Paul Assall (Hg.): „Ich schreibe unentwegt ein Leben lang“. Marcel Reich-Ranicki im Gespräch. München: Piper 2020. 150 S. ISBN: 978-3-492-31643-9. Preis [A]: 12,40 €.

Marcel Reich-Ranicki: Der doppelte Boden. Ein Gespräch über Literatur und Kritik mit Peter von Matt. Herausgegeben von Thomas Anz. Zürich: Kampa Verlag 2020. 288 S. ISBN: 978-3-311-14018-4. Preis [A]: 24,70 €.

 

Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) war nicht nur „der populärste Literaturkritiker, den es je gab“ (Thomas Anz). [1] Er avancierte im Alter auch immer mehr zu einer Person der Zeitgeschichte, als Holocaust-Überlebender wie als Fernseh-Promi. Diese exponierte Stellung findet zu Reich-Ranickis 100. Geburtstag ihren posthumen Niederschlag. Neben einer neuen, dezidierten Würdigung des Literaturkritikers durch Gunter Reus und zwei aktualisierten Biografien von Thomas Anz [2] und Uwe Wittstock [3] erscheinen auch zwei Gesprächsbände mit „MRR“.

Der eine Gesprächsband ist die Neuauflage des Gesprächs über Literatur und Kritik, das [4] Zu den Umständen des damaligen Gesprächs erklärt Anz im Vorwort (S. 8): „Die Initiative zu dem Gespräch kam aus der Schweiz.“ Egon Ammann , Verleger des von 1981 bis 2010 existierenden Ammann-Verlags in Zürich, hatte die Begegnung zwischen dem Literaturwissenschaftler und dem Literaturkritiker angeregt und veröffentlichte sie 1992, so wie er zuvor schon gesammelte Reich-Ranicki-Essays zu Thomas Bernhard (1990), Martin Walser und Max Frisch (1991) sowie über Günter Grass (1992) verlegt hatte.

 

Assall und Reich-Ranicki

Der andere Gesprächsband, der jetzt bei Piper, dem ehemaligen Hausverlag Reich-Ranickis, erscheint, war ebenfalls von Egon Ammann angeregt worden, blieb aber 34 Jahre lang unveröffentlicht. Paul Assall, der mit dem Reich-Ranicki-Interview beaufragte Radiojournalist des damaligen Südwestfunks, erläutert die Umstände der Begegnung, Anfang 1986 in Frankfurt, wie folgt (S. 7): „Ich fuhr dorthin im Auftrag des Verlegers Egon Amman, um den biografischen Teil eines Projekts zu bewältigen, zu dem der Zürcher Literaturwissenschaftler Peter von Matt den zweiten, den literaturkritischen Part übernahm. Ein Doppelporträt also, von dem letztlich allerdings nur das Gespräch mit Peter von Matt erschien, das war 1992, und es trug den Titel Der doppelte Boden .“

Beide Bände gehören also zusammen und sollten in ihrer gemeinsamen Genese betrachtet werden. Ein Umstand, den Thomas Anz als Herausgeber des Peter-von-Matt-Bandes nicht erwähnt, von dem er vielleicht auch nichts wusste, obwohl er ihn als Reich-Ranicki-Biograf und Bibliograf elementar angeht. Denn natürlich fällt auf, wie sehr bei Peter von Matt und Marcel Reich-Ranicki gewisse Themen außen vor bleiben. Wenn die beiden über die DDR-Literatur und Vergangenheitsbewältigung sprechen oder über Reich-Ranickis Nachkriegsjahre in Polen, verlieren sie kurioserweise kein Wort über die entscheidende Phase in Reich-Ranickis Biografie, seine Zeit im Warschauer Getto und Versteck. Man kann sogar soweit gehen und dem Gespräch zwischen Peter von Matt und Reich-Ranicki regelrechte Leerstellen bescheinigen.

