Auf der Wikipedia-Seite zu Fridolin Schley heißt es, die FAZ lobe Kataloge der Wahrheit als „gutes Buch [1] , tatsächlich steht in der am 04. Dezember 2012 erschienenen Rezension: „Für Leser, die W. G. Sebald nicht mögen, hat Fridolin Schley ein gutes Buch geschrieben.“ [2] Ob dies nun tatsächlich als Kompliment zu werten ist, sei dahingestellt, Jakob Hessing, der Verfasser der Rezension, outet sich in jedem Fall als von Sebalds Werk tief beeindruckt. Der Satz ist nicht eine beiläufige Feststellung, sondern er eröffnet die Rezension und das nicht zufällig, denn schon in der Einleitung wird entgegen Schleys Beteuerungen, „keinen Denkmalsturz“ (S. 10) zu intendieren, schnell klar, dass hier eine Entglorifizierung stattfinden soll und keine der besonders feinen Art. Was Schley Sebald vorwirft, zelebriert er auf ungute Weise selbst. Und, eine weitere Parallele, beide, Schley wie Sebald, versuchten sich sowohl als Wissenschaftler als auch als Schriftsteller.
Schon in der Einleitung mit dem Titel „Der verklärte Aufklärer“ fährt der Autor schwere Geschütze auf: So unterstellt er dem Kritiker Sebald: „gezielte Provokationen [...] flankieren gewinnbringend seine Veröffentlichungen“ (S. 8). Die „Marke Sebald“ sei zum „Exportschlager des Holocaust“ (S. 10) geworden, eine wenn auch drastisch formulierte, so doch nicht unrichtige Bemerkung, Schley lastet dies jedoch Sebald selbst an: „er schreibt sich ein Trauma auf den Leib, das seine Autorschaft stützt“ (S. 16). Die provokante These der Dissertation: Der Kritiker und Wissenschaftler Sebald greife Autoren wie Jurek Becker an, um sich selbst und seine eigenen literarischen Texte als positives Gegenbeispiel zu stilisieren. Selbst für jemanden, der Sebald durchaus kritisch gegenübersteht, erscheinen manche Vorwürfe überzogen. Dies ist möglicherweise ein sprachliches Problem (wir wollen dem Autor hier nicht folgen und gleich ein habituelles daraus folgern), aber es stehen Schleys Formulierungen den, wie nicht erst dieses Buch gezeigt hat, zum Teil tatsächlich äußerst untergriffigen Polemiken Sebalds gegen Autoren wie Sternheim, Döblin, Stifter und eben Jurek Becker um nichts nach.
Es scheint fast, als gelte die seinerseits nicht unpolemisch vorgetragene Kritik dem Schriftsteller, also der Person Sebald, der ohne die moralische Legitimierung des Opfertums zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen des Holocaust gerechnet wird, und weniger der Autorinstanz oder gar den Texten. Vom Sebald vorgeworfenen Biographismus ist auch Schley nicht frei, im Gegenteil. Dass Sebald „zu einer teils grotesk verzerrten Erlöserfigur“ (S. 18) verkommen sei, lässt sich schwerlich seinen Texten anlasten.
Schley macht sich mit seinem durchgängig vorwurfsvollen Sprachduktus selbst angreifbar. Umso entscheidender also die Frage, wie er seine provokant vorgetragenen Thesen im Analyseteil untermauert. Es sei auch nicht verschwiegen, dass die deutliche Stellungnahme und der Mut zur Wertung in einem wissenschaftlichen Text stellenweise sehr erfrischend wirken, auch wenn Schley insgesamt übers Ziel hinausschießt. Die Entscheidung, die Thematik mit Bourdieus Feldtheorie zu bearbeiten, liegt nahe und erweist sich als durchaus produktiv. Sebald verknüpfe die benachbarten Felder der Literatur und der Kritik bzw. Literaturwissenschaft über die Positionierung seiner Person miteinander, woraus sich ein Wettbewerbsvorteil in ersterem ergebe. Der Einsatz seines akademischer Habitus und seiner Biografie seien eine bewusste Strategie, um seine Autorschaft zu legitimieren, eine Legitimation, die im Bereich der Holocaustliteratur unumgänglich sei. Diese These ist vor allem in Bezug auf Sebalds Kritik an Jurek Becker, die er beinahe zeitgleich mit dem Erscheinen der Ausgewanderten 1992 vorbringt, leicht zu untermauern, was Schley umfangreich und versiert macht. Und doch bleibt die Ineinssetzung von Person, Kritiker, Schriftsteller und Autorinstanz problematisch, gerade in Abgrenzung zu Sebald, der, wie Schley penibel nachweist, diese Unterscheidung in seiner eigenen kritischen und wissenschaftlichen Tätigkeit in selbstinszenatorischer Absicht oftmals aufhob.
