Wer von der Weltbühne spricht, der hat vermutlich in erster Linie die Zeitschrift Siegfried Jacobsohns, Kurt Tucholskys und Carl von Ossietzkys im Blick, in zweiter allenfalls noch deren Nachfolgeorgan, die Neue Weltbühne , die von Hermann Budzislawski im Exil herausgegeben worden ist. Vielfach vergessen wird dabei, dass die Geschichte dieser Zeitschrift keineswegs mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der damit verbundenen Exil-Situation abbricht, sondern dass Die Weltbühne 1946 in Ost-Berlin wiedergegründet worden ist, um zu einem festen Bestandteil der ostdeutschen Zeitschriftenlandschaft zu werden. Sogar das Ende der DDR hat sie, wenn auch nur kurz, überdauert: Erst im Juli 1993 ist das Blatt eingestellt worden, und nur Streitigkeiten um die Titelrechte haben letztendlich verhindert, dass es zu einer Neugründung unter altem Namen gekommen ist. Mit Ossietzky und Das Blättchen erscheinen heute gleich zwei Nachfolgeorgane unter abweichender Bezeichnung, die sich gleichwohl in der Tradition der historischen Weltbühne sehen.
Genau betrachtet, ist Die Weltbühne sogar die längste Zeit ihres Bestehens in der Nachkriegszeit erschienen: ganze 47 Jahre lang. Über 36 Jahre hinweg, von 1957 bis 1993, war Lothar Lang als ‚fester Freier‘ für die Kunstkritik des Blattes zuständig, dessen Profil er wesentlich mitgeprägt hat. Es ist sicher auch Langs publizistischen Qualitäten zuzuschreiben, dass Die Weltbühne in der DDR trotz Anbindung an die Abteilung Kunst und Propaganda beim ZK der SED weiterhin als eine „Spielwiese der Intellektuellen“ gelten konnte.
Der 1928 geborene Lang hatte stets eine besondere Vorliebe für die breit gefächerten Wechselbeziehungen von Kunst und Literatur – und für das Medium, in dem sich beide auf unterschiedlichste Weise begegnen: das Buch. Neben seiner im engeren Sinne fachbezogenen Profession als studierter Kunsthistoriker und Dozent in der Lehrerbildung zählte er denn auch neben Werner Klemke (1917–1994) und Horst Kunze (1909–2000) zu den prägenden Köpfen der Bibliophilie in der DDR und darüber hinaus bis zu seinem Tod 2013 im wiedervereinigten Deutschland. Nicht nur als Herausgeber der Zeitschrift Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie , für die er von 1964 bis 1998 verantwortlich zeichnete, sondern auch durch die von ihm veranstalteten Graphik-Editionen im Reclam-Verlag, vor allem aber mit seinen Standardwerken zur Geschichte der Buchillustration – Expressionismus und Buchkunst (1975, 2 1993), Konstruktivismus und Buchkunst (1990) sowie Impressionismus und Buchkunst (1998) – hat Lang immer wieder die Verbindung von Literatur und bildender Kunst respektive von bildender Kunst und Buch in den Mittelpunkt seiner vielfältigen Tätigkeiten gestellt.
