I.
„Viele Autoren machen das, was sie immer schon machten – bloß unter neuer, prestigeträchtigerer, modischerer symbolischer Flagge.“ Für dieses Phänomen, das Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein im Vorwort ihres Bourdieu-Handbuches konstatieren , 1 liefert Rainer Rosenbergs 2009 erschienene Arbeit über Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über den Habitus ein Anwendungsbeispiel in Reinkultur. Denn obwohl Rosenberg einleitend in Aussicht stellt, in seinem Entwurf eines „differenzierten Bild[s] von Habitusformen deutscher Germanisten“ Pierre Bourdieus Konzept „als ein praktikables heuristisches Dispositiv für die soziologische Erörterung kollektiver Verhaltensformen“ verwenden zu wollen (S. 7), folgt dieser Ankündigung im Hauptteil des Buches kaum etwas, das ihr auf befriedigende Weise entsprechen würde. Was Rosenberg stattdessen liefert, ist eine konzise Geschichte des germanistischen Fachdiskurses von seinen Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die Nachkriegszeit: Methoden- und Theoriegeschichte also, „ ad personam “ (S. 10) festgemacht an den bekanntesten Namen der Zunft seit Lachmann, Grimm und Moritz Haupt. Souverän geschrieben und anregend zu lesen ist das alles zweifellos – nur von Bourdieus Theorie-Modell ist dabei eben wenig zu bemerken.
Deshalb gleich von Etikettenschwindel zu sprechen besteht freilich kein Anlass, denn gerade aufgrund seines zentralen Mangels sagt das Buch an sich bzw. seine paratextuelle Rahmung schon einiges über das Thema aus, dem es sich inhaltlich zu widmen vorgibt: den Habitus im wissenschaftlichen Feld der Germanistik eben. Sofern man nämlich mit Bourdieu „Habitus“ als ein „Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis“ definiert , 2 das Verhaltensweisen und Strategien für die Positionierung im sozialen Raum des jeweiligen Feldes beeinflusst und steuert, so ist zu diesen Verhaltensmustern zweifellos auch das instinktsichere Aufgreifen von Moden zu rechnen – einschließlich solcher Basistheorien, die gerade konjunkturelle Hochphasen erleben und deren Verwendung mithin zu jenem „guten Ton“ zählt, den zu sprechen im Feld für schicklich erachtet wird. Auch, wenn diese Verwendung auf einer rein äußerlichen, mithin performativen Ebene stehen bleibt.
Nun hat Bourdieu – das zeigt nicht zuletzt die Veröffentlichung metatheoretischer Werkzeugkästen vom Kaliber des eingangs zitierten Handbuchs – zweifellos noch immer Konjunktur. Eine explizite Bezugnahme auf seine Theorien (so inkonsistent diese selbst auch immer sein mögen und so deutlich ihr Verfasser ihre Nicht-Eignung für die Konstruktion einer „Supertheorie“ auch immer betont haben mag), eine performative Bezugnahme auf Bourdieu darf heute also als hinlänglich erfolgreiche Strategie zur Akkumulierung symbolischen Kapitals innerhalb der Scientific Community gelten, zumal sie ihrem Verfasser einen Distinktionsgewinn gegenüber konkurrierenden Theorie-Exegeten verspricht. Was nicht zuletzt der auf die Akkumulierung ökonomischen Kapitals angewiesene Verlag dem Autor danken dürfte.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, scheint Rosenberg zumindest bis zu einem gewissen Grad selbst jenem „Anpassungsdruck“ erlegen zu sein, über den er sich in den Schlusssätzen seines Buches mit leiser Skepsis äußert. Dort nämlich ist von den „einander abwechselnden postmodernen Paradigmen“ und vom gegenwärtigen Methodenpluralismus des Faches die Rede, sowie von der grundlegenden
„[…] epistemologische[n] Einstellung auf die Gleichrangigkeit der verschiedenen Forschungsansätze […], die den Wissenschaftlern das Gefühl der Freiheit gab, den Paradigmenwechsel zu vollziehen, der früheren Wissenschaftler-Generationen oft so schwer fiel. Ein Gefühl der Freiheit, in dem sie den Anpassungsdruck nicht mehr spürten, den der jeweils neueste der global turns mit seinem Innovationsanspruch auf die scientific community ausübte und noch ausübt.“ (S. 163 f.)
