. Zu beachten ist lediglich, dass bei dieser Differenzierung noch keine Unterscheidung zwischen Einzelbuch- und Sammelrezensionen getroffen worden ist. Sie muss im Folgenden außer Acht bleiben, da Sammelbesprechungen im IZA nicht ohne weiteres als separate Kategorie auslesbar sind: Sofern sie einen Umfang von über 500 Wörtern erreichen, werden sie gleichermaßen den längeren Rezensionen zugeschlagen.

Legt man diese Differenzierung für den Zeitraum 2001 bis 2014 auf die im IZA erfassten Besprechungen belletristischer Titel aus der Süddeutschen Zeitung an, ergeben sich folgende Zahlen:

 

Jahr

Besprechungstexte
Belletristik gesamt

Längere Rezensionen
(>500 Wörter)

Anteil der längeren
Rezensionen in Prozent

2001

492

404

82 %

2002

436

372

85 %

2003

525

428

83 %

2004

514

386

75 %

2005

492

370

75 %

2006

496

362

73 %

2007

564

380

67 %

2008

593

382

64 %

2009

569

426

75 %

2010

636

438

69 %

2011

542

384

71 %

2012

514

371

72 %

2013

538

389

72 %

2014

547

377

69 %

 

Das Ergebnis ist offensichtlich: Weder ist es in der Süddeutschen Zeitung zwischen 2001 und 2014 zu einem Rückgang der Gesamtzahl an Belletristik-Besprechungen gekommen, noch hat sich die Menge der längeren Rezensionen mit einem Umfang von über 500 Wörtern signifikant reduziert; deren Zahl bewegt sich im Berichtszeitraum vielmehr mit kleineren Schwankungen in einem relativ konstanten Bereich zwischen einer Obergrenze von 438 Artikeln (2010) und einer Untergrenze von 362 Artikeln (2006). Mit 377 Rezensionen liegt der Wert des zuletzt ausgezählten Jahres 2014 in etwa noch immer auf derselben Höhe wie derjenige von 2002 mit 372 Artikeln. Der Blick auf die absoluten Zahlen macht damit auch klar, dass die Verringerungen im Bereich der prozentualen Verhältniszahlen keineswegs aus einer Zunahme der Kurzbesprechungen zu Ungunsten der längeren Rezensionen resultieren, im Gegenteil: Bei einem Anstieg der Gesamtmenge an Besprechungstexten treten die kürzeren Formate vielmehr zu der relativ konstant bleibenden Menge an längeren Rezensionen hinzu , ohne diese zu verdrängen. Besonders deutlich lässt sich dies in der graphischen Visualisierung darstellen, in der die dunkelrote Linie die Gesamtsumme der Belletristik-Besprechungen markiert, während die orangefarbene Linie für die Teilmenge der längeren Rezensionen steht:

Abbildung 1: Belletristik-Besprechungen in der "Süddeutschen  Zeitung" 2001 bis 2014. [Ansicht vergrößern]

 

Vergleichbare Entwicklungen lassen sich auch für andere Zeitungen von überregionaler Bedeutung ausmachen, wie das Beispiel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im selben Untersuchungszeitraum zeigt (dunkelblaue Linie: Gesamtzahl der Besprechungen; hellblaue Linie: längere Rezensionen mit einem Textumfang von 500 und mehr Wörtern).

 

Abbildung 2: Belletristik-Besprechungen in der "FAZ" 2001 bis 2014 im Vgl. mit der "Süddeutschen Zeitung". [Ansicht vergrößern]

 

Insbesondere bei der Peak-Bildung des Jahres 2009 wird deutlich, dass die sprunghafte Zunahme der Gesamtsumme an Besprechungstexten lediglich auf einen Anstieg der Kurzrezensionen zurückzuführen ist, der die parallele Aufwärtsbewegung bei den längeren Rezensionen nicht weiter beeinträchtigt: Auch hier treten die Kurzformate komplementär zur jeweiligen Summe der umfangreicheren Besprechungen hinzu, in deren Gesamtentwicklung über die Jahre hinweg keinerlei Halbierungstendenzen auszumachen sind. Selbst der leichte Rückgang bei den längeren Rezensionen zwischen 2012 und 2014 führt mit 447 Besprechungen im letztgenannten Jahr zu einem Wert, der sich noch immer in etwa auf der Höhe des Jahres 2006 bewegt, als in der FAZ 455 Belletristik-Rezensionen mit einem Umfang von 500 und mehr Wörtern zu lesen waren.