So verwundert es auch nicht, dass in seinem zuerst 1978 erschienen und 1983 bei Reclam nachgedruckten Buch über Malerei und Graphik in der DDR dem international bedeutenden Beitrag ostdeutscher Künstler zur Buchgraphik ein eigener, ausführlicher Exkurs gewidmet ist. Längst vergriffen, ist Langs Gegenwartsgeschichte der DDR-Kunst bis zum Jahr 1977 ihrerseits ein Standardwerk geblieben. [1] Als Produkt eines „über zwei Jahrzehnte währende[n] kunstkritische[n] Engagements“ – wie es im Vorwort heißt –, war das Buch zugleich als eine Art Zwischenbilanz des Publizisten Lothar Lang zu verstehen, die sich zum Teil unmittelbar aus seinen Weltbühne -Beiträgen speisen konnte: Wie etwa der Abschnitt über den Hallenser Maler Albert Ebert zeigt, sind ganze Passagen einzelner Kritiken als wörtliche Übernahmen in die Darstellung eingegangen. Im Vorwort seines Buches legt der Autor zudem seine kunstkritischen Maximen dar, die im Zentrum seines Selbstverständnisses als Schreibender standen. Bereits der Klappentext des Bandes machte die zeitgenössischen Leser in der DDR allerdings darauf aufmerksam, dass es sich bei Lang um einen Kritiker handeln würde, „der sich zu ausgeprägter Subjektivität bekennt“ – was in dieser expliziten Formulierung immerhin indizieren mochte, dass eine solche Haltung keineswegs als selbstverständlich zu betrachten sei, zumal sie nicht unbedingt in friktionslosem Einklang zu bringen war mit der grassierenden (Pseudo-)Objektivität sozialistischer Kunstpolitik und ihrer doktrinären Anbindung an überindividuelle Kategorien wie „Klassenbewusstsein“, „Parteilichkeit“, „Kollektivität“ oder „Erberezeption“ im „wissenschaftlichen“ Marxismus-Leninismus. Langs Selbstverortung als Kunstschriftsteller klingt demgegenüber beinahe wie eine Rechtfertigung aus der Defensive:
„Der Autor ist sich bewußt, daß eine ‚Geschichte der bildenden Kunst der DDR‘ eigentlich nur als Gemeinschaftswerk mehrerer Wissenschaftler entstehen kann. Wenn er dennoch eine Übersicht und Bilanz wagt, dann aus dem Grunde, weil er sie für zwingend notwendig hält. Sein Versuch ist legitimiert durch ein zwei Jahrzehnte währendes kunstkritisches Engagement für die Kunst der DDR. Er schließt freilich eine ausgeprägtere Subjektivität ein, zumal hinsichtlich der Wertschätzung der Künstler, als sie einer Gemeinschaftsarbeit innewohnen würde – der Autor, als Kritiker in Wahrheit und Irrtum verstrickt, hat sich schon immer zu schöpferischer Subjektivität bekannt, die sich aus der Beschäftigung mit einem höchst subjektiven Medium selbst ergibt und ihm gemäß ist. Solch persönliche Sicht, sofern sie von Urteilsvermögen und Kenntnissen abgesichert und von einem reichen Faktenmaterial getragen ist, zeichnet ja auch die besten Monographien zur Kunstentwicklung früherer Dezennien dieses Jahrhunderts aus. Hier also ist durchaus Tradition.“ [2]
Mit welchen Konsequenzen noch einige Jahre zuvor eine solche selbstbewusste Apologie der „persönlichen Sichtweise“ auf die Marschroute des „Bitterfelder Wegs“ (mit seinen diversen Vor- und Nachspielen) zu rechnen hatte, wird aus Langs Tagebuchaufzeichnungen der 1960er Jahre deutlich. Der Kritiker führt darin Buch über die prekäre Existenz einer permanenten Bedrohungslage, unter der sich intelligentes (kunst-)kritisches Schreiben in der DDR zu entfalten hatte. Infolge ständiger Beobachtung durch die Parteigewaltigen wird Kritik zum Drahtseilakt, der geradezu seismographisch auf sich ankündigende Wechsel in der Abfolge von Frost- und Tauwetterperioden zu reagieren versucht: „Es braut sich etwas zusammen gegen mich. Diesmal wird es wohl ernst werden“, heißt es etwa unterm Datum des 4.12.1965, und am Tag darauf:
„Eine halbe Seite des ND [ Neues Deutschland ...] gegen Biermann. Autor: Klaus Höpcke. Mischung aus Wahrheit u. gemeinster Unterstellung. […] Es scheint nun wieder eine harte Frostperiode zu kommen. Diesmal werde auch ich ein Opfer sein. Ich weiß es.“
Die von offizieller Seite erhobenen Vorwürfe, gegen die sich Lang zu rechtfertigen hatte, und die u. a. am 5. Februar 1966 in einem ND -Artikel mit dem Titel Zur Verantwortung des Kunstkritikers. Bemerkungen zu einer Rezension Lothar Langs in der „Weltbühne“ öffentlich formuliert worden waren, richteten sich gegen eine Kunstkritik, die vorgeblich nicht marxistisch, sondern idealistisch ausgerichtet sei und darauf abziele, „eine Kunst durchzusetzen, die der von der Partei [gewünschten] entgegengesetzt ist“. Unter der Doktrin des „Sozialistischen Realismus“ geriet das SED-Mitglied Lang schnell unter Formalismusverdacht: Leser wie bildende Künstler gleichermaßen würden von ihm „auf den Weg des Cézannismus“ (sic!) oder gar „des cézannesken Intimismus“ (nochmals sic!) geführt und damit „von der Partei ab[gezogen]“. Am 7.12.1966 hält Lang im Tagebuch fest:
„Man wirft mir folgendes vor: 1. Urteilt zu wenig begründet; 2. Im Vordergrund stehe die Formanalyse oder fragwürdige kunsthistorische Vergleichswertung u. nicht die ästhetischen Bedürfnisse der Arbeiterklasse u. anderer Erbauer des Soz. Überbetonung des Formalen […]“
Nicht nur die Gegenstände seiner Kunstbetrachtung wurden mithin als ‚formalistisch‘ diskreditiert; auch die Schreibweise des Kritikers selbst erschien in dieser Hinsicht verdächtig: „Unverständlich, fördert abstrakte Kunst!“ lautete die offizielle Gleichung, die Lang Anfang November 1966 im Tagebuch dokumentiert. Schon am 25. Januar 1965 hatte er dort die Aussagen eines Abteilungsleiters im DDR-Kulturministerium festgehalten: „Wenn ich die Artikel von Lothar Lang in der W[elt]b[ühne] lese, brauche ich auch das Lexikon. Hinter der komplizierten Sprache verbirgt sich doch eine Absicht!“ Man gewinne allmählich „den Eindruck, als sollten ihn nicht alle verstehen.“– Langs Fazit ob solcher Differenzen fällt ebenso nüchtern wie bitter aus: „Ein Gespräch kam überhaupt nicht zustande, es gibt keine Verständigung, wir meinen etwas ganz anderes, wenn wir von Kunst sprechen“ (Tagebucheintrag vom 7.12.1966).
Nachzulesen sind diese und weitere Auszüge aus den Tagebüchern nun in einem biographischen Essay über Lothar Langs Tätigkeit als Kunstkritiker, den seine Witwe Elke Lang verfasst und einer Edition gesammelter Kritiken aus der Weltbühne vorangestellt hat, die 2016 im Berliner Quintus-Verlag (einem neu gegründeten Imprint des Verlags für Berlin-Brandenburg) herausgekommen ist. Obschon nur im Rahmen einer Hinführung zum eigentlichen Textbestand des Bandes dargeboten, zählen die Tagebuch-Zitate doch zu den eindrücklichsten Passagen des ganzen Buches überhaupt, zumal sie nicht nur unmittelbaren Einblick in die Produktions- und Entstehungsbedingungen von Langs Besprechungen bieten, sondern damit auch den notwendigen Kontext stiften, der für ein angemessenes Verständnis der nachfolgenden Essays und Rezensionen unumgänglich erscheint.
