Jan Philipp Reemtsma Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der deutschen Literatur. C. H. Beck: München 2023. 704 S., Hardcover 38 €.

 

Es gibt – wenn man dem Protagonisten in Arno Schmidts Aus dem Leben eines Fauns (1953) Glauben schenkt – „ein ganz einfaches Mittel, einen intelligenten Menschen [in Deutschland] zu erkennen.“ „Wenn er Wieland liebt.“[1] Nähmen wir die Aussage ernst, dann hätte Jan Philipp Reemtsma vermutlich Beachtliches geleistet: Er hat 2023 in Zusammenarbeit mit Fanny Esterházy nicht nur die voluminöse Biographie Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der deutschen Literatur vorgelegt, die bei C. H. Beck erschienen ist. Vielmehr wurde das Buch überaus positiv besprochen und gelangte sogar auf die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie ‚Sachbuch/Essay‘. Die Biographie, deren Cover ein Ausschnitt des Graff’schen Wieland-Porträts aus dem Jahr 1794 ziert, nimmt sich im Vergleich mit den anderen für preiswürdig Befundenen – Bücher über ‚Grüne Kriege‘ in Afrika, über eine vergessene jüdische Kommunistin des 20. Jahrhunderts, über die ‚libertär-autoritäre Gesellschaft‘ sowie einer Graphic Novel über eine weiße privilegierte Germanistin an einem US-College – wie aus der Zeit gefallen aus. Andere Aspekte als die Erinnerung an den zumal unbekanntesten der Weimarer Klassiker stehen in der Sparte im Vordergrund. Es äußern sich andere Autorentypen als der hanseatische Publizist, Philologe und Mäzen; und sie nutzen andere Schreibweisen als einen gelehrten Stil, der lateinische Formeln[2] nicht scheut. Dass es die Biographie dennoch geschafft hat, könnte sie der Gabe Reemtsmas verdanken, sein stupendes Wissen über mit der Lust an Wieland zu verbinden. Reemtsmas Fähigkeit brilliert insbesondere in der Interpretation sperrigerer Werkteile wie den Versromanen und -erzählungen oder den Übersetzungen. Das Buch – das potenziellen Lesern nicht nur durch seine Qualitäten, sondern auch durch Rezensionen, Jurys, aber auch den relativ günstigen Preis schmackhaft gemacht wird – könnte die Zahl der Wieland-Liebhaber erhöht haben. Ob es damit mehr Intelligenz nach Deutschland zu bringen vermochte, ließe sich allerdings kaum beweisen – jüngste politische Entwicklungen sprechen eher nicht dafür, also für eine Zunahme an Intelligenz oder gar Liebe.

Zum Buch. Auf 700 Seiten inklusive Anhang, der etwas über 50 Seiten Anmerkungen und ein auffallend knappes Literaturverzeichnis umfasst, breitet Reemtsma das lange Leben Wielands aus. Er informiert über die einzelnen Stationen einer Vita, die den jugendlichen Schwärmer, Dichter, Kanzleiverwalter, Philosophen, Erzieher und Publizisten von Biberach, Zürich, Bern nach Weimar und Oßmannstedt führte. Die Stationen bilden auch den einen Teil der Kapiteltitel. Wielands Karriere ist beachtlich, sein Erfolg überschreitet nationale und sprachliche Grenzen. Den gealterten Schriftsteller will sogar Napoleon sehen. So berühmt ist es er also – und gerät doch wie Reemtsma, sein Vorgänger als Biograph Friedrich Sengle und die Rezensenten der Biographie zu betonen nicht müde werden, in Öffentlichkeit und Fachwelt in Vergessenheit. Reemtsma rekonstruiert Wielands Werdegang, seinen Idealismus, seine Liebschaften mit psychologischer Zugewandtheit und einem klaren Blick für Verfehlungen Wielands. Lesenswert ist, wie er historisch kurrente negative Meinungen, etwa die oft kolportierte Eitelkeit des Schriftstellers, relativiert: „Wir werden es noch öfter hören, das mit der Eitelkeit [Wielands]; es wird wohl stimmen. Aber man bedenke dazu, dass es nicht immer einfach ist, ein Gesprächspartner zu sein ‚wie alle anderen‘, wenn man selbst (sprich: das eigene Werk) der einzig interessante Gesprächsgegenstand bei Tische ist.“[3]