Umgekehrt stößt man im Gespräch von Paul Assall auf Aspekte, deren Besprechung für einen Peter von Matt naheliegend gewesen wäre, wenn es nicht eine mutmaßliche Arbeitsteilung zwischen dem biografischen und dem literaturkritischen Reich-Ranicki gegeben hätte. So konfrontiert Assall Reich-Ranicki mit einem Zitat des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg. Demnach beruht Ranickis rigorose Autorität „‚auf der Freiheit […], unauslöschliche Erfahrungen auf Literatur anzuwenden.’ Ist das richtig?“, will Assall von Reich-Ranicki wissen (S. 76). Der verwehrt sich gegen einen Biografismus, der seine besondere Strenge als Literaturkritiker mit seiner Erfahrung als verfolgter Jude kurzschließt, und gibt zu bedenken: „Kritiker wollte ich werden, bevor ich den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust erlebt habe. Mich haben nicht die Nazis zur Literaturkritik gebracht.“ Später im Gespräch erläutert er (S. 135): „Mir und meiner Familie und den Juden überhaupt ist das Schrecklichste von Deutschen angetan worden. Das zu vergessen bin ich überhaupt nicht imstande. Andererseits bin ich ganz und gar im Geist der deutschen Literatur und der deutschen Musik erzogen.“ Bekanntlich verbrachte Reich-Ranicki seine Schulzeit (von 1929 bis zum Abitur 1938) in Berlin.

Assalls Interview mit Reich-Ranicki ist nicht nur als Zeitzeugen-Gespräch wertvoll, es thematisiert auch literaturwissenschaftliche relevante Fragen nach der Darstellbarkeit der Judenverfolgung, an der sich hierzulande schon wiederholt Debatten entzündet haben – vom Skandal um Binjamin Wilkomirski bis zu Takis Würgers Roman Stella . Im Anschluss an eine Einschätzung von Werken wie Jurek Beckers Jakob der Lügner oder Joshua Sobols Theaterstück Ghetto bekennt Reich-Ranicki (S. 133): „Man hat mich oft gefragt, warum ich nicht meine Erlebnisse aus jener Zeit darstelle, warum ich darüber nicht schreibe. Ich bin dem nicht gewachsen, ich kann dem Thema nicht gerecht werden – das ist sicher. In der Literatur hängt alles von der Praxis ab. Wenn es Schriftsteller gibt, die es schaffen, dann kann man dem Thema gerecht werden. Oft sind solche Themen erst ein halbes Jahrhundert später gezeigt worden. So wie bis heute Romane oder Theaterstücke erzählen, die während der spanischen Inquisition spielen, so wird man, glaube ich, noch sehr, sehr lange zu diesem ganzen Themenkreis Holocaust und Judenverfolgung zurückkehren.“

Das war keine endgültige Absage, aber eine im Jahr 1986 doch eher skeptische Haltung gegenüber der Idee einer autobiografischen Schilderung seines eigenen Schicksals. Wie und wann sich diese Haltung Reich-Ranickis wandelte, hat Thomas Anz in der lesenswerten Neuausgabe seiner Reich-Ranicki-Biografie dokumentiert (vgl. Anz 2020, 207-215). Die Zeitzeugenschaft, die Assalls Gespräch mit Reich-Ranicki zur Geltung bringt, wird von Anz nur lapidar gewürdigt (ebd., 208): „Unveröf­fentlicht blieben bis vor kurzem seine Lebenserinnerungen in einem langen Gespräch mit dem damaligen Rundfunkredakteur Paul Assall aus dem Jahr 1986. Diese Erinnerun­gen sind aber längst nicht so umfassend wie die in Mein Leben .“

 

