Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie. München: Blessing 2015. 432 S. mit zahlr. Abb. ISBN: 978-3-89667-543-9. Preis [A]: 20,60 €
Eine Reisebeschreibung, sagt Kurt Tucholsky , sei in erster Linie für den Beschreiber charakteristisch, nicht für die Reise. Mit nicht viel mehr als ein bisschen Recht kann man diese Feststellung, sofern man sie sanft abwandelt, auch auf Biographien übertragen: Eine Lebensbeschreibung ist nicht nur für den Beschriebenen charakteristisch, sondern auch für den Beschreiber. Eine Reich-Ranicki-Biographie vorzulegen, wie der Literaturkritiker Uwe Wittstock es im April dieses Jahres gemacht hat, ist schon insofern ein wagemutiges Unternehmen, als Reich-Ranickis 1999 veröffentlichte Autobiographie sich mittlerweile rund anderthalb Millionen Mal verkauft hat und auch verfilmt wurde. Wird, wer etwas über Reich-Ranickis Leben erfahren möchte, nicht gleich lieber zur Autobiographie greifen? Oder anders gefragt: Worin besteht der Vorteil der Biographie gegenüber der Autobiographie? Die Antwort ist: Es sind gleich zwei Vorteile, nicht nur einer. Der erste besteht darin, dass der Biograph das Leben unbefangener, objektiver schildern kann als der Autobiograph – jedenfalls wenn man wahnwitzig genug ist, um anzunehmen, dass es so etwas wie Objektivität geben könnte. Der zweite Vorteil besteht darin, dass der Biograph das ganze Leben bis zum Tod erzählen kann. Der letzte, der glaubhaft von seinem eigenen Tod erzählen konnte – zumindest so glaubhaft, dass auch heute noch viele Menschen von der Inspiriertheit dieses autobiographischen Berichts überzeugt sind –, war vor ein paar tausend Jahren der Prophet Mose im fünften Buch Mose.
Uwe Wittstock, der von 1980 bis 1989 unter der Ägide von Reich-Ranicki Literaturredakteur der „FAZ“ und ihm auch danach verbunden war, hat schon einmal eine Reich-Ranicki-Biographie veröffentlicht, vor zehn Jahren, kurz vor Reich-Ranickis 85. Geburtstag. Sie trug damals den Titel: „Marcel Reich-Ranicki. Geschichte eines Lebens“. Nun hat er diese Lebensgeschichte vollständig überarbeitet und stark erweitert. Sie setzt nicht chronologisch ein, sondern mit einer Anekdote: Die letzte Sendung des ersten Literarischen Quartetts fand bekanntlich im Schloss Bellevue in Berlin statt. Zuvor hatte Wittstock, so erzählt er, Reich-Ranicki von einem Hotel am Gendarmenmarkt abgeholt und sie waren in ein Taxi gestiegen. Als der Taxifahrer Reich-Ranicki im Rückspiegel sah, habe er gesagt: „Sie kenn ich ausm Fernsehn … Ja, Sie sind der Kritiker.“ Wittstock kommentiert: „Nicht ‚ein‘ Kritiker hatte er gesagt. Auch nicht: ‚dieser‘ Kritiker. Sondern: ‚ der Kritiker‘“ (S. 11). Fast unmittelbar wurde das Berufsbild des Kritikers mit Reich-Ranicki assoziiert. Tatsächlich war Reich-Ranicki zum populären Inbegriff des Kritikers geworden: „Wenn die Kritik, die in Deutschland traditionell zu den missverstandenen und oft ungeliebten Institutionen zählte, nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land ein neues, anderes Image bekam, dann ist das nicht zuletzt ein Verdienst Reich-Ranickis“ (S. 11). Die charakteristischen Merkmale an Reich-Ranickis Art und Weise der Kritik, die ihm so oft zum Vorwurf gemacht wurden, erachtet Wittstock gerade als die herausragenden Vorzüge: die entschiedene Klarheit, die Unterhaltsamkeit, die Wirkungsmacht (S. 251). Nur so konnte Reich-Ranicki ein Massenpublikum für die Literatur begeistern.