Die lapidare Formulierung der Herausgeberin allerdings, dass es „offensichtlich“ weder zu einer weiteren öffentlichen Anprangerung Lothar Langs im Neuen Deutschland , noch zu einem Schreibverbot gekommen sei (S. 15) – wie der Autor überhaupt „die ganze DDR-Zeit hindurch der Zensur entgangen“ ist (S. 20) –, will nach der ausführlichen Darlegung der Schwierigkeiten, mit denen sich Lang in seiner Arbeit als Kunstkritiker konfrontiert sehen musste, nicht so recht befriedigen: Reichte es unter den Rahmenbedingungen eines omnipräsenten Überwachungsstaats tatsächlich aus, „sich erst einmal etwas zurückzuhalten, bis sich das Wetter beruhigt habe“ (S. 16), wie die Weltbühnen -Redaktion ihrem kritischen Mitarbeiter nahegelegt haben soll? Zu „kulturpolitischen Auseinandersetzungen“ – noch „1979 musste […] mit harten Bandagen an allerhöchster Stelle gekämpft werden“ (S. 16) – sei es schließlich „immer wieder“ gekommen. Hier bleibt beim Leser der Wunsch nach einer eingehenderen Darstellung offen, zumal Lang selbst später eingestanden hat, durchaus „ kein Oppositioneller gewesen “ zu sein. Seine Autobiographie Ein Leben für die Kunst , die 2009 bei Faber & Faber in Leipzig erschienen ist, hält jedenfalls kaum ausreichende Antworten bereit. Auch wenn Wikipedia zu vermelden weiß , dass „[b]ald nach der politischen Wende […] Langs intensive Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit nachgewiesen“ worden sei, [3] was auf eine keineswegs untypische DDR-Biographie schließen ließe, scheint der individuelle Fall (wie so oft) doch um einiges komplexer zu liegen – und umso mehr wert, kritisch aufgearbeitet zu werden (nicht zuletzt mit Blick auf eine Geschichte der Kritik in Zeiten der Diktatur, die erst noch zu schreiben wäre). [4] Ohne selbst diese andere, heikle Seite der Medaille anzusprechen, fügt Langs Witwe in ihrem Einleitungstext dem öffentlichen Porträt ihres Mannes immerhin einige differenzierende Facetten hinzu, die zum plakativen Bild des „IM Lang“ (Deckname: „Schreiber“) in einem gewissen Kontrast stehen – und insofern natürlich im Interesse der Herausgeberin liegen. Die ganze Geschichte, soviel dürfte klar sein, ist auch hier noch längst nicht erzählt.
Elke Langs Einleitung wird von einer Reihe von Dokumenten flankiert und begleitet: von Photographien zum einen, die einzelne Etappen von Lothar Langs Tätigkeit als Weltbühne -Mitarbeiter im Bild präsentieren und damit einen visuellen Beitrag zur Zeitschriftengeschichte leisten; sowie zum anderen von einer im vollen Wortlaut abgedruckten Laudatio zu Langs 60. Geburtstag, die sein Freund und Verleger Elmar Faber am 20. März 1988 auf Schloss Burgk gehalten hat, und die auf ihre Weise einen werkbiographischen Querschnitt durch die publizistischen Tätigkeiten des Autors, Kunstvermittlers und Büchermachers Lang bietet. Kritische Distanz zum porträtierten Gegenstand ist freilich auch von diesem Text, der primär als zeithistorisches Zeugnis gelesen werden sollte, weder intendiert noch zu erwarten gewesen.
Die Textauswahl selbst umfasst 75 Weltbühne -Beiträge aus der gesamten Zeit von Langs Mitarbeit am Blatt – bis hin zu seinem letzten Text, der für Nummer 15/1993 vorgesehen und auf dem Titelblatt des Heftes sogar noch annonciert worden war, aufgrund inhaltlicher Differenzen mit dem neuen „westdt. Kulturredakteur“ (S. 89) aber nicht mehr erschienen ist, da dieser Änderungen verlangte, die Lang durchzuführen nicht (mehr) bereit war. Eine kritische Passage über den Kunst- und Ausstellungsbetrieb der Gegenwart, der laut Lang nur mehr „Recyclingkunst“ hervorbringe (S. 87), sollte gestrichen werden – eine ‚Zensurmaßnahme‘ seitens der Redaktion, die nun ausgerechnet im wiedervereinigten Deutschland die Meinungsfreiheit des Kritikers beschneiden wollte: das war nicht nur die sprichwörtliche Ironie der Geschichte, sondern dem diktaturerprobten Lang augenscheinlich zu viel. Jetzt kann der seinerzeit nicht mehr erschienene Beitrag über eine Max-Beckmann-Ausstellung also in voller Länge nachgelesen werden.