Das nie veröffentlichte Gespräch

Aus einer feldsoziologischen Perspektive heraus betrachtet mag auch die Tatsache, dass mit Assall ein vergleichsweise unbekannter Rundfunkjournalist den Großkritiker zum Interview traf, eine gewisse Rolle gespielt haben. „Ein Manko für das Marketing“, bemerkt Assall rückblickend selbst, zum Besuch bei MRR notiert er (S. 7f.): „Das Gespräch mit ihm stand anfangs unter keinem guten Stern. Er schien griesgrämig gestimmt zu sein. Er hatte erwartet, dass Ammann, den er offensichtlich mochte, mitkommen würde. Das hatte ich aber abgelehnt. Meine Erfahrung hatte gezeigt, dass ein Dritter im Hintergrund solche Gespräche nur behindert, zumal Tonband und Mikrofone allein schon die Nähe zwischen den Sprechenden stören.“

Zwischen Ammann und Reich-Ranicki bestanden literaturbetrieblich gepflegte Beziehungen. Assall bemerkt, dass Ammann „Reich-Ranicki sehr hofierte, ihm zum Beispiel die literarischen Novitäten des Verlags – in der Hoffnung, dass er sie besprechen möge – persönlich nach Frankfurt brachte. Natürlich nicht, ohne einen Blumenstrauß für Teofila und die geliebten Menthol-Zigaretten zu vergessen“ (S. 7). Die Atmosphäre, die Assall bei seinem Besuch erfuhr, stellt sich hingegen wenig herzlich dar:

„Drei Stunden sprachen wir […] am Vormittag, drei Stunden am Nachmittag. Dazwischen ein kleines Mittagsessen, das seine Frau zubereitet hatte. Es wurde stumm eingenommen. Unwirsch sah er dabei seine Post durch. Eine einzige Frage stellte er mir: ob das Rot des Umschlags einer Edition von Wolfgang Koeppens Gesammelten Werken , die er im Suhrkamp Verlag herausgab, passend sei. Ich bejahte, und seine Frau Teofila legte ihre Stirn in Falten, als wollte sie mir bedeuten: ‚So ist er halt.’“ (S. 9).

Assall sieht sich von den Zeitläuften übergangen (Assall, S. 7): „Warum mein Gespräch entfiel, weiß ich bis heute nicht. Weder Ammann, für den ich in den Anfangsjahren des Verlags als freier Lektor tätig gewesen war und der mich wegen meiner Rolle als Redakteur und Interviewer der Hörfunk-Gesprächsreihe Zeitgenossen des Südwestfunks zu diesem Gespräch geradezu überredet hatte, noch Reich-Ranicki äußerten sich dazu.“ Assall seinerseits verrät nirgends, ob er je nochmal nachgefragt hatte, wann er das Gespräch verschriftlicht und ob er es Egon Ammann und Reich-Ranicki vorgelegt hat. Dass sechs Stunden Gespräch Reich-Ranicki erheblich mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert und ihn langfristig bewegt haben dürften, seine Haltung zu einer eigenen Autobiografie zu überdenken, liegt nahe. Es ist müßig, über die Gründe der damaligen Nicht-Veröffentlichung zu spekulieren. Niemand wollte einem Holocaust-Zeitzeugen die Chance nehmen, seine Lebensgeschichte zuerst selbst zu erzählen.

 

Von Matt und Reich-Ranicki

Der doppelte Boden , das buchlange Gespräch zwischen Peter von Matt und Reich-Ranicki beginnt, als wüsste es um Egon Ammans Blumenstrauß-Politik, mit den Themenkomplex Korruption, Filz und Seilschaften im Literaturbetrieb (vgl. S. 19-40). Im weiteren geht es um Reich-Ranickis Erwartungen an die Gegenwartsliteratur (S. 41-77); aus diesem Zusammenhang stammt auch der Titel des Buches (S. 44). „Wenn einem Text die Zeichenhaftigkeit fehlt, dann ist er keine Literatur, der doppelte Boden muss vorhanden sein.“ [5] Außerdem befragt von Matt Reich-Ranicki zu seinem Rollenbild als Kritiker (S. 77-108), zu jüdischen Traditionen in der deutschen Literatur (S. 109-131), zum Themenkomplex Literatur und Erotik (S. 136-143) sowie zu den vier deutschen Literaturen, von denen damals mit Blick auf die vier Staaten BRD, DDR, Schweiz und Österreich gern gesprochen wurde (S. 143-170). Ein weiterer Abschnitt zum literaturkritischen Handwerk beschließt das Hauptgespräch. Reich-Ranicki behauptet, jedes Buch, über das er als Kritiker schreibe, „eineinhalbmal“ (S. 178) gelesen zu haben.