II.
Der Habitus – mit Bourdieu als „inkorporierte Geschichte “ 3 des jeweiligen Feldes, seiner tradierten Rollenbilder und Konventionen verstanden – äußert sich nicht zuletzt auch in jeder Form von „Stil“ als Mittel der Distinktion; mithin also auch im Schreibstil, der sich im Feld der Philologie als ein hinlänglich „wissenschaftlicher“ auszuweisen hat. Diesem Anspruch genügt Rosenbergs Buch auf eindrückliche Weise, wie man gleich beim Aufschlagen des Vorworts (S. 5) erkennen kann: Einem lediglich achtzeiligen Textblock, der dem Einleitungstext angehört, steht auf dem Rest der Seite eine Fußnotenwüste gegenüber, der den Satzspiegel im Verhältnis 3:1 dominiert, wobei die letzte Anmerkung den dort zur Verfügung stehenden Raum sprengt und – in flottem Enjambement über die Seitengrenzen weiterlaufend – auch noch die Folgeseite beinahe zur Hälfte füllt. Anthony Grafton hätte hier für seine inzwischen schon klassisch zu nennende Studie über die Tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote 4 hinlängliches Anschauungsmaterial zur Beschreibung einer habituellen Praxisform philologischer Gelehrsamkeit vorfinden können, zumal sich die angedeutete Zitier- und Anmerkungsflut als Charakteristikum durch Rosenbergs gesamtes Buch zieht. An der Wissenschaftlichkeit dieses „Essays“ zu zweifeln, wird also selbst dem kritischsten Leser bereits aus rein optischen Gründen nicht einfallen wollen – wobei noch einmal ausdrücklich betont sei, dass zu solchen Zweifeln auch auf der inhaltlichen Ebene des Buches tatsächlich nicht der geringste Ansatzpunkt geliefert wird. Wie gesagt: Eine solide kleine Fachgeschichte der Germanistik, gleichsam für die Westentasche, wird hier vorgelegt, die – was die Zeit nach 1945 in der Deutschen Philologie der DDR betrifft – auch nicht auf autobiographische Einfärbungen verzichtet, ohne dadurch ihrem Niveau irgendwelchen Abbruch zu tun.
Dass die Wissenschaftlichkeit des Schreibens zum philologischen Habitus gehört, stellt Rosenberg also mit seinem eigenen Text hinlänglich unter Beweis. Und dies in Zeiten, in denen – wie er konstatiert –
„[…] immer mehr Schulgermanisten […] eine größere Öffentlichkeit suchen, nicht mehr nur in Fachorganen publizieren, sondern für Zeitungen schreiben sowie in den audiovisuellen Medien auftreten und sich dabei auch essayistischer Formen bedienen.“ (S. 163)
Vielleicht hängt es in diesem Kontext wiederum mit einem gewissen „Anpassungsdruck“ zusammen, wenn auch Rosenberg bestrebt scheint, dem genannten Wechsel der habituellen Praxisformen wenigstens ansatzweise Genüge zu tun, indem er seine Fachgeschichte nicht nur im Untertitel als Versuch deklariert, sondern sie auch in einer Reihe erscheinen lässt, die ebenso explizit das Wort Essay im Titel führt. Beide Male wird also auf eine klassische „Grenzgattung“ zwischen Journalismus, Wissenschaft und Literatur verwiesen, die von der jüngeren Essay-Forschung als typisches Beispiel für eine „interdiskursive“ Schreibweise definiert worden ist . 5 Wie oben angedeutet, erweist sich allerdings auch dieser Anspruch im Falle Rosenbergs als bloßes Postulat: Nicht überall, wo Essay drauf steht, kommen realiter „auch essayistische Formen“ zur Anwendung. Was wiederum nicht heißen soll, dass Rosenbergs Buch eine Eigenschaft abzusprechen ist, die auch für jeden guten Essay obligatorisch zu nennen wäre: Es ist – alle Fußnotenwucherung hin oder her – durchaus mit Gewinn zu lesen.