Im unmittelbaren Vergleich mit der Süddeutschen Zeitung (orangefarbene Linie: Anzahl der längeren Rezensionen aus Abbildung 2) zeigt sich freilich auch der nach wie vor gegebenen Sonderstatus der FAZ als Flaggschiff des deutschen Rezensionsfeuilletons, das noch immer mit Abstand die meisten Besprechungstexte überhaupt veröffentlicht.

 

Werk oder Person: Buchrezensionen und andere Darstellungsformen des Literaturjournalismus [9]

Empirische Feuilletonforschung ist noch immer ein weitgehendes Desiderat, sowohl von literatur- als auch von kommunikations- und medienwissenschaftlicher Seite – auch wenn nicht nur zu hoffen, sondern wohl auch tatsächlich zu erwarten steht, dass das Interesse an quantitativen Analysen in den Geisteswissenschaften unter dem neuen Paradigma der „Digital Humanities“ weiter an Aufwind gewinnen wird. Gerade für die Feuilletonforschung ist hier ein fruchtbares Feld zu bestellen, auf dem Antworten auf Fragen zu gewinnen sein werden, die bislang noch kaum einmal formuliert worden sind.

Zu den wenigen inhaltsanalytischen Studien, die vor Ausbruch des jüngsten digitalen ‚Turns‘ zum Thema „Feuilleton“ durchgeführt wurden, zählt eine Längsschnittanalyse von zwei regionalen und zwei überregionalen Zeitungen ab dem Jahr 1983, die Günter Reus und Lars Harden 2005 in der Zeitschrift Publizistik veröffentlicht haben. [10] Reus und Harden gehen darin auch auf das Spektrum der journalistischen Darstellungsformen ein und kommen gleichfalls zum Resümee: Anders als vielfach behauptet, kann vom Verschwinden der Rezension keine Rede sein. Ihr Anteil liege – zumindest in den vier untersuchten Zeitungen (neben zwei Hannoverschen Regionalzeitungen waren das wiederum die FAZ und die Süddeutsche Zeitung ) – bei durchschnittlich 24 %, während personalisierende Formen wie Porträts oder Interviews nur rund 3 % aller Feuilletonartikel ausmachen und im Untersuchungszeitraum auch nur unwesentlich zugenommen haben. [11]

Nun liegt dieser Befund inzwischen auch schon wieder ein volles Jahrzehnt zurück, die Untersuchung lässt sich anhand der Datenbank des Innsbrucker Zeitungsarchivs aber mit leicht veränderter Fokussierung und Gewichtung gleichfalls bis zum Jahr 2014 fortsetzen, da die IZA-Datenbank außer nach Rezensionen auch gezielt nach einer Vielzahl anderer Artikelkategorien abgefragt werden kann – darunter die im Folgenden relevanten Texttypen „Interview“, „Porträt“, „Nachruf“ und „Jubiläumsartikel“. Diese stärker personalisierenden Formen des journalistischen Gattungsspektrums werden im IZA nicht nur dann berücksichtigt, wenn sie sich auf die Person eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin beziehen, sondern auf Angehörige des literarischen Feldes im weitesten Sinne, d. h. es werden auch Interviews mit oder Porträts von Personen des Verlagswesens, der Liedermacherszene oder der Literaturwissenschaft erfasst, vor allem aber auch Texte zu Personen aus dem Theaterbetrieb (vom Schauspieler bis zum Bühnenbildner).