Lothar Lang hat die Auswahl der Beiträge kurz vor seinem Tod noch selbst vorbereitet – es handelt sich mithin um eine Zusammenstellung jener Kritiken, die er selbst wenn nicht gar für seine ‚besten‘, so doch sicher für die charakteristischsten hielt, um seine Tätigkeit als einer der führenden Kunstkritiker der DDR dokumentarisch zu belegen (laut einer eigenen Aufstellung, auf die in der Einleitung des Bandes verwiesen wird, hat Lang im Laufe seiner Karriere ganze 867 Kritiken geschrieben). Statt einer streng chronologischen Gliederung ist der Band thematisch durchkomponiert, einzelne Beiträge wurden – wie bei solchen Publikationen erwartbar und üblich – vom Verfasser teilweise nachbearbeitet und mit neuen Überschriften versehen, „jedoch ohne in den Inhalt einzugreifen“, wie die Herausgeberin Elke Lang in ihrer Einleitung schreibt (S. 23). In drei Abschnitten erhält man Einblick in Lothar Langs „Begegnung mit Meistern der Moderne“ (I.), seine Auseinandersetzung mit älteren Vertretern der Kunst in der DDR, die noch in den Traditionszusammenhängen der Zwischenkriegszeit wie Verismus und Neuer Sachlichkeit operierten (II. „Eine vergessene Generation“), sowie schließlich in die kritische Würdigung der Künstler seiner eigenen Generation, die das Bild der DDR-Kunst maßgeblich geprägt haben (III. „Herausforderungen und Lesarten – Neue Reflexionen“).
Ein Lexikon ist zum Verständnis dieser durchwegs eingängig und differenziert geschriebenen Texte übrigens keineswegs nötig – jedenfalls keines zur kunsthistorischen Fachterminologie, wie es sich vermutlich der oben zitierte Abteilungsleiter im Kulturministerium der DDR gewünscht hatte, um die harten Nüsse einer ‚formalistischen‘ Schreibweise zu knacken (womit er freilich weder seiner eigenen noch der Kunst- und Lektürekompetenz der DDR-Ministerialbürokratie in toto ein sonderlich günstiges Zeugnis ausgestellt hat – was aber auch nicht weiter verwundern mag). Nachgeborene LeserInnen und/oder solche aus dem ‚Westen‘ dürften indes an vielen Stellen referenzialisierende Hilfestellungen zur (Kunst-)Historie der DDR ebenso benötigen, wie visuelle Unterstützung durch einschlägiges Abbildungsmaterial, um einen hinreichenden Eindruck von den besprochenen Kunstwerken und ihren Urhebern zu bekommen, von denen der größte Teil aus dem Kanon verschwunden ist. Immerhin begegnet man in Langs Texten nicht nur internationalen Größen der Kunstgeschichte wie Picasso, Braque, Chagall und Monet. Neben den auch heute noch geläufigen Hauptvertretern der DDR-Kunst von Gerhard Altenbourg bis Wolfgang Mattheuer , Bernhard Heisig und Werner Tübke – den führenden Köpfen der ‚ Leipziger Schule ‘ – tritt ein bunter Reigen reichlich verschollener Maler und Graphiker ins Licht des Betrachters, mögen sie nun Horst Zickelbein oder Paul Kuhfuss , Herbert Tucholski (mit i) oder Dieter Tucholke heißen. Und auch die von Lothar Lang selbst im Titel eines Beitrags gestellte Frage „Wer war Ernst Schroeder ?“ (S. 159) dürfte für Nicht-Experten heute gar nicht so einfach zu beantworten sein.
Der Herausgeberin Elke Lang mag dieses Problem einer (nicht nur durch zeitliche Abstände bedingten) Alteritätserfahrung heutiger LeserInnen durchaus bewusst gewesen sein. Zur Überbrückung eines gewissen Informationsdefizits hat sie sich jedenfalls dazu entschlossen, in den Texten ihres Mannes nachträglich die Lebensdaten der erwähnten Künstler zu ergänzen – wofür sie in ihrer Einleitung um Nachsicht bittet (S. 23). Letztere sei ihr gerne gewährt, zumal an diese Auswahl ohnehin nicht die Maßstäbe einer philologisch genauen Edition anzulegen sind. Gleichwohl bleibt anzumerken, dass sich Sätze wie derjenige über die „Gemälde des heute 85-jährigen Albert Wigand (1890–1978)“ (S. 135), die ursprünglich noch zu Lebzeiten des besprochenen Künstlers formuliert worden waren, durch den retrospektiven Eingriff doch etwas seltsam lesen und auch dem dokumentarischen Anspruch der Sammlung nicht ganz gerecht werden. (Zumal der Band lobenswerterweise über ein brauchbares Namensregister verfügt, hätten sich die biographischen Angaben leicht auch dort unterbringen lassen – wo sie zweifellos an der richtigen Stelle gestanden hätten und sich weniger störend auswirken würden).