III.
Ein solcher Gewinn könnte für den Leser z. B. im Aufwerfen der Frage bestehen, ob die von Rosenberg thematisierte, die Geschichte des Feldes auf konstitutive Weise durchziehende Distinktion zwischen wissenschaftlichem Fachjargon und allgemeinverständlicher Schreibweise – die auf die scharfe Grenzziehung zwischen Literaturwissenschaft bzw. Philologie auf der einen und Literaturkritik bzw. Feuilletonistik auf der anderen Seite hinausläuft – in der tatsächlichen Schreib- und Veröffentlichungspraxis der deutschen Germanisten seit Etablierung des Faches auch wirklich ein reales Äquivalent von ausreichendem Gewicht besessen hat, um erst für die Gegenwart von einer Aufweichung und Nivellierung der Habitus- und Feldgrenzen sprechen zu können.
„Esoterik vs. Publikumswirksamkeit“ (S. 21) lautet das von Anfang an zugrunde liegende Oppositionsschema konträrer Habitusformen im wissenschaftlichen Feld, von denen die erstgenannte den viel beschworenen Elfenbeinturm bezeichnet, in dem sich auch die Vertreter der deutschen Philologie schon früh einzumauern begonnen hätten. Dabei weißt Rosenberg in seinem biographischen Streifzug durch die Fachgeschichte gerade auch auf die Existenz von „Abweichlern“ hin, die dem einschlägigen Klischee eines von der allgemeinen Leserschaft abgekoppelten Wissenschaftsbetriebs entgegensteuerten, um stattdessen das zu betreiben, was nach heutigem Verständnis „Literaturvermittlung“ zu nennen wäre. Einen frühen Dissidenten benennt Rosenberg etwa schon für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Ästhetiker Karl Rosenkranz (1805–1879), der als Philosoph und Theoretiker bis heute durch seine Ästhetik des Hässlichen bekannt geblieben ist, der zugleich aber auch als Philologe mit Beiträgen zur Altgermanistik hervortrat. Indes:
„Aus der Sicht der Lachmann, Grimm und Haupt war Rosenkranz natürlich gar kein ‚richtiger‘ Germanist. […] Unter dem hier gewählten Gesichtspunkt verkörpert er […] den Habitus eines Gelehrten, […] dessen wissenschaftliche Interessen nicht mehr nur auf die ferne Vergangenheit gerichtet ist, sondern auch die geistig-kulturellen Prozesse der Neuzeit berührt, und der sich nicht mehr damit begnügt, seine Ansichten und Erkenntnisse im engen Kreis der Sachverständigen zu diskutieren, sondern die Öffentlichkeit sucht und zu Mitteilungsformen greift, die auch den interessierten Laien ansprechen.“ (S. 20 f.)
Stand Rosenkranz freilich seiner wissenschaftlichen Herkunft nach noch am Rande der sich eben erst als eigenständige Disziplin konstituierenden und allmählich konsolidierenden Germanistik, war bereits unter den folgenden Gelehrten-Generationen zu beobachten,
„[…] dass schon in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch unter strengen Philologen die der Lachmann-Schule widersprechende Orientierung auf eine breitere Öffentlichkeit an Boden gewann: Durch eine publikumsfreundlichere Aufbereitung der Forschungsergebnisse wie kommentierte Textausgaben und die von Franz Pfeifer 1856 gegründete Zeitschrift Germania , die sich gezielt auch an Laien wandte, sollte ein allgemeines Interesse an der neuen Wissenschaft geweckt werden.“ (S. 22)
Rosenberg weist zurecht darauf hin, dass sich nicht zuletzt für eine Zentralgestalt der deutschen Germanistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Wilhelm Scherer und die von ihm begründete Schule
„[…] das Einhalten der philologischen Disziplinierung […] durchaus mit öffentlichem Auftreten im außeruniversitären Bereich, der Beschäftigung mit der neueren Literatur und der Teilnahme am kulturellen Leben der Zeit, ja sogar mit der Arbeit für die Tagespresse vertragen konnte.“ (S. 22 f.)