Von dieser Basis ausgehend lassen sich anhand der IZA-Datenbank statistische Ergebnisse erzielen, die eine einigermaßen stichhaltige Aussage über die Entwicklung der Verteilung von Rezensionen einerseits und personalisierenden Formen des Kulturjournalismus über literarische Themen andererseits in der deutschsprachigen Printpresse erlauben. Tut man dies im chronologischen Anschluss an die Analyse von Reus und Harden für das zurückliegende Jahrzehnt von 2005 bis 2014 am Beispiel der Süddeutschen Zeitung und der FAZ , und beschränkt man sich dabei der Einfachheit halber auf die umfangreicheren Artikel mit einer Länge von 500 und mehr Wörtern, lassen sich z. B. die folgenden Balkendiagramme erstellen:

 

Abbildung 3: Belletristik-Besprechungen und personalisierende Formen in der "Süddeutschen Zeitung" 2005 bis 2014. [Ansicht vergrößern]

 

Abbildung 4: Belletristik-Besprechungen und personalisierende Formen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" 2005 bis 2014. [Ansicht vergrößern]

 

Im Falle der Süddeutschen Zeitung ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass sich die vermutete Zunahme personalisierender Formen des Literaturjournalismus auf Kosten der klassischen Rezension eindeutig widerlegen lässt. Die leichte Zunahme an umfangreicheren Besprechungen belletristischer Titel wird hier sogar von einem Rückgang anderer Genres aus dem Bereich des literarischen Persönlichkeitsjournalismus begleitet: Die eingezogenen Trendlinien zeigen für die Rezensionen (blaue Balken) deutlich eine ansteigende Tendenz, während sie für die Gesamtmenge an personalisierenden Formaten (rote Balken) ebenso wie für die Interviews (grüne Balken) einen fallenden Trend markieren.

Das Balkendiagramm zur FAZ dagegen führt einmal mehr deren besondere Bedeutung für das Rezensionsfeuilleton vor Augen; sie wahrt den herausragenden Status der klassischen Rezension gegenüber anderen journalistischen Darstellungsformen noch um einiges deutlicher als es etwa die Süddeutsche Zeitung tut: Die blauen Balken der Rezensionen überragen die roten des Persönlichkeitsjournalismus auffällig, die grünen Balken für die Teilmenge der Interviews verschwinden demgegenüber beinahe. Gleichwohl gibt es sowohl bei ihnen als auch bei der Gesamtsumme an personalisierenden Texten einen leichten Aufwärtstrend zu verzeichnen – wobei auch hier gilt, dass diese Tendenz keineswegs auf Kosten der Rezensionen geht: Interviews, Porträts u. a. Genres treten vielmehr zum klassischen Rezensionsfeuilleton hinzu, ohne dieses auch nur ansatzweise zu gefährden.

Dass es freilich auch andere Entwicklungen zu verzeichnen gilt, zeigt das abschließende Beispiel der Wochenzeitung Die Zeit . Hier ist über die letzten zehn Jahre hinweg eindeutig ein massiver Abwärtstrend bei den umfangreicheren Belletristik-Rezensionen auszumachen, der von einer erheblichen Zunahme personalisierender Formen insgesamt und von Interviews im Besonderen begleitet wird. Allerdings macht die folgende Visualisierung in einer Kurvendarstellung auch deutlich, dass bei allen Abfall- und Anstiegstendenzen in einzelnen Jahren eine Zunahme personalisierender Genres nicht zwangsläufig respektive ursächlich an einen analogen Rückgang der rezensierenden Besprechungsformate gekoppelt sein muss – wie die nahezu synchrone Peakbildung mit anschließenden Abstürzen aller Kurven in den Jahren ab 2010 zeigt:


Abbildung 5: Belletristik-Besprechungen und personalisierende Formen in der Wochenzeitung "Die Zeit" 2005 bis 2014. [Ansicht vergrößern]

 

