Fleck, Robert: Deleuze schickt mich in die Bibliothek. Über Bücher und Menschen. Hamburg: Philo Fine Arts, 2010. 220 S. (Fundus, Bd. 190). ISBN 978-3-86572-586-8. Preis [A]: € 14,40

Das kleine, elegante Bändchen Deleuze schickt mich in die Bibliothek von Robert Fleck hat eigentlich nicht besonders viel mit Gilles Deleuze zu tun, außer dass der Großteil der in ihm behandelten Bücher und Menschen, die der Untertitel uns verspricht, entweder wie der Ko-Autor des Anti-Ödipus französischer Abstammung ist, oder zumindest (wie der Autor des besprochenen Bändchens) irgendeinen Frankreichbezug aufweist. Neben der nicht zu vernachlässigenden Tatsache, dass der Name Deleuze mehr symbolisches Kapital mit sich bringt als derjenige Flecks und man dieses auch immer gut in ökonomisches verwandeln kann, darf außerdem als Grund für die Erwähnung des Starphilosophen im Titel gelten, dass Fleck seine Pariser Vorlesungen besucht hat.

Der bereits erwähnte Untertitel trifft die Sache schon etwas besser, auch wenn es, wo es um Bücher geht, meist auch um Menschen geht. Mit letzteren sind hier jene gemeint, die die ersteren geschrieben haben. Neben dem Frankreichbezug wäre dann als vierte Konstante die Revolution zu nennen, besonders jene von 1848, über die Fleck 140 Jahre später in Innsbruck promoviert hat. Letzter biografisch-inhaltlicher Fixpunkt: die literarische Bildbeschreibung, die den Autor als ausgewiesenen Kunstmenschen (derzeit tätig als Intendant der Bundeskunsthalle in Bonn) besonders interessiert.

Aber der Reihe nach. Eigentlich hat nämlich nicht Deleuze, sondern Otto Schulmeister den Autor in die Bibliothek geschickt. Die vierzig Aufsätze wurden nämlich mehrheitlich für die Wiener Tageszeitung Die Presse geschrieben und zuerst unter dem etwas verkrampften Titel Faszination der Lektüre und später unter dem etwas treffenderen (aber auch irgendwie abwertenden) Alte Bücher neu gelesen abgedruckt. Wahrscheinlich aber war dem Herausgeber der Fundus -Buchreihe, Jan-Frederik Bandel, der Titel Schulmeister schickt mich ins Antiquariat einfach zu sperrig.

Den Anfang macht das Wort. Nämlich das des Dichters. Fleck eröffnet seine Presse artikel standardmäßig mit einem Zitat, das er im Anschluss mehr essayistisch-poetisch als wissenschaftlich-präzise interpretiert (dennoch spricht er im Nachwort von seinen „übergenauen Formulierungen“) und dabei in einen weiteren Kontext einbettet. Dass dieser meist ein biografischer ist, ändert nichts daran, dass die Lektüre spannend bleibt. An die Stelle der immer gleichen Lebensbeschreibungen und Anekdoten setzt Fleck nämlich das Verhältnis des Autors zur Revolution. Die Verortung des Menschen in der Geschichte erfolgt also nicht aus sturem Beharren auf naiv-biografistischen Lesarten, sondern aus Leidenschaft für die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Umwälzungen und insbesondere mit der Frage, wie sie sich im Schreiben niederschlagen, und zwar weit über die bloße Erwähnung hinaus.

Das Schreiben wird so als Prozess der Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen begreifbar. Dabei ist es egal, ob es sich um Büchner und Benjamin handelt, deren Verflechtung in die politischen Geschehnisse ihrer Zeit offen daliegt, oder ob Nestroy, Stifter, Grillparzer, Fontane die Objekte von Flecks Überlegungen darstellen. So wählt der Autor zwar sein Material stets aus der Schatzkammer des Bildungsbürgers, zeigt aber das dort Aufgefundene als ein den politischen Wirren Abgerungenes, das nur durch den Blick seiner Exegeten zum kanonisch erstarrten Selbstprofilierungs- und Schulunterrichtsstoff werden konnte. Sogar Jules Verne verwandelt sich unter den Augen des frankophilen Revolutionsphilosophen Fleck zum subversiven Wissensvermittler gegen das Pädagogikmonopol des totalitären Staats.

Das Festhalten an diesem Teilaspekt hat eine Annäherung an die Literaturwissenschaft (und damit ein Abrücken von der wertenden Literaturkritik)  zur Folge, auch wenn Fleck auf akademische Akkuratesse verzichtet und sich lieber eines zum Teil verschnörkelten, im Ganzen aber meist angenehm sanft fließenden Stils bedient, der bewusst zwischen französischer und deutscher Schreibtradition zu vermitteln sucht und diese auch immer wieder zum Thema macht, wenn er über Benjamins Parisaufenthalte, Büchners Frankreichbild oder die Kollision des imaginären Paris mit dem realen in Rilkes Malte Laurids Brigge berichtet.

Rilke, Proust, Zola, Hugo, Nestroy, Grillparzer, Stifter, Sartre, Melville, ... – wäre da nicht der rote Faden des Widerständigen, könnte man die Sammlung fast für etwas bieder halten. Und anbiedernd: Dann nämlich, wenn Fleck (wohl zurecht) immer wieder  auf die glanzvolle Tradition der ( Neuen Freien ) Presse zu sprechen kommt; wenn dann doch wieder ein Anekdötchen über Célines Wien-Begeisterung einfließen darf, ...  Vielleicht muss man das, wenn man für die Presse schreibt, wenngleich diese vor zwanzig Jahren zwar auch nicht mehr neu und frei, aber immerhin niveauvoller war als heute. Nach der Gründung des Standard dauerte es jedenfalls nicht lange, bis die Artikelreihe bei der jungen, neuen Konkurrenz unterkam.

Die spannendsten Passagen sind jene, in denen Fleck Bezug nimmt auf das, was er da macht; wenn er die Kritik selbst zum Thema macht. Das passiert zwangsläufig dann, wenn er auf seine zweite große Leidenschaft zu sprechen kommt: die Bildbeschreibung. Dabei geht es abermals um Dissidenten, Aufrührer und Vordenker: Diderot, Baudelaire, Apollinaire, die zum Teil aus Faszination, andernteils aus Zwang ihre Kunsttheorien und Weltanschauungen in ihre Kunstkritiken verpackten. Ergriffen von der Lust am Objekt rutscht Fleck dann zwischendurch sogar ein kritisches Wort heraus; so im Diderot-Aufsatz: „Gewiß, Priessnitz blieb abgeschnitten von jeder breiten Publizität. Doch das lag eher an Österreich.“

Übrigens ließe sich über Flecks Buch auch leicht eine Rezension à la Fleck schreiben, bedenkt man nur die Entstehungszeit der gesammelten Texte. Folgendes Zitat von 1988 würde dann die Einleitung bilden: „Seit einigen Jahren scheint es wieder möglich, die Schriften Honoré de Balzacs als Beschreibung unserer Gegenwart zu lesen. Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Frankreich erreichten seit der Anwendung des Neoliberalismus um 1980 eine wirtschaftliche Dynamik, wie Balzac sie erstmals nach 1830 zum Gegenstand der Literatur erhob, mit ähnlichen Begleiterscheinungen, wie er sie beschreibt.“

Gerhard Scholz , 27.03.2011

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