Reemtsma schaltet den biographischen Kapiteln Erörterungen zu Werken aus den jeweiligen Lebensphasen nach. An die Darstellung der Zeit in Biberach, Bern und wieder Biberach schließen sich z. B. Ausführungen zu den Komische[n] Erzählungen und Musarion an. Von den Genres wird die andere Hälfte der Kapiteltitel bezogen, was schematisch wirkt. Allerdings erleichtert diese kompositorische Entscheidung es, Wielands großes Lebens- und immenses Schaffenspensums zu bewältigen. Sie führt dazu, dass sich Wielands Leben, Kontext und Werk punktuell gegenseitig erhellen. Reemtsma kommentiert mit profunden Kenntnissen Epen, Romane, Opern und Verserzählungen und -romane – letztere besonders passioniert. Er geht auf den Philosophen und politischen Schriftsteller Wieland und seine Reaktion auf die Französische Revolution ein. Einige Ausführungen, etwa die zu Wielands Shakespeare-Übersetzungen, geraten für eine populäre Werkbiographie sehr kleinteilig. Inhalt und Ertrag rechtfertigen jedoch zumeist die Breite: Einerseits führen Reemtsmas Detailanalysen (etwa des Hamlet-Monologs) zu einem gerechteren Urteil hinsichtlich der Qualität von Wielands Übersetzung, die den Wortlaut des englischen Originals, so Reemtsma, teils besser treffe als die lange Zeit kanonische Übertragung Schlegels und Tiecks; andererseits ist es erhellend, Wielands Erfindungsreichtum bei der Schaffung von Neologismen, wie ‚Milchmädchen‘, ‚Säuglingsalter‘ oder ‚Weltliteratur‘ zu würdigen, um seine Bedeutung für die Evolution der deutschen Sprache zu unterstreichen. Wir alle sprechen wielandisch! Die Lektüre der intensiven sprachlichen Beobachtungen lohnt also, zumal die historischen Ereignisse, die im Wechsel dazu rekapituliert werden, Kontrapunkte setzen.

Die gute lesbare und lesenswerte Biographie erleichtert es demnach, Wieland in vielen Facetten besser und neu kennen zu lernen. Das Buch ist zudem hübsch gestaltet und gut lektoriert. Vertipper sind höchstselten. (Einige Jahresangaben, die Lebensdaten Gottscheds oder das Jahr des Auszugs Wielands aus dem Hause Bodmer auf den S. 41 bzw. 45, stimmen nicht; auf S. 17 findet sich an allerdings entscheidender Stelle ein unvollständiger Satz.) Einem größeren Publikum wird es folglich erleichtert, einen Zugang zu Wieland und auch zu abgelegen wirkenden Bereichen seines Schaffens zu gewinnen. Innerhalb der Wieland-Biographistik handelt es sich um eine Großtat. Die ähnliche umfangreiche Lebensbeschreibung Friedrich Sengles aus dem Jahr 1949 ist in die Jahre gekommen. Obgleich Sengles Biographie andere Konkurrenzprodukte überragt und weiterhin Vorzüge hat, etwa im Hinblick auf die Dichtungstheorie und deren Erläuterung im literaturgeschichtlichen Kontext, entspricht sie nicht mehr den gegenwärtigen Lesegewohnheiten, seien sie nun populärer oder auch akademischer Natur. Reemtsma, der einen Reprint der Sämmtlichen Werke Wielands und die Oßmannstedter Ausgabe gefördert und die Forschung auch mit zahlreichen Publikationen nachhaltig geprägt hat, führt mit seiner Biographie ein kleines Zauberstück durch. Mit seiner lebendigen, genauen, teils launischen (und an Arno Schmidt erinnernden) Sprache lenkt er die Aufmerksamkeit auf etwas, das aktuellen Lesegewohnheiten fremd ist: Wielands politische Analytik, die zeigt, wie man „kontrovers Stellung nehmen kann“ (360); Wielands Ausgewogenheit im philosophischen Urteil, seine Verliebtheit ins sprachliche Detail bei Übersetzungen oder in der metrischen, rhetorischen und semantischen Gestaltung von Texten.

