Wohl kaum eine andere journalistische Textsorte wird nach ihrer Erstveröffentlichung häufiger in Buchform nachgereicht als die Literaturkritik. Zwar wird insgesamt gesehen nur wenigen Kritikern und Kritikerinnen die Ehre einer solchen Publikation zuteil, doch wer sich im Literaturbetrieb durch Lauter Verrisse oder Lauter Lobreden einen Namen gemacht hat, oder wem ein renommierter Preis zugesprochen wurde, der gehört in Windeseile zum Kreis der Erwählten, deren Texte nicht mehr nur in der sprichwörtlichen Zeitung von gestern stehen, sondern (zumindest potentiell) auch im Bücherregal so manches Literaturinteressierten.
Auch Ina Hartwig, 2011 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet, veröffentlichte vor kurzem einen Band mit ausgewählten Rezensionen und zieht mit diesem Buch „das Resümee eines Lebensabschnitts“ (S. 15), nämlich das aus 15 Jahren Redaktionstätigkeit für die Frankfurter Rundschau . Herausgekommen ist ein in mehrfacher Hinsicht sehr persönliches Buch. Hartwig formuliert im Vorwort das Ziel, in die „Lebenswirklichkeit des Redakteurs“ (S. 13) blicken zu lassen und glaubt dem Leser einen Gefallen zu tun, indem sie „wenigstens einmal auf die Frage […] antworte[t]: Kritikerin, wer bist du?“ (S. 15) Sie hinterfragt das Berufsbild des heutigen Kritikers, kratzt dabei aber nur an der Oberfläche und kommt schnell zur etwas plakativen Antwort: „Kritiker sind Diener und Parasiten zugleich.“ (S. 16).
Dabei sind ihre Überlegungen von der Skepsis gegenüber den neuen Medien und Techniken des Schreibens getragen. „So müssen wir alle“, schreibt sie, „die wir uns in der literarischen Community zu Hause fühlen, damit fertig werden, dass die Schaffensphase in der Ära des Computers kaum noch Spuren hinterlässt“ (S. 13). Aus dieser Wehmut erwächst bei Hartwig ein biographisches Interesse am Autor (sie verwendet dafür den Terminus „literarische Persona“), mit dem sie sich ihrer Lektüre nähert. Letztere besteht in überaus hohem Maß aus Briefwechseln und Tagebüchern, jedenfalls nehmen Rezensionen davon im Sammelband viel Platz ein. Doch das ist nicht allein dem biographischen Interesse der Kritikerin geschuldet. Die Konjunktur dieser Textsorten in den letzten Jahren ist unbestreitbar und – da der Markt bekanntlich auch auf die Bedürfnisse der „Konsumenten“ reagiert – wohl auch ein Zeichen dafür, dass eine Vielzahl von Leserinnen und Lesern ähnliche Lektüre-Präferenzen haben wie Hartwig. Die Neugierde am Leben der Autorinnen und Autoren scheint jene am Werk zu überdecken. Durch diese Verlagerung des Interesses findet eine Überhöhung der Person des Autors statt und die Kritik gerät zunehmend in eine falsche Form des Dienens, das Parasitäre tritt in den Vordergrund. Auch in dieser Hinsicht kann Hartwigs Band als repräsentativ gelten, denn er bildet ab, wie Literaturkritik heute zum Großteil betrieben wird: mehr „emphatisch“ als „gnostisch“ (um mit Hubert Winkels zu sprechen), voller Begeisterung und Leidenschaft zwar, die ansteckend wirken kann, die aber kaum einmal kritisch hinterfragt und den Durchschnittsgeschmack eher bedient als auf die Probe stellt.
Auf die besagten Besprechungen von Tagebüchern und Briefwechseln (darunter solche von Peter Handke und Nicolas Born, Paul Celan und Ingeborg Bachmann), die v. a. den ersten Teil des Bandes ausmachen, folgen Texte zu mehr oder weniger kanonisierten, zumeist deutsch- oder französischsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. So wird etwa mithilfe von Texten Kathrin Rögglas und Ulrich Peltzers erklärt, was der 11. September mit dem Lissabonner Erdbeben von 1755 gemein hat (oder eben nicht) und warum Homers schlachtende Freier in Goethes Werther letztlich doch über das vegetarische Idyll, das der Autor mit dem Zuckererbsen pflückenden Werther entwirft, triumphieren. Weitere Texte widmen sich u. a. den Nobelpreisträgern Herta Müller und Imre Kertész, aber auch jüngeren Autorinnen wie Antje Rávic Strubel. Der meiste Raum wird freilich Marcel Proust eingeräumt, dem Autor, der in Hartwigs Lese-Biographie einen prominenten Platz einnimmt und der sie „treu begleitet, von dem [sie sich] beschützt fühlt“, auch wenn sie ihm nicht alles abnimmt, was er geschrieben hat. (S. 15). V. a. in diesem Teil zeigen sich neben der emphatischen Begeisterung auch das analytische Geschick und die Scharfsinnigkeit der Kritikerin und Philologin.
Trotz mancher Schwächen, die mitunter nicht der Autorin allein anzulasten sind, sondern der Tatsache, dass sie offenbar lediglich zu bieten versucht, was sich der Betrieb heute von Literaturkritik zu erwarten scheint, beweist Ina Hartwig spätestens an dieser Stelle, dass sie doch zu Recht zum Kreis der Erwählten gehört.
Irene Zanol , 29.9.2012