Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Frankfurt/Main: Schöffling, 2016. 400 S. ISBN: 978-3-89561-484-2. Preis [A]: 25,70 €.

 

Berliner Journalisten sind auch nur Menschen, die nach Redaktionsschluss etwas Angesagtes erleben wollen. Heute gehen sie dafür ins Berghain und hören Bands, die singen: „Ich bin ein Produkt, ich will dass ihr mich schluckt“. Ende der 1920er Jahre wurde aus einem Schlagersänger namens Käsebier aus dem Nichts heraus ein angesagtes Produkt.

Käsebier sieht dabei weder sonderlich aus („blond, dick, quibblig“), noch kann er entsprechend singen. Aber er begeistert die Mietskasernen-Berliner mit seinem Hit „Wie kann er nur schlafen durch die dünne Wand“ und löst eine medien- und kulturindustrielle Konjunktur aus, die wir heute Hype nennen.

 

Der Plot ist fiktiv, aber realistisch

Nach dem Motto „n eulich ein Bekannter“, „guter Chansonsänger“, „müsste man mal hin“, kommt ein Journalist der Berliner Rundschau zufällig mit Käsebier in Kontakt. Käsebier wird eines Tages der Aufhänger eines Artikels – wiederum durch Zufall, weil eine Glosse fehlt. Ein anderer (mit symbolischem Kapital sehr üppig ausgestatteter)  Publizist kopiert die Geschichte und gilt fortan als Käsebier-Entdecker. Weil in der Folge immer mehr Journalisten mit Käsebier-Aktien handeln, entsteht eine Konjunktur, die am Ende keine medialen und Merchandising-Grenzen mehr kennt. Sogar ein eigenes Käsebier-Theater am Kudamm soll jetzt gebaut werden.

Was den erstmals 1931 (bei Rowohlt) verlegten Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm von Gabriele Tergit zu einem leuchtenden Werk aus der späten Weimarer Republik adelt, ist das realistisch ausgebreitete Paradoxon seines Plots: auf der einen Seite regiert Beliebigkeit, aus der heraus Medienhypes entstehen, auf der anderen Seite entsteht eine Hartnäckigkeit, ja regelrecht eine Aufmerksamkeitsindustrie, die den Hype genau solange bewirtschaftet, bis die so genannte Luft raus ist.

An literaturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit fehlte es der 1894 geborenen Gabriele Tergit, die als Jüdin 1933 ins Exil musste und 1982 in London als PEN-Sekretärin starb, in den letzten Jahren nicht. Mit den Arbeiten von Juliane Sucker und Hans Wagener liegen sogar neueste monografische Studien zu Tergit vor, die auch die Entstehung und Rezeption des Käsebier -Romans gründlich rekapitulieren. [1]

 

Die Genrefrage

Zeitgenossen haben das Buch gern als Schlüsselroman auf Erich Carow und den Mosse-Konzern gelesen – was es de facto nicht ist, auch wenn das Berliner Tageblatt in Teilen eine Folie für die fiktive Berliner Rundschau abgibt und Mosse tatsächlich einmal ein Kabarett der Komiker, also eine Art Pendant zum Käsebier-Theater im Roman plante. Käsebier stiftet zwar den Buchtitel, aber er ist durchaus nicht die Hauptfigur des Romans. Vielmehr stellt Tergit ihren Titelhelden auf 400 Seiten konsequent als Objekt von Begehrlichkeiten dar; Protagonisten sind die Redakteure und anderen Profiteure des Hypes.

Vom Sujet her kann man Tergits Mediensatire in die Ahnenreihe des Journalistenromans stellen, die mit französischen Wurzeln wie Balzacs Verlorenen Illusionen (1843) und Guy de Maupassants Bel Ami (1885) beginnt und über Helmut Dietls TV-Figur „Baby Schimmerlos“ (in Kir Royal , 1986) bis in die Gegenwart von Hellmuth Karaseks Das Magazin (1998), Alexander Osangs Die Nachrichten (2000) oder Andreas Bernards Vorn (2010) reicht. Und wenn Umberto Ecos letzter Roman Nullnummer (2015) der Nachrichtensemiotik galt, dann ging es ihm um Gesetzmäßigkeiten, die Tergit schon 1931 verhandelte, als sie mit Käsebier die Geschichte eines Berliner Ruhms verfasste.

Im Genre der Mediensatire hebt sich Gabriele Tergit übrigens positiv von ihrem Berliner Zeitgenossen Stefan Großmann (1875 bis 1935) ab. Im Vergleich zu dessen kolportagehaft geratenen oder aber unfertig gebliebenen Romanen Chefredakteur Roth führt Krieg (1928) und [2]

 

Gender, Zeitgeist und Berlin

Käsebier kombiniert Gender-, Zeitgeist- und Berlin-Aspekte, die das Buch als ein Werk der „Neuen Sachlichkeit“ markieren – wenngleich es bislang noch nicht auf gleicher Stufe mit Erich Kästners Fabian , Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? oder Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen kanonisiert scheint.