Die Biographie ist also nicht grundlos positiv besprochen worden. Und vielleicht ist es sinnvoll, den Reigen der positiven Besprechungen an dieser Stelle nun nicht weiter fortzusetzen, sondern sie im Sinn einer Metarezension zu rekapitulieren, die nicht nur ein Werk bespricht, sondern über die Besprechungen des Werkes zu einer Einschätzung der kommunikativen Dynamiken im deutschsprachigen literarischen Feld gelangt. Dies ist möglich, weil dem Rezensenten die Schatzkammer des Innsbrucker Zeitungsarchivs (IZA) geöffnet wurde und er Zugriff auf die dort vorhandenen Rezensionen aus dem Printbereich hat. Dies ist naheliegend, weil Wieland selbst eine historische Referenz für die Auffaltung der literarischen Kommunikation ist. Sowohl Dichter als auch Literaturagent, Publizist, Übersetzer, Philologe, Kritiker und Kunstphilosoph vereint er Sprecherpositionen auf sich, die heute strukturell, professionell und habituell zu stark divergieren. Dies erscheint aber nicht zuletzt auch deshalb nötig, weil sich anhand der Besprechung einige Aspekte zeigen lassen, die erklären, weshalb das hehre Ansinnen, Wielands Werk „in die Mitte der deutschen Literatur“ (SZ, 28.03.2023) heimzuholen, vermutlich scheitern wird.  

Weshalb? Der Versuch, Wieland ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen und einem größeren Publikum zugänglich zu machen, gelingt innerhalb des Rezensentenkreises nicht. Wer da über Reemtsma und über Wieland in umfangreicheren Printkritiken spricht? Der promovierte Germamist Helmut Böttiger, der promovierte Germanist Thomas Steinfeld, der promovierte Germanist Stefan Kister, der promovierte Germanist Tilman Spreckelsen, der Germanist und promovierte Romanist Eberhard Geisler, arrivierte Kulturjournalisten, wie Klaus Bellin, Kurt Kister, Ronald Pohl und Martin Oehler. Von Ausbildung, Alter und Position haben wir es mit sehr ähnlichen und (in meinem Korpus, also den Printkritiken) durchweg männlichen Akteuren zu tun, die einigermaßen oder stark arriviert sind. Überdies ist der Sound der Rezensionen sehr ähnlich. Man lobt, wie ich, die lebendige Sprache, die Detailverliebtheit. Und man stimmt Reemtsma in seinen Urteilen zu: „Schlecht ist es heute um seinen [Wielands] Nachruhm bestellt.“ (Der Standard, 27.06.2023) „Völlig vergessen, wie er die Sprache bereichert hat[.]“ (Frankfurter Rundschau, 25.04.2023). „Christoph Martin Wieland hat heute schlechte Karten. Selbst literaturbeflissene Kenner runzeln bei seinem Namen die Stirn“ (die tageszeitung 24.05.2023). Das Ansinnen, Wieland aus der Nische von Spezialisten und Liebhaber zu holen, wirkt etwas kraftlos, weil es Spezialisten sind, die es tun. Der Kultursoziologie Pierre Bourdieu spricht von der ‚prästabilierten Harmonie‘ im literarischen Feld, die dazu führt, dass genau den richtigen Kritikern genau die richtigen Texte zufallen, die sie nutzen werden, um die genau richtigen Autoren und Schreibweisen zu loben – die Rezeption der Biographie bestätigt diese Annahme. Sie zeigt aber auch, weshalb Wieland wohl doch ein Nischenprodukt bleibt, dass in akademisch-männlichen Kreisen als ewiger Geheimtipp gehandelt, aber natürlich auch gelesen wird. (Und also gar nicht so geheim ist.)