Nur marginal deutet sich der Historikerstreit an, der zum Entstehungszeitpunkt des Gesprächs bereits die Feuilletons beschäftigte (S. 192f.).  Einmal mehr zeigt sich, welches große Themenfeld zwischen von Matt und Reich-Ranicki unbesprochen blieb; lediglich ein Statement zur Frage, ob die deutschsprachige Literatur sich schon ausreichend mit der Nazi-Zeit auseinandergesetzt habe lässt aufhorchen (S. 193): „Nein, mit Sicherheit nicht. Aber ähnlich wie die Spanische Inquisition wird auch der Holocaust jahrhundertlang zu den großen Themen der Literatur gehören.“ Diese Einschätzung Reich-Ranickis findet sich fast wortgleich auch im Gesprächsband von Assall (S. 133).

Dass zwischen der Gesprächsaufzeichnung (1986) und der Publikation (1992) sechs Jahre vergingen, scheint selbst für damalige Zeiten und einen Kleinverlag wie Ammann ein vergleichsweise zögerlicher Prozess der Buchwerdung. Hier mag zum einen die Frage nach dem Umgang mit dem zweiten Gesprächsband von Paul Assall eine Rolle gespielt haben. Zum anderen kam die politische Zeitenwende von 1989/90 dazwischen. Das Ende der DDR hat jedenfalls das zweite, im Buch als „Nachtrag“ bezeichnete Gespräch zwischen Peter von Matt und Reich-Ranicki motiviert. In ihm geht es größtenteils um den deutsch-deutschen Literaturstreit um Christa Wolf – und die Frage, wofür er steht. Reich-Ranicki möchte den Begriff ‚DDR-Literatur’ nicht gelten lassen, von Matt befürchtet literarische „Monotonie“ (S. 215), wenn er sich vorstellt, noch in zwanzig Jahren Romane lesen zu müssen, die davon handeln, wie es damals hinter der Mauer zugegangen sei (vgl. S. 218). Dass die seinerzeit bald als „Wendeliteratur“ bezeichnete Literaturproduktion das literarische Feld noch auf Jahrzehnte hinaus prägen würde – 2020 hat Lutz Seiler mit seinem Roman Stern 111 über die unmittelbare Nachwendezeit den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen – zeichnet sich auch für einen mit epochalen Zeiträumen vertrauten Literaturwissenschaftler wie Peter von Matt 1991 damals nicht ab.

Wertvoll ist das Gepräch zwischen Peter von Matt und Marcel Reich-Ranicki vor allem aus zwei Gründen, die der Herausgeber Thomas Anz in seiner Einleitung benennt. Erstens als „Dokument zur Erinnerung an das literarische Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, und zweitens als „Dialog auch zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft“ (S. 8). Peter von Matt verwirrt Reich-Ranicki mit der Frage nach objektivierbaren Wertmaßstäben: „Was ist denn eine Messlatte?“ (S. 78). Er entlockt dem Literaturpapst einige seiner typisch apodiktischen Aussagen: „Ich pfeife auf die Wahrheit in der Literatur und die in ihr enthaltene Philosophie, wenn mich diese Literatur langweilt“ (S. 76). In Sachen Gender Studies würde sich Reich-Ranicki heute in alle Nesseln setzen: „Ich bin nicht imstande, die Literatur nach den Geschlechtsteilen ihrer Verfasser zu sortieren“ (S. 105). Für eine Autorin, die beim Klagenfurter Bachmannpreis heulend aus der Jurydiskussion herausging, hatte er keinen Funken Empathie übrig: „Wer öffentlich kegelt, hat Moses Mendelssohn gesagt, der muss sich vom Kegeljungen sagen lassen, wie viel er geworfen hat“ (S. 85). Diese Art des rücksichtlosen Tacheles-Redens hat sich im „Sensitivity“-Literaturbetrieb von heute definitiv überlebt – sie würde Reich-Ranicki heute, weilte er noch unter den Lebenden, als empathielos und grobschlächtig dastehen lassen. Für derlei Anachronismen, die Alterität zum heutigen Betrieb anzeigen, empfiehlt sich die Lektüre des Reich-Ranicki/von-Matt-Gesprächs nachhaltig.