Bekanntlich hat der bis heute immer wieder vorschnell (und zu Unrecht) auf die Rolle eines positivistischen Gründervaters reduzierte Scherer zahlreiche literaturgeschichtliche und literaturkritische Essays für Julius Rodenbergs Deutsche Rundschau geschrieben, während sein überaus vielseitiger und aktiver Schüler Richard Moritz Meyer als Kritiker für Berliner Zeitungen tätig war und in seinen Lehrveranstaltungen das Germanistische Seminar in Berlin für die seinerzeit als Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung noch weithin verpönte Gegenwartsliteratur von Hauptmann bis George geöffnet hat.
Hatte der Positivismus also seine Scherer und Meyer aufzuweisen, die durchaus auch das Prädikat „Essayist“ oder „Feuilletonist“ im positiven Sinne für sich in Anspruch nehmen konnten, so durfte für die konkurrierende Geistesgeschichte die Personalunion zwischen Fachwissenschaftler und essayistisch-kulturpublizistisch bzw. literarisch ambitioniertem Autor geradezu als konstituierend bezeichnet werden, wie die Namen von Oskar Walzel, Friedrich Gundolf oder dem (freilich politisch fragwürdigen) Ernst Bertram hinlänglich belegen. Und selbst noch ein so strenger Vertreter der Werkimmanenz wie Emil Staiger hat mit seiner Rede von 1966, mit der er den Zürcher Literaturstreit vom Zaun brach, gezeigt, dass die Literaturwissenschaft von jeher über ein öffentlichkeitstaugliches Potential verfügte, das seine Wirksamkeit vor einem allgemeinen Publikum und mithin in den Massenmedien zu entfalten sowohl bereit als auch im Stande war. Bei näherer Betrachtung lässt sich somit für beinahe jede Theorie-Schule der deutschsprachigen Germanistik schon für die Zeit vor 1968 eine nicht unbedeutende Zahl an Wissenschaftlern benennen, die ihre Leidenschaft für Sprache und Literatur nicht nur im philologischen Fachdiskurs ausgelebt, sondern immer wieder auch Präsenz im journalistischen und publizistischen Feld gezeigt haben – auch, wenn sie sich daraufhin seitens einer philologischen Orthodoxie mit „Dilettantismus- oder Feuilletonismus-Vorwürfen“ (S. 9) konfrontiert sehen mussten.
Dass Rainer Rosenberg – aller paratextuellen Verpackung seines Buches zum Trotz – selber nicht in die erste Reihe der hierfür einschlägigen Namen rechnet, wird man ihm kaum zum Vorwurf machen wollen. Wenn auch nicht zur Popularisierung des Faches und seiner Gegenstände, so doch zu seiner Historiographie hat er mit seinem kleinen Buch einen praktikablen Beitrag geleistet (zumal das beigegebene Personenregister den angeblichen Essay auch für biographische Nachschlagezwecke bestens geeignet erscheinen lässt).
Michael Pilz , 28.03.2011
Anmerkungen :
[ 1 ] Bourdieu-Handbuch. Hrsg. von Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein. Stuttgart: Metzler, 2009, S. IX.
[ 2 ] Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987, S. 277
[ 3 ] Pierre Bourdieu: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hamburg: VSA-Verl., 2001, S. 165.
[ 4 ] Vgl. Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Berlin: Berlin-Verl., 1995.
[ 5 ] Vgl. z.B. Rolf Parr: „Sowohl als auch“ und „weder noch“. Zum interdiskursiven Status des Essays. In: Essayismus um 1900. Hrsg. von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Heidelberg: Winter, 2006, S. 1–14