Zumal dieser Habitus – des Entdeckens wider die Trends der Zeit und natürlich auch der Germanistik – nicht ganz unbekannt in der Wieland-Forschung ist. Denselben Gestus hatte schon Arno Schmidt in seinem Radioessay zu Wieland genutzt. Und Reemtsma lobt zurecht dessen Pioniertat, da „Schmidt für die Wielandische Romanproduktion meher analytisches Verständnis zeigte als die gesamte Germanistik seiner Zeit[.]“[4] Ähnlich andernorts: „Hier muss noch einmal der Name Arno Schmidt fallen und festgehalten werden, dass es ein Schriftsteller gewesen ist, nicht ein Germanist, der die Bedeutung des letzten großen Werks [Wielands, nämlich Aristipp] gesehen hat.“[5] Auch Sengle beginnt seine Biographie im Hinweis auf die liebevoll betriebene Erforschung Klopstocks, Lessings und Herders, der gegenüber „die bisherige Wieland-Forschung den Eindruck eines Trümmerfeldes“ mache.[6] Die Rezensionen jedenfalls schreiben mit dem rezensierten Objekt die Geschichte vom unbeachteten Klassiker fort und gelangen, über Reemtsma hinaus, sogar bis in die Gegenwart. Aber trifft es zu, dass Wielands Name die germanistische Stirne runzlig macht? Sucht man auf BDSL die Zahl der Publikationen zu Wieland von 1985 bis 2015, finden sich tatsächlich weniger Einträge im Vergleich mit Goethe, Schiller, Lessing und Herder, zu dem der Abstand nicht sehr groß ist. Aber: Klopstock und Gellert sind um Längen, Tieck oder Friedrich Schlegel (aus der nachfolgenden Romantikergeneration) deutlich abgehängt. Tatsächlich ist die Situation der Wieland-Forschung besser als die vieler anderer Autoren und Autorinnen. Dazu hat Jan Philipp Reemtsma wesentlich beigetragen. Und er erwähnt beides, seinen Beitrag und die Wieland-Renaissance in der Germanistik, wenngleich an einer fürs Feuilleton eher entlegenen Stelle, kurz vor dem Literaturverzeichnis: „Die Literatur zum Werke Christoph Martin Wielands ist in den letzten Jahrzehnten, besonders in den letzten Jahren, erfreulich angewachsen. Die vorliegende Biographie entwirft zwar eine bestimmte eigene Sicht auf das Werk Wielands, kommentiert aber – mit wenigen Ausnahmen wie etwa der Vorgängerbiographie Friedrich Sengles – keine anderen Beiträge zur Forschung.“ Daher gebe das Literaturverzeichnis auch „keinen auch nur auszugsweisen Überblick über die Forschungsliteratur.“ Reemtsma bitte um Verständnis für die starke Begrenzung der Forschungsliteratur, noch mehr dafür, dass „im folgenden knappen Verzeichnis eigene Werke wesentlich häufiger genannt werden als die anderer Autoren. Das vorliegende Buch ist nun einmal der Zusammenschluss der von ihm in den letzten Jahren vorgelegten Arbeiten.“[7]

Diese Offenheit, was die Nicht-Berücksichtigung von Forschungsliteratur betrifft, vermisst man aus germanistischer Perspektive an der einen oder anderen Stelle im Buch selbst. Zumal zentrale oder brisante Forschungsfragen, etwa zur Stellung des Agathon im Hinblick auf das Genre Bildungsroman, zu den Geschlechterkonstruktionen im Œuvre Wielands, zur Modernität Wielands, in der Wieland-Forschung intensiv und kontrovers diskutiert werden. So kann man die Frage, ob Wieland modern sei, nur durch eine differenzierte, nach soziologischen, ästhetischen, generischen, publizistischen, buchwissenschaftlichen, kommunikationstheoretischen usw. Aspekten unterscheidende Antwort, die im Urteil keineswegs einheitlich ausfallen dürfte, angemessen zu beantworten suchen. Walter Erhart und Jutta Heinz haben sich zur Modernität Wielands geäußert und etwa