Ihren breiten und endgültigen Durchbruch hatte die Pressefotografie erst nach 1945. Wie sehr visuelle redaktionelle Inhalte – jenseits der eigentlichen Illustrierten-Presse – in den 1920er Jahren noch nicht von der Fotografie dominiert waren, sondern von Zeichnungen und anderen Elementen der Bebilderung, zeigt der Band Bilder in der Presse von Detlef Lorenz. Die Dokumentation über Pressezeichner und Presse-Illustrationen im Berlin der Zwischenkriegszeit ist ein Meilenstein der Forschung. Das Nachschlagwerk präsentiert ein Metier, das bislang kaum dokumentiert geschweige denn systematisch erschlossen ist. „Die Tatsache, dass sich bisher offenbar niemand damit befasst hat, ist wohl daraus zu erklären, dass hier eine Riesenaufgabe zu bewältigen war, selbst wenn man die Untersuchung auf das Berlin der Weimarer Republik […] beschränkt“, konstatiert der Verfasser (S. 11). Lorenz hat sich zeit seines Lebens (1938 bis 2019) praktisch und wissenschaftlich mit Werbung, graphischen Künsten und Pressegeschichte beschäftigt. Es ist ein Glück, dass er das Opus Magnum vor seinem Tod beenden konnte – als „Basis“, „auf der weitere Forschungen aufgebaut werden können – ein Werkzeug also, ein Nachschlagewerk, mit dem nachgewiesen werden kann, welche Künstlerinnen und Künstler in welchen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen veröffentlicht haben bzw. wurden“ (S. 12).
Neben kurzen Hinweisen zur Methodik und Benutzung gibt Lorenz einleitend interessante Auskünfte zu seiner Motivation und zur unsicheren kulturhistorischen Einordnung von Pressezeichnungen und Presse-Illustrationen: „Handelt es sich um Kunst? Um Journalismus? Um Gebrauchsgraphik? Sind sie ein Phänomen der Kunstgeschichte? Der Publizistik? Der Populargeschichte? Des Zeitgeistes?“ (S. 12) Weiter bemerkt Lorenz, dass erst die moderne Drucktechnik die Voraussetzungen für den Bilderboom der Weimarer Republik geschaffen hat, von dessen Popularität nicht nur die Produkte der drei großen Pressekonzerne (Mosse, Scherl und Ullstein) zeugen, sondern auch Nicht-Massen-Blätter wie Die Literarische Welt , die sich und ihren Lesern visuelle Spielereien wie die Bilderbogenreihe Berühmte Bärte lebender Schriftsteller von Ottomar Starke gönnte. Lorenz erläutert, warum er den Begriff der ‚Pressezeichnung’ im Titel seines Kompendiums um den der ‚Presse-Illustration’ ergänzt hat: Anders als intentional für die Veröffentlichung in einem Presseorgan verstandene Zeichnungen finden sich in der Presse auch jede Menge Illustrationen, die mit ganz anderen Zielen und für andere Medien entstanden waren: Radierungen, Holzschnitte, Gemälde-Reproduktionen für Bücher etc.
Der Hauptteil des Nachschlagewerks besteht aus einem 450-seitigen alphabetischen Verzeichnis von rund 6000 Künstlerinnen und Künstlern, Zeichnerinnen und Zeichnern. Jeder Eintrag nennt Beleg-Organe und -Zeiträume, also Zeitungen und Zeitschriften, in denen etwas von ihnen bebildert wurde. Wo zeichnerische Selbstbildnisse vorliegen, sind die Einträge in Lorenz’ Künstlerlexikon durch teilweise charakterstarke Kleinstvignetten ergänzt. Unter dem Rubrum „Kurzbiografie“ folgen knappe Angaben zu Ausbildung und Werdegang, manchmal auch bloße Hinweise auf zeichnerische Spezialitäten der Person: „In der Kaiserzeit bekannt wegen seiner Darstellungen von Schiffen, besonders Kriegsschiffen“, heißt es etwa zu Wilhelm Malchin, der mit Arbeiten für die Berliner Illustrierte Wochenschau und die B.Z. am Mittag belegt ist. Hinweise auf die Berücksichtigung in der Fachliteratur oder Internetquellen runden jeden Namenseintrag ab.
Wichtig ist Lorenz schon einleitend der Hinweis auf Künstlerbiografien, „denn Kultur entsteht nicht aus dem Nichts, sondern durch Menschen“. Die Schicksale, Lebensläufe und Tätigkeiten der verzeichneten Künstlerinnen und Künstler kann ein Nachschlagewerk nur ahnen lassen; sie waren oft so wechselvoll wie die Zeitläufte der Weimarer Republik. Der politisch-soziale Hintergrund der Personen oder das Medium, für das sie tätig waren, lässt Rückschlüsse über ihre Stellung im publizistisch-künstlerischen Feld vor 1933 und ihren Verbleib danach zu.Viele Künstlerinnen und Künstler im Berlin der 1920er Jahre waren osteuropäischer Herkunft, sie sahen in den postimperialen Räumen Russlands oder Österreich-Ungarns nach dem Zerfall der Monarchien keine Zukunft und kein Auskommen mehr. „Allein aus Ungarn sind 70, meist sehr gefragte Zeichner dokumentiert“, konstatiert Lorenz.