Als eine der wenigen überregionalen Wochenzeitungen von Rang im deutschsprachigen Raum mag Die Zeit in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung einnehmen. Inwiefern die an ihren Inhalten ablesbaren Tendenzen als typisch gelten dürfen, ließe sich wohl am ehesten durch einen Vergleich mit überregionalen Sonntagszeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung , der Welt am Sonntag und der NZZ am Sonntag oder auch mit Nachrichtenmagazinen wie dem Spiegel ermitteln (wobei der letztere mit dem eingangs bereits erwähnten Literatur-Spiegel erst in jüngster Zeit ein deutliches Bekenntnis zum Rezensionsfeuilleton abgelegt hat). Für die überregionalen Tageszeitungen der deutschsprachigen Qualitätspresse, für die hier exemplarisch die Süddeutsche Zeitung und die FAZ herausgegriffen wurden, scheint sich dagegen ein Fazit ziehen zu lassen, das im Wesentlichen noch immer mit dem Ergebnis der rund zehn Jahre alten Studie von Reus und Harden übereinstimmt. Dieses Fazit lautet, dass von einem Rückgang der ausführlichen Rezension als dominantem Format der Literaturkritik im deutschen Feuilleton aufgrund einer vermuteten Verdrängung durch personalisierende Formen wie Porträts oder Interviews, aber auch durch Kurzformen der Kritik, zumindest im Bereich der Belletristik-Besprechungen keine Rede sein kann. Überprüft werden müsste diese These freilich allemal anhand weiterer Längsschnittanalysen – die zudem nur die eine Seite der Betrachtung ausmachen sollten und auf jeden Fall von qualitativen Untersuchungen flankiert werden müssten, um einigermaßen stichhaltige Aussagen über den Zustand der Literaturberichterstattung im zeitgenössischen Feuilleton treffen zu können.

Michael Pilz , 01.02.2016

Michael.Pilz@uibk.ac.at

 


 

Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu bilanzierend Ekkehard Knörer: Neuigkeiten aus dem Betrieb. Literaturkolumne. In: Merkur 69 (2015), Nr. 793, S. 61–68.

[2] Ebd., S. 61.

[3] Vgl. Sigrid Löffler: Was auf dem Spiel steht. Wir wissen, dass die Marktnischen für unabhängige Kulturkritik verschwinden. Wir sind uns bewusst, dass Kritik immer mehr durch offene oder versteckte Medienpartnerschaften ersetzt wird. Aber warum überhaupt noch festhalten am anstrengenden Urteilsgeschäft, das doch nur schlechte Laune macht? Eine Attacke. In: Die Presse (Spectrum), Nr. 20739 vom 9.1.2016, S. III.

[4] Vgl. Evelyne Polt-Heinzl: Verklärte Macht. „Warum nicht gleich sein Fähnchen nach dem Wind hängen und sein literarisches Urteil der Konjunktur anpassen?“, fragte Sigrid Löffler im vorigen „Spectrum“ in ihrer Attacke auf den Zustand der Literaturkritik. Eine Replik. In: Die Presse (Spectrum), Nr. 20746 vom 16.1.2016, S. III.

[5] Vgl. Sigrid Löffler: Die Rettung der Kritik. Man kann und muss der Kritik vieles vorwerfen. Man kann aber auch heute noch Vorbilder für Glaubwürdigkeit finden. Eine Laudatio auf Daniela Strigl zur Verleihung des Berliner Preises für Literaturkritik. In: Die literarische Welt. Ein Journal für das literarische Geschehen, Nr. 44 vom 31.10.2015, S. 7.

[6] Vgl. dazu auch die bündige Zusammenfassung von Ekkehard Knörer: Neuigkeiten aus dem Betrieb. Literaturkolumne. In: Merkur 69 (2015), Nr. 793, S. 61–68.

[7] Hubert Winkels: Die Schöne und der Markt. Wohin strebt die Literaturkritik? In: [Ders.]: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995–2005. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005, S. 34-54, hier 49 f. In der Sundermeier - wie in der Schütte-Debatte des Jahres 2015 sollten solche Vermutungen – freilich wiederum als Behauptungen und ohne empirische Belege formuliert – wiederholt aufs Tapet gebracht werden.

[8] Vgl. dazu Thierry Chervels Angabe , dass in der Bücherschau des perlentauchers lediglich Rezensionen ab einer Länge von 60 bis 80 Zeilen berücksichtigt würden.

[9] Die folgenden Ausführungen beruhen auf einem Vortrag, den ich zusammen mit Marc Reichwein am 28.11.2015 auf der Tagung Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur an der Universität Graz gehalten habe.

[10] Vgl. Günter Reus und Lars Harden: Politische „Kultur“. Eine Längsschnittanalyse des Zeitungsfeuilletons von 1983 bis 2003. In: Publizistik, 50 (2005), Nr. 2, S. 153–172.

[11] Vgl. ebd.