Zu Reich-Ranickis Gunsten muss man sagen, dass er Robustheit beim Austeilen wie beim Einstecken einforderte: „Wer Angst hat vor Animositäten, Ressentiments, Feindschaften, Intrigen, infamen Attacken, der soll Apotheker werden oder Buchhalter“ (S. 189). Die Idee, Literaturkritik als Beruf mit Einfluss nur unter der Inkaufnahme von „Feinden“ ausüben zu können, war für Reich-Ranicki selbstverständlich. Heute hat sie sich eher erledigt. Nicht nur, weil sich alle nett finden wollen , sondern auch, weil sich der literaturkritische Diskurs durch die schiere Medienvielfalt entspannt hat. Es lastet weniger Druck und Argwohn auf den einzelnen Kanälen für literarische Öffentlichkeit, weil es von Verlagsblogs über Autoren in den Social Media bis hin zu Booktubern und Podcasts über Büchern viel mehr Kanäle (neben Kritik) gibt.

Man merkt dem medienhistorischen Kontext, in dem Reich-Ranicki und von Matt 1986 sprechen, deutlich an, dass es noch kein Internet gab, sondern nur wenige Medien überhaupt: das Zeitungsfeuilleton, die Literaturzeitschriften, den Rundfunk. Publizität war ein rares Gut. Nur deshalb konnte das Geraune von der sogenannten „Gegenöffentlichkeit“ entstehen, nur deshalb konnte der FAZ -Literaturchef  Reich-Ranicki von Protesten berichten: „Wenn ein wichtiges Buch unbesprochen bleibt, bekommen wir das zu spüren“ (S. 40). Literarische Öffentlichkeit war damals noch beinahe zwingend auf Literaturkritik angewiesen, dementsprechend beäugt wurde sie und hatte eo ipso mehr Macht und institutionellen Charakter.

 

„Herr Reich-Ranicki, Sie haben Macht“

Was das Gespräch zwischen Peter von Matt und Reich-Ranicki in den Rang einer Ethnografie des literarischen Feldes hebt, ist seine anschauliche Thematisierung von Machtvorwürfen und Diskursdynamiken einer heute so nicht mehr existenten literarischen Öffentlichkeit. Das „Ping-Pong-Spiel“ der Leitmedien (S. 30) ist ebenso Thema wie die Filz-Gefahr des Betriebs, die Reich-Ranicki gar nicht negiert (S. 34), oder die Frage, was Macht im literaturkritischen Diskurs stiftet und begründet. Die Spitzenstellung bei einem Leitmedium – als Literaturchef der FAZ (1973 bis 1988) dirigierte MRR das Medium mit den meisten Buchbesprechungen in Deutschland – war ja nur das eine; das andere war die Neigung (und zugleich auch Fähigkeit) Reich-Ranickis, rhetorisch breitenwirksam zu formulieren. Auf von Matts Einlassung „Herr Reich-Ranicki, Sie haben Macht“ (S. 83) reagiert er mit der Aussage: „Das, was Sie Macht nennen, ist mir nicht vom Himmel gefallen. Ich habe sie mir irgendwie mithilfe einer Schreibmaschine im Laufe der Jahre, glaube ich erschrieben. […] Spricht das gegen mich? Ich möchte von sehr vielen Menschen gelesen werden, ich gebe mir viel Mühe, um zu erreichen, dass die Leser mich verstehen“ (S. 84). Sein Schreibcredo als Kritiker – „klar, anschaulich, griffig“ (S. 27) – kennzeichnete Reich-Ranickis Rhetorik auch im Mündlichen, aber erst seine Rolle als Gastgeber der ZDF-Talkshow Das Literarische Quartett (1988 bis 2001) bescherte ihm wirkliche Popularität.