Mit Blick auf die Frauenemanzipation in der Weimarer Republik enthält der Käsebier -Roman bezeichnende Dialoge von Akademikerinnen, die darüber räsonnieren, wie schnell ihre Errungenschaft der Bildungsgleichheit selbstverständlich geworden sei: „Als wir auf die Universität kamen, war es eine große Seligkeit und wir hatten Ehrgeiz und wollten was leisten und hatten unseren Stolz. Und was ist kaum fünfzehn Jahre später? Das Girl ist gekommen […], und der Kopf ist nur noch zur Frisur da.“ (S. 100) Beim „Girl“ könnte Gabriele Tergit, was ihre Branche angeht, durchaus an die elf Jahre jüngere Ruth Landshoff-Yorck gedacht haben – eine Kollegin, die mit deutlichem Hang zur Pose unterwegs war.

Tergits Engführung von Aufmerksamkeitsökonomie und Bauspekulation fängt den Anfang vom Ende der Weimarer Republik ein, als die wilden Zwanziger von der Weltwirtschaftskrise und vom Nazi-Morgengrauen eingeholt werden. Die Figur des Zwangsversteigerers wird dabei ebenso zur Karikatur wie der „Konjunkteur“ (S. 280) – jener Typus Mediensanierer, der als „Rationalisierungsdiktator“ (S. 285) Krisengewinner ist und gestandene Redakteure vor Honorarkürzungen und Entlassungen wissen lässt: „Jedes Jahr verlassen 200.000 Abiturienten die höheren Schulen, die für 10 Pfennig die Zeile schreiben.“ (S. 322)

Der Zynismus der Branche, ihre Zweiklassengesellschaft mit Spesenrittertum einerseits und „Galeerensklaven“-Schreibprekariat andererseits sowie das Reform-Mantra erinnern dabei nicht zufällig an heute: „Wir müssen das Blatt umorganisieren“ (S. 148).

Als Schauplatz des Romans ist Berlin in seiner immer noch jungen Metropolenhaftigkeit sehr präsent: Schon die Titelhandlung des Buches („erobert den Kurfürstendamm“) rekurriert auf die Topografie der Vergnügungskultur, die den angesagten Berliner Westen („Berlin W.“) seit Fritz Mauthner [3] und Edmund Edel als Chiffre kennt: „Wenn Sie ein Theater am Kurfürstendamm haben, sind Sie ein gemachter Mann“, heißt es bei Tergit (S. 224).

Das „Konfektionsviertel“ wird erzählerisch straßengenau vom Zeitungsviertel unterschieden; Taxifahrern sollte man ohne „Pharus-Plan“ nicht über den Weg trauen (S. 177), und köstlich geraten ist auch die Szene über die Schwimmer- und Nichtschwimmerzone im Romanischen Café (S. 74). Kurzum: Gabriele Tergit beherrscht die Schilderung „feiner Unterschiede“.

 

Mehr Tergit wagen

Der Käsebier -Roman wird nach 1931, 1977, 1988 und 2004 nun schon zum fünften Mal neu verlegt. [4] Das könnte den Verdacht wecken, Käsebier werde wie Sauerbier angeboten. Plausibler scheint die These, dass uns die überhitzte Spätphase der Weimarer Republik in der Modernität ihres Medienbetriebs und der Dynamik der Marketingmethoden anscheinend sehr nahe steht: „Der Erfolg ist eine Sache der Suggestion und nicht der Leistung.“ (S. 28)

Die Erkenntnis, dass ein hochprofessioneller Medien- und Amüsierbetrieb (fast) alles möglich macht, erscheint heute zwar vergleichsweise banal. Doch 1931 war Deutschland noch keine Gesellschaft, die das Institut der Medienkritik (von Publizistik-Lehrstühlen bis hin zu vielen Selbstberufenen in den Sozialen Netzwerken) internalisiert hatte: „Zeitungen werden so wenig kritisiert wie seidene Strümpfe“, heißt es in Tergits Roman (S. 188). Auch und nicht zuletzt mit dieser selbstreflexiven Zeitdiagnose ist er gelungen.

Stilistisch merkt man Tergit, insbesondere in den Dialogpassagen, die Herkunft aus der feuilletonistisch funkelnden Gerichtsreportage an. Leider ist keine ihrer diesbezüglichen Sammlungen mehr lieferbar. Insofern sollte man die Autorin auch als Gerichtsreporterin und Feuilletonistin wiederentdeckbar machen. Denn in diesem Metier hatte Tergit zu ihrer Zeit ihre eigentliche Fan-Gemeinde.

 

Marc Reichwein , 16.05.2016

 

Anmerkungen:

[1] Den Name Käsebier will Tergit dem Telefonbuch entnommen, also per Zufall generiert haben, ohne zu wissen, dass ein Andreas Käsebier zu Zeiten Friedrichs des Großen ein berühmter Verbrecher gewesen war, vgl. Wagener: Gabriele Tergit. Gestohlene Jahre. Göttingen: V&R Unipress, 2013,  S. 40. Übrigens ist unklar, ob der historische Käsebier – wie bei Wagener behauptet – „gehängt“ wurde.

[2] Vgl. Wagener: Gabriele Tergit, S. 37 f. und 52 f.

[3] Mauthner wäre mit seinem 1886 erschienenen Roman Quartett (aus der Berlin W.- Trilogie) mit seinem Fokus auf das Eindringen der Tagespresse ins Berliner Stadtbild ein interessanter Kandidat für einen Vergleich mit Tergit. Der Medienkomplex der Massenpresse, der bei Käsebier schon voll funktioniert, bildet sich in Quartett gerade erst aus.

[4] Im Nachwort zur aktuellen Ausgabe bei Schöffling würdigt Nicole Henneberg auch Jens Brüning .