Solche kleineren Monita freilich sollen dem Band nicht über Gebühr zur Last gelegt werden: Immerhin wird mit diesem Buch ein keineswegs gering zu schätzender Beitrag zur Erschließung einer kritischen Literatur geleistet, die nach der ‚Wende‘ vielfach davon bedroht worden war, mit dem Staat, in dem sie geschrieben wurde, auf der sprichwörtlichen Müllhalde der Geschichte entsorgt zu werden. Nicht nur die Kunstproduktion der DDR selbst, sondern auch der öffentlich geführte Diskurs über sie, der oft genug ins Prokrustesbett der Propaganda gespannt worden ist, ist einen zweiten Blick jenseits vorschneller Schubladisierungen wert – umso mehr, wenn er allen ideologischen Anfechtungen zum Trotz so profunde Stimmen wie diejenige Lothar Langs hervorgebracht hat.
Wer durch die Lektüre dieser Auswahl dazu angeregt wird, sich etwas eingehender mit der DDR-Kunst zu beschäftigen (was keineswegs ausgeschlossen ist), und wer darüber hinaus auch die im Band selbst leider fehlenden Abbildungen einschlägiger Kunstwerke sucht, um sich buchstäblich ‚ein Bild zu machen‘, der sei auf die bereits erwähnte Kunstgeschichte Lothar Langs zur Malerei und Graphik in der DDR aus dem Jahr 1978 verwiesen. Über die diversen Online-Plattformen für antiquarische und Gebrauchtbücher dürfte zumindest die Reclam-Ausgabe von 1983 leicht für billiges Geld zu erwerben sein – zumal heute längst nicht mehr gilt, was Lang in der Weltbühne , Nr. 38/1976 über die Unwägbarkeiten des Buchkaufs in der DDR formuliert hatte: „Unlängst ist bei Reclam in Leipzig Peter Hacks’ Komödie Adam und Eva erschienen. […] Womöglich ist der Band noch in einer Buchhandlung aufzutreiben“ (S. 117).
Michael Pilz , 17.01.2017
Anmerkungen:
[1] Bernd Lindner: Verstellter, offener Blick. Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–1995. Wien: Böhlau, 1998, S. 2 rechnet Langs Buch unter die „ersten kritischen Entwicklungsbeschreibungen der Kunst in der DDR“, die sich auf bemerkenswerte Weise von der zeitgleich publizierten „herrschaftskonforme[n] Kunstgeschichtsschreibung […] mit all ihren kulturpolitisch gewünschten Verdrehungen, Aus- und Weglassungen“ abhoben. Auch Edwin Kratschmer: Kunst im Clinch oder Kunst zwischen Apologetik und Selbstbehauptung – Ein Abriss mit 14 Exkursen. In: Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst. Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR. Hg. von Michael Berg, Knut Holtsträter und Albrecht von Massow. Wien: Böhlau, 2007, S. 77–104, hier S. 78, bewertet Langs Malerei und Grafik in der DDR als „ein für jene realsozialistischen Zeiten […] in Teilen mutiges Buch“.
[2] Lothar Lang: Vorwort. In: [Ders.]: Malerei und Graphik in der DDR. Leipzig: Reclam, 1983, S. 5.
[3] Wikipedia -Artikel zu Lothar Lang, Zugriff am 16.01.2017.
[4] Laut Harald Behrendt: Die Leipziger Malschule und Werner Tübke. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 71 (2008), Nr. 1, S. 101–120, hier S. 111, Anm. 35, setzten Langs „Observationsdienste“ für das Ministerium für Staatssicherheit im Jahr 1970 ein. Behrendt zufolge sei damit auch eine Veränderung bestimmter Wertungen Langs als Kunstkritiker einhergegangen: „Auf das engste war der Wandel der Anschauungen mit der IM-Tätigkeit verknüpft. So hatte Lothar Lang sich in seinen ersten Besprechungen noch euphorisch zu Werner Tübke […] geäußert. […] Später nach der Übernahme seiner IM-Tätigkeit 1970 als IM ‚Schreiber‘ und ‚Richter‘ sah Lang […] Tübkes geschichtliche Aufnahme von Traditionen als Sackgasse für die DDR-Malerei an.“