Die wenigsten Künstlerinnen und Künstler konnten allein von ihren Pressezeichnungen leben. Viele jüdische Künstler sind Teil einer „vergessenen Generation“, die im Exil ganz andere Berufe ergreifen und ausüben mussten. Dieser doppelt prekäre Status, was Berufe und Biografien betrifft, machte das künstlerische Feld der Pressezeichner in der Weimarer Repubik schwer greifbar. Es wurde erst durch die Autopsie kompletter Jahrgänge von rund 170 Medienorganen sichtbar, die Detlef Lorenz verdienstvoll geleistet hat. Bilder in der Presse gibt jetzt denen einen Namen, deren Wirken für den Tagesgebrauch selten als Kunst wahrgenommen wurde und die doch – allein in Berlin – zu Hunderten tätig waren. „Agil sein“, „sehr fleißig sein“ und „Klinken putzen“, so erinnerte sich der Berliner Pressezeichner David Friedmann rückblickend an die Anforderungen seiner Profession. Prominenz blieb aber die Ausnahme, denn ähnlich wie im Bereich der Feuilleton-Korrespondenzen hatte sich über Materndienste ein Markt für Bildagenturen etabliert, über den Lorenz wertvolle Hinweise gibt (vgl. S. 20).
Bei einem Lexikon von 6000 Namen reicht das Spektrum eines Nachschlagewerks denkbar weit. Es soll ja gerade ohne Rücksicht auf Rang und Namen Auskunft über die Presse-Präsenz zeitgenössischer und historischer Künstler geben. Edouard Manet beispielsweise, großer Maler und Wegbereiter der Moderne, konnte nicht wissen, dass er die Presse der Weimarer Republik posthum bebildern würde. Lorenz’ Entscheidung, nicht nur lebende Künstler in sein Kompendium aufzunehmen, ist plausibel, denn im kulturellen Bildgedächtnis sind ja alle gleichermaßen präsent, und noch der Rückgriff auf frühere Bildepochen und Künstler sagt viel über die Leserschaft und Gesellschaft der Weimarer Republik aus.
Ergänzend zum Lexikonteil bietet das Nachschlagwerk auf immerhin elf Seiten Kostproben ausgewählter Presse-Illustrationen. Das Spektrum reicht von der Karikatur bis zur Gerichtszeichnung, von der Weihnachtsmarkt-Skizze bis zur Modezeichnung, von der Bauzeichnung (Bleilochtalsperre in Thüringen) bis zur satirischen Infografik („Anatomie des Berliners“) und vom Sportbild in expressionistischer Manier bis zum Comicstrip. Man sollte, wie Lorenz (S. 14) betont, den Begriff der Pressezeichnung nie auf Witzzeichnungen oder Karikaturen verengen.
Wertvoll, nicht nur für Freunde der Semiotik, sind schließlich noch Listen mit entschlüsselten und nicht entschlüsselten Signaturen (S. 439-467) sowie das Verzeichnis der autoptisch (also von Lorenz selbst eingesehenen) Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. Das Feld reicht von humoristischen Magazinen wie Ulk , Lachen links („Das republikanische Witzblatt“) und Brummbär (Ullsteins Wochenend-Beilage in der Berliner Morgenpost ) über bekannte Marken wie die B.Z. am Mittag und die B.I.Z. bis hin zum Bilder-Courier (der täglichen illustrierten Beilage des Berliner Börsen-Courier ). Auch die Parteipropaganda-Presse wie die bei Scherl/Hugenberg erscheinende nationalsozialistische Abendzeitung Der Angriff war ein Ort der Bildsprache.
Lorenz’ Fokussierung auf die Metropole Berlin während der Jahre der Weimarer Republik wirft naturgemäß nur ein Schlaglicht auf eine gewerbsmäßige und künstlerisch hochproduktive Epoche visueller Redaktionsinhalte, doch sie ist sehr aussagekräftig, weil die „Zeitungsstadt Berlin“ ( [2]
Marc Reichwein , 20.03.2021
[1] Eine auf Karlsruhe bezogene Studie veröffentlichte Konrad Dussel: Pressebilder in der Weimarer Republik. Münster: Lit-Verlag 2012. „Bei Bildern darf nicht nur an Fotos gedacht werden. […] Bilder waren auch Landkarten, Diagramme und vor allem Zeichnungen – ob sachlich, witzig oder karikierend“, konstatiert Dussel (S. 14).
[2] Umso erfreulicher, wenn Untersuchungen, von denen man es zuvorderst gar nicht erwarten darf, visuelle Inhalte im Mediendiskurs früherer Jahrhunderte thematisieren. Welche Rolle die Zeichnung beispielsweise bei der Popularisierung von Wissenschaft spielte, diskutiert der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner in seiner neuesten Publikation zu Léon Foucaults Pendelversuch im Spiegel der Presse-Ikonografie. Vgl. Michael Hagner: Foucaults Pendel und wir . Köln: Verlag Walther König 2021. Hochinteressant liest sich sein Vergleich zwischen den Visualisierungsstrategien des Jahres 1851 und denjenigen zum 50. Jahrestag des Pendel-Versuchs im Jahre 1901 (vgl. S. 109, 113-120 und 181-186). Dass Léon Foucault seinerseits rege im Journal des Débats publizierte, kann als frühes Beispiel für Wissenschaftsfeuilleton gelten (vgl. ebd., 84, 90, 99, 104).