Dass Frauen zwar das Gros der LeserInnen belletristischer Literatur bilden, Männer aber im Literaturbetrieb ihren Kolleginnen, sowohl was symbolisches als auch ökonomisches Kapital angeht, immer noch weit voraus sind, ist kein Geheimnis. Für viele Bereiche fehlt es aber an fundierten Analysen und an Datenmaterial, um aufzuzeigen, ob und wie sich diese Hegemonie äußert und fortschreibt. Der im Peter Lang Verlag erschienene Sammelband Fiktionen und Realitäten. Schriftstellerinnen im deutschsprachigen Literaturbetrieb , herausgegeben von Brigitte E. Jirku und Marion Schulz, versucht, dem diffusen Wissen um Ungleichheiten mit empirisch ermitteltem Datenmaterial und detaillierten Einzelstudien zu begegnen. Dabei geht es mitnichten nur um Schriftstellerinnen, wie der Titel bescheiden suggeriert. Vielmehr präsentiert der aus der im Juni 2012 in Bremen veranstalteten, gleichlautenden Tagung hervorgegangene Band eine umfangreiche und sehr differenzierte Zusammenschau der Kategorie Gender im Literaturbetrieb.
Ausgesprochen spannend ist Günter Häntzschels literatursoziologische Untersuchung Zur Präsenz weiblicher Autoren auf dem Buchmarkt der 1950er-Jahre . Für drei Stichjahre zwischen 1950 und 1960 wurde der Anteil von Autorinnen an der Gesamtproduktion und aufgeteilt auf verschiedene Subkategorien untersucht. Zudem legt Häntzschel eine Statistik der meistrezensierten AutorInnen in literarischen Zeitschriften vor. Stellen Frauen in den drei Stichjahren im Schnitt immerhin 21,5% der Texte, so steht dem nur ein Anteil von 13% bei den Rezensionen gegenüber.
Schade ist, dass der Vortrag von Nadine von Holt, die über zwei von ihr durchgeführte empirische Untersuchungen über den Einfluss geschlechtsspezifischer Stereotype auf die literaturkritische Wertung referierte, keinen Eingang in den Band gefunden hat – so erscheint der Bereich der Literaturkritik etwas unterrepräsentiert. Dafür werden Bereiche thematisiert, die einem nicht sofort in den Sinn kommen, wie das Bibliothekswesen oder die Übersetzung von Belletristik.
Slávka Rude-Porubská etwa zeigt in ihrem Beitrag über Übersetzerinnen und Übersetzerförderungen, wie differenziert mit Datenmaterial umgegangen werden muss, um repräsentative und nicht simplifizierende Aussagen treffen zu können. Die Profession des Übersetzens ist ohnehin nicht lorbeergekrönt, nur in Ausnahmefällen schaffen es ÜbersetzerInnen aufs Cover, etwa bei Neuübersetzungen von kanonisierten Werken. Üblicherweise muss eine Erwähnung im Impressum reichen und Autorschaft gesteht man ihnen ohnehin nicht zu, vielmehr wird „ihre Leistung als untergeordnete Hilfstätigkeit eingestuft“. [1] Dem soll mit Übersetzerpreisen und verschiedenen Förderungen entgegen gewirkt werden. Während Frauen in der allgemeinen Kulturförderung deutlich benachteiligt sind, zeigt sich im Bereich von Übersetzungen zunächst ein anderes Bild: Rude-Porubskás statistische Auswertungen zeigen, dass Frauen zwar prozentuell mehr Preise zugesprochen bekommen, was auch dem höheren Anteil von Frauen in der Branche geschuldet ist, Männer aber bei den hochdotierten Übersetzerpreisen vorne liegen. Berücksichtig man alle entscheidenden Faktoren, bildet die Übersetzerförderung das Geschlechterverhältnis der Profession aber ziemlich genau ab, so das Fazit der Autorin. Allerdings bleiben Frauen dennoch unsichtbarer, etwa was die Benennung von ÜbersetzerInnenpreise angeht – von 37 Preisen fungieren lediglich bei zweien Frauen als Namensgeberinnen.
Einen medienwissenschaftlichen Beitrag steuert Doris Moser bei, die die Konstruktion von Autorinnen-Images in journalistischen Medien anhand der Beispiele von der Bachmann, der Aichinger und der Mayröcker untersucht. Berücksichtigt werden nicht nur Zeitungsartikel, sondern auch eine Filmdokumentation von Peter Hamm über Ingeborg Bachmann, die nicht die Schriftstellerin selbst in den Mittelpunkt stellt, sondern Männer, die über die Bachmann sprechen. Die Aichinger wird medial als Frau Eich, Hausfrau und Mutter inszeniert, Mayröckers Werk verschwindet hinter Homestories und ihrem Image als Dichterin, das in den analysierten Medien über ihr Aussehen und nicht ihre Texte gebildet wird.
Der Band versammelt zudem Beiträge zu so unterschiedlichen Autorinnen wie Marlene Streeruwitz, Elfriede Gerstl und Annemarie Schwarzenbach. Sehr lesenswert ist Walter Fähnders‘ Verortung der lange Zeit vergessenen Ruth Landshoff-Yorck im deutschen Literaturbetrieb oder auch Claudia Gehrkes Beitrag über Yoko Tawada.
Nicht alle Aufsätze können hier erwähnt werden, die Qualität ist aber durchwegs hoch und die Herangehensweisen sind innovativ, Gemeinplätze werden größtenteils vermieden. Fiktionen und Realitäten überzeugt durch die Mischung: Der Band füllt Leerstellen der Literaturgeschichte, betreibt Kanonkritik, erinnert an vergessene Autorinnen und rückt andere in ein neues Licht, zeigt, welchen Bedingungen Frauen im Literaturbetrieb ausgesetzt sind, und das alles unaufgeregt und mit konkreten Beispielen und Daten belegbar. Insofern ist die Lektüre nicht nur aus feministischer und literaturhistorischer Perspektive interessant, sondern hat Vorbildcharakter für eine empirische Literaturwissenschaft, deren Wert gerade für ein so sensibles und emotionales Gebiet wie die Genderforschung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Veronika Schuchter, 01.10.2014
Anmerkung:
[1] Slávka Rude-Porubská: Übersetzerinnen im Literaturbetrieb und der Übersetzerförderung. In: Brigitte E. Jirku u. Marion Schulz (Hrsg.): Fiktionen und Realitäten. Schriftstellerinnen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Frankfurt/Main: Peter Lang 2013, S. 261-279, hier S. 262.