Aber gerade diese Wirkungsmacht – an einer Stelle belegt Wittstock Reich-Ranicki gar mit dem numinosen Titel „der Pate der Branche“ (S. 226)“ – war nicht bloß eine Konsequenz aus Reich-Ranickis Machtinstinkt. Zwei Erklärungen sind es, die Wittstock für Reich-Ranickis phänomenalen Erfolg anführt. Zum einen, natürlich, sein Ehrgeiz, sein Arbeitsdrang, seine Energie, seine Ungeduld. Zum anderen aber, und das ist das Wichtigere, die Lehre, die er aus seiner Zeit im Warschauer Getto gezogen hat: dass, wer eine Chance haben will, keine Schwäche zeigen, nicht zögern darf, sondern entschlossen handeln muss. Das Leitmotiv, das sich durch diese hervorragend erzählte und angenehm strukturierte Biographie Reich-Ranickis zieht, ist die eminente politische Dimension dieses Lebens: „Reich-Ranicki war mehr als nur der erfolgreichste Kritiker der deutschen Literaturgeschichte, er war zugleich in mancherlei Hinsicht ein exemplarischer Intellektueller des zwanzigsten Jahrhunderts“ (S. 16).
Die politischen Brüche dieses Lebens werden schon an den mehrmaligen Namens- und mithin Identitätsumformungen sichtbar: Reich-Ranicki hieß bei seiner Geburt in der polnischen Stadt Włocławek Marcel Reich, später, im Warschauer Getto, Marceli Reich, nannte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Zeit in Polen und Großbritannien Marceli Ranicki und schließlich, ab seiner endgültigen Übersiedelung in die Bundesrepublik 1958, Marcel Reich-Ranicki. Im ersten Drittel des Buches werden die Stationen vor Reich-Ranickis Aufstieg als Literaturkritiker äußerst informativ abgehandelt: seine Jugend in Berlin, die erschütternden Erfahrungen in Polen, die Arbeit in London für das polnische Sicherheitsministerium, die hochproblematischen Erfahrungen in der kommunistischen Partei. Die Schilderung der innigen Beziehung Reich-Ranickis zu seiner Frau Tosia zieht sich durch das ganze Buch, das Kapitel über die Familie aber wirkt in dieser Biographie ein wenig zu kurz geraten – möglicherweise weil Reich-Ranicki tatsächlich erst in seiner Arbeit voll aufging.
In seiner zweiten Lebenshälfte gab Reich-Ranicki zumindest vor, unpolitisch zu sein. Insofern hätte er es seinem Biographen eigentlich leicht gemacht, die politische Dimension seines Lebens zu vernachlässigen. Wittstock tut dies glücklicherweise nicht und rückt noch einmal stark ins Bewusstsein, wie sehr und wie häufig Reich-Ranicki gekränkt wurde – und zwar, wie in dieser Biographie herausgearbeitet wird, als Person gekränkt wurde, nicht als Kritiker. Dass ein Kritiker gerade von denen, die er kritisiert, für seine Arbeit nicht (nur) Lob und Zuspruch erhält, versteht sich ja von selbst. Gleichwohl ist es schwer, Wittstock pauschal zu folgen, wenn er schreibt: „Wie gründlich und ausführlich Reich-Ranicki in seinen Rezensionen argumentiert, lässt sich leicht nachprüfen.“ (S. 314f.) Das ist zwar richtig, aber es lassen sich eben auch genauso leicht Gegenbeispiele finden. Wenn Reich-Ranicki, wie etwa im Fall Günter Grass, „von Buch zu Buch zu mitunter extrem unterschiedlichen Urteilen kam“ (S. 263) – jauchzendes Lob und entschiedene Ablehnungen wechseln sich ziemlich regelmäßig ab –, so liegt das an einem Literaturverständnis, das im Prinzip nur gute oder schlechte Literatur kennt, aber keine mittelmäßige, weil es die mittelmäßige Literatur, und wer wollte da widersprechen, der schlechten zuschlägt.