Möglicherweise verkörperte Reich-Ranicki eine Machtkonzentration auf dem literarischen Feld, wie es sie – medienhistorisch gesehen – vor und nach ihm nie wieder gab. Die Fernsehkarriere Reich-Ranickis hatte 1986 noch kaum begonnen. [6] Sehr deutlich wird im Gesprach allerdings das Bewusstsein Reich-Ranickis, dass hier eine ganz andere Reichweite und Resonanz wartet als im Zeitungsfeuilleton. Wiederholt kommt er auf den „enormen und direkten Einfluss auf den Verkauf von Büchern“ zu sprechen (vgl. S. 27 und 81f.) und vergleicht die Öffentlichkeit, die ein beachtlich erfolgreicher Lyrikband mit seiner Auflage von fünf oder zehntausend erzielt, mit den Einschaltquoten, die demgegenüber das Fernsehen erreicht, selbst wenn nur einige Hunderttausend die Sendung einschalten.

 

Das Nachleben Reich-Ranickis

Marcel Reich-Ranicki dürfte der Literaturkritiker der Geschichte sein, der neben gesammelten Kritiken nicht zufällig fast ebenbürtig Gespräche hinterlässt. Möglicherweise, und damit schließt sich der hermeneutische Zirkel zwischen seinem Talent als TV-Talkmaster und den dialogischen Ursprüngen der Gattung Literaturkritik in Thomasius’ Monatsgesprächen, auf die Anz in der Einleitung zu Peter von Matts Gesprächsband verweist (vgl. S. 9f.), möglicherweise bleibt von Reich-Ranicki als Literaturkritiker nichts anderes als die maskottchengleiche Fernsehfigur. Der anlässlich seines Todes 2013 festgehaltene Befund , dass dieser Kritiker vor allem als Soundtrack von Literaturkritik rezipiert wurde, manifestiert sich sieben Jahre später deutlicher denn je. Nicht zufällig sind zum 100. Geburtstag Reich-Ranickis nicht etwa gesammelte Kritiken, „Lauter Lobreden“ oder „Lauter Verrisse“ neu aufgelegt worden, sondern lauter Biografien. Und lauter Gespräche. Wird es jemals eine Werkausgabe geben? Wird sie wissenschaftlich überhaupt von Interesse sein? Oder könnte Reich-Ranicki der erste Kritiker sein, dessen Nachleben sich auf ein paar Youtube-Hits und sinngemäß geflügelte Worte beschränkt: „Ich nehme diesen Preis nicht an.“ / Frau Löffler, Sie verstehen nichts von Erotik. / „Jelinek? Was war das? War das Literatur? Ich weiß es nicht“ . Wäre da nicht auch der Zeitzeuge Reich-Ranicki, wäre sein Nachleben womöglich reines Kasperletheater, ein Zitatenschatz für Leute, die gern einen unterhaltsamen Literaturpapst nachäffen, aber sonst eher nichts von Literaturkritik wissen oder halten. Ein Phänomen der Mediengesellschaft, zweifelsohne. Gut möglich, dass Reich-Ranicki den ersten Sonderforschungsbereich einer künftigen Literaturbetriebsphilologie inspiriert, die sein Wirken in Zeitungen, Jurys und Talkshows im Fernsehen gleichermaßen berücksichtigt.