Das Kapitel über Methodik und Feldkoordination und hier vor allem die Erläuterung des theoretischen Instrumentariums liest sich als brauchbare und kompakte Einführung in Bourdieus Feld- und Habitustheorie. Schleys größte Leistung liegt in der kritischen und ungemein detaillierten Rezeption der wissenschaftlichen und literaturkritischen Texte Sebalds. Störend bleibt also in erster Linie der Grundton von Schleys Dissertation. Als Leser sehnt man sich mitunter nach einer distanzierteren Haltung zum Forschungsgegenstand. Die Empörung des Autors ist beständig spürbar, womit Sebalds wissenschaftlicher und essayistischer Habitus in einem Atemzug kritisiert und gleichzeitig prolongiert wird. Hier geht es nicht um Literatur, hier geht es um Moral. Mehr als problematisch ist das „Ineinanderblenden von Autor, Erzähler und Figuren“ (S. 448), das Schley bei Sebald ortet und seinerseits einsetzt, um seine Argumentation zu stützen. Sebald setze sich über seine Figurenbehandlung mit den Protagonisten seiner Romane in Beziehung und schreibe sich durch die „autorkonnotierten Erzähler“ (S. 45) und Figuren in den Opferdiskurs ein. Das Feld der Holocaustliteratur ist intern strukturiert von den Leitlinien Authentizität und Moral. Wie kann man über den Holocaust schreiben? Und vor allem, wer hat das Recht, darüber zu schreiben? Der Nachweis der autobiographischen Nähe Sebalds zu seinen Figuren, den Schley hier erbringen möchte, wird so zur ethischen Frage. Sebald, so der Vorwurf, eigne sich über verschiedene Strategien Authentizität an (vgl. S. 90). Dass Schley ausführlich auf gefälschte Holocausterinnerungen wie jene von Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker [3] eingeht und damit eine Analogie zu Sebalds Authentizitätsaneignung wo nicht offen behauptet, so doch impliziert, ist befremdlich. Trotz versuchter Abschwächungen wird der „aus der Täterschaft Nachgeborene“ (S. 110) über seine literarischen Texte in die Nähe des Betrügers gerückt, seine Positionierung im Feld der Holocaustliteratur für unrechtmäßig erklärt.
Die Kritik an Sebalds Polemiken ist weder neu noch sonderlich originell, wenngleich diese auch noch nie so ausführlich seziert wurden. Insgesamt wird aber ein stark verkürztes Bild von W. G. Sebald gezeichnet, das er sich so nicht verdient hat. Gerade eine so einseitig autobiographische Lesart seiner literarischen Texte wird narrativ ad absurdum geführt. Es herrscht eine strukturelle Polyphonie; dass der Autor leicht als eine Stimme in diesem vielstimmigen Chor identifiziert werden kann. Anders als in seinen kritischen Texten wird Wahrheitsansprüchen in der fiktionalen Prosa ein großes Misstrauen entgegengebracht. Das literarische Schaffen des Autors Sebalds gegen sein akademisches in Stellung zu bringen, kann daher nicht gelingen. Schley stellt keine Thesen auf, er macht Vorwürfe, und das 500 Seiten lang. Schon nach den ersten Kapiteln wird man der ständigen Spitzen gegen den Forschungsgegenstand überdrüssig. Sebald profiliert sich, Sebald ist Gegenstand einer hysterischen Götteranbetung (S. 9), Sebald nimmt andere Autoren aufs Korn, Sebald gebart sich als Außenseiter, Sebald hat eine „latente pathogene Disposition“ (S. 464), „Sebald wird romantisch ums Herz“, Sebald bedient sich einer „messianischen Auratisierung“ (S. 450). Das Interesse des eingangs erwähnten Feuilletons ergibt sich aus dem großen Namen Sebalds. Schley sieht in Sebalds kritischen Äußerungen zu kanonisierten Autoren wohl nicht ganz zu Unrecht Profilierungsversuche. Es wäre aber genug, wenn man hinter dem so intensiv geführten Angriff auf diesen großen Namen den Versuch der Mehrung des eigenen symbolischen Kapitals vermuten würde. Weniger Polemik wäre auch hier mehr gewesen.
Veronika Schuchter, 01.05.2023
[1] O. A.: Fridolin Schley. In: Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Fridolin_Schley. Abgerufen am 28.01.2013.
[2] Jacob Hessing: Feldzüge eines Eroberers. In: FAZ v. 04.12.2012, S. 30.
[3] Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948. Jüdischer Verlag: Frankfurt a. M. 1995.