In den anderthalb Jahrzehnten, in denen Reich-Ranicki der wichtigste Feuilletonmitarbeiter der „Zeit“ war, wurde er kein einziges Mal zu einer Redaktionssitzung eingeladen. Doch ging es, wenn es gegen Reich-Ranicki ging, eben häufig gerade nicht um die Kritik seiner Kritik, sondern um die Ausgrenzung seiner Person. Viele der Zitate, die Wittstock anführt, sind schockierend, gerade weil sie auf jemanden zielen, der in der Zeit des Nationalsozialismus mehrere Jahre lang jeden Tag damit rechnen musste, ermordet zu werden. So habe Rolf Dieter Brinkmann Reich-Ranicki während einer Podiumsdiskussion einmal angebrüllt: „Ich sollte überhaupt nicht mit Ihnen reden, ich sollte hier ein Maschinengewehr haben und Sie niederschießen.“ (S. 252) Auch von Hermann Peter Piwitt, Maxim Biller, Peter Handke, Christa Reinig und anderen sind die verletzendsten Schmähungen überliefert. Die Ungeheuerlichkeit – Taktlosigkeit wäre ein Euphemismus – Joachim Fests, Reich-Ranicki zu einem Empfang zu laden, ohne ihm vorher mitzuteilen, dass dort auch Albert Speer zu Gast sein wird, verdient besonders bemerkt zu werden.
Nur an einer Stelle nimmt Uwe Wittstock, der sonst so ruhig und gelassen schreibt (in dieser Hinsicht also gerade kein Schüler Reich-Ranickis ist), einen höchst missbilligenden Ton an, und es ist gerade diese Stelle, an der man nicht nur über den Beschriebenen etwas erfährt, sondern auch über den Beschreiber. Für die Biographie hat Wittstock zahlreiche Gespräche mit Personen geführt, die Reich-Ranickis Weg gekreuzt haben, unter anderen mit Thomas Gottschalk als dem Moderator des eigentlich erst durch Reich-Ranicki berüchtigt gewordenen Deutschen Fernsehpreises, mit Eva Demski, Ulla Hahn, Walter Jens, Petra Roth, Peter Rühmkorf, Rachel Salamander, Frank Schirrmacher, Dieter E. Zimmer und Martin Walser. Die Mordphantasie, als die Walsers Roman Tod eines Kritikers wahrgenommen wurde, war der vorläufig letzte Punkt in einer langen Reihe von Entgleisungen, die Walser sich geleistet hat; natürlich war Reich-Ranicki von ihr tief getroffen. Es ist fürwahr „haarsträubend“ (S. 305), dass die Öffentlichkeit den sich ohnehin schon permanent beleidigt fühlenden Walser nicht für alle Zeiten unmöglich gemacht hat nach seinem Bescheid: „Jeder Autor, den er so behandelt, könnte zu ihm sagen: ‚Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude‘“ (S. 305). Uwe Wittstock hat nach Reich-Ranickis Tod noch einmal mit Martin Walser über dessen Verhältnis zu Reich-Ranicki gesprochen und ist frappiert vom Starrsinn dieses Herrn und von seiner expliziten Weigerung, dazulernen zu wollen: „Von einer Bereitschaft, sein Verhältnis zum alten Kontrahenten zu überdenken, nachdem er von ihm inzwischen weder etwas zu befürchten noch etwas zu erhoffen hat, war nichts zu spüren. Walser zeigte sich vielmehr beherrscht vom Geist der Abrechnung und der Revanche“ (S. 315).
Uwe Wittstock selbst hat im Zusammenhang mit einer in dieser Biographie paraphrasierten Äußerung von Günter Grass, unmittelbar nachdem ein Leser ihn auf einen Lapsus aufmerksam gemacht hatte, in seinem Blog „Die Büchersäufer“ eine lesenswerte Korrektur zu einer Detailfrage angebracht. Dem Verhältnis Reich-Ranickis zu Günter Grass widmet er ein eigenes kurzes Kapitel, ebenso wie dem Verhältnis zu Heinrich Böll, Fritz J. Raddatz, Joachim Fest, Peter Rühmkorf und Walter Jens. Anrührend beschreibt Wittstock am Ende des Buches, wie Reich-Ranicki in seinen letzten Lebensmonaten sich wieder mehr und mehr der Musik zuwandte. Und ganz nebenbei fördert diese mit zahlreichen Illustrationen versehene Biographie auch noch einige Perlen zutage wie die Erinnerung daran, dass Reich-Ranicki in den 60er Jahren zusammen mit Hans Mayer die Rundfunksendung Das literarische Kaffeehaus moderierte, die gelegentlich parallel vom Fernsehen übertragen wurde (S. 169). Erfreulicherweise ist eine ganze Folge auf Youtube abrufbar .
Joseph Wälzholz , 23.10.2015
joseph.waelzholz@gmail.com