Interessant an der Langzeitwirkung Reich-Ranickis ist die Überlagerung der Figur des Literaturkritikers durch die Figur des Zeitzeugen noch zu Lebzeiten: Anz betont das mächtige „soziale Kapital“, das Reich-Ranickis Autobiografie Mein Leben ab 1999 zur breiten Rezeption verhalf. Die Tatsache, dass Mein Leben gleich reihenweise von Weggefährten, Schülern oder anderen in Reich-Ranickis Danksagung genannten Personen besprochen wurde (vom Herausgeber der FAZ ganz zu schweigen), mithin also von Leuten, die nach normalen Comment der Literaturkritik als befangen gelten würden, unterstreicht die Ausnahmestellung. [7] Die Überlagerung der Figur des Literaturkritikers durch die des prominenten Zeitzeugen war im hohen Alter dermaßen fortgeschritten, dass es auch in den zahlreichen Nachrufen – nicht nur denen der FAZ – darum ging, sich gleich rudelweise im Abglanz einer Figur der Zeitgeschichte zu sonnen. Ähnliche Phänomene ließen sich auch bei  den Nachrufen auf Frank Schirrmacher beobachten. Mit Sicherheit werden künftige Netzwerkanalysen der Feuilleton- und Literaturbetriebsforschung solche Faktoren berücksichtigen, wie sie auch Reich-Ranickis eigene Befangenheit erforschen können, die er gegenüber Peter von Matt – angeblich nur in Bezug auf Walter Jens und Siegfried Lenz sah (vgl. S. 183). Wird Reich-Ranicki als Holocaust-Zeitzeuge und Akteur des bundesrepublikanischen Literaturbetriebes einmal stärker kanonisch denn als Verfasser von Literaturkritiken? Für diesen Befund liefern beide hier besprochenen Gesprächsbände reichhaltiges Material.

 

Marc Reichwein , 06.05.2020

 


[1] Anz, Thomas: Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben. Berlin: Insel Verlag 2020, 222.

[2] Anz, Thomas: Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben. Berlin: Insel Verlag 2020. Vgl. zuvor Anz, Thomas: Marcel Reich-Ranicki. München: dtv 2004.

[3] Wittstock, Uwe: Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie. München: Piper 2020. Vgl. zuvor Wittstock, Uwe: Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie. München: Blessing 2015.

[4] Erschienen im Marburger Verlag LiteraturWissenschaft.de, verzeichnet in der Deutschen Nationalbibliothek .

[5] Vgl. (ebd., 45) auch die Erläuterung des Bildes, das sich wie eine Trivialversion des damals modischen Postmoderne-Topos von der Doppelcodierung der Literatur lesen lässt: „Schmuggler haben in früheren Zeiten – und vielleicht ist es heute nicht viel anders – gern Koffer mit einem doppelten Boden verwendet. Wer den Koffer geöffnet hat, sah seinen Inhalt, an dem er sich erfreuen konnte. Er brauchte gar nicht zu wissen oder zu ahnen, dass der innere Boden des Koffers keineswegs mit dem äußeren identisch ist, dass es also unter dem Boden, der innen sichtbar ist, noch einen zweiten gibt und also ein Zwischenraum entsteht. In diesem Zwischenraum verstaute der Schmuggler das, worauf es ihm ankam und was er vor den Augen der Zöllner oder der Polizeit verbergen wollte. So ist es mit der Literatur. Die meisten Leser nehmen nur Kenntnis von dem, was sich auf Anhieb wahrnehmen lässt, sie ahnen nicht, dass in der Novelle oder im Gedicht noch etwas enthalten ist, ein zweiter, über das unmittelbar Erkennbare hinausgehender Inhalt.“

[6] Es gab allerdings Dokumentationen und Einzelauftritte, die MRR seine Wirkung gezeigt haben dürften.

[7] Vgl. Anz 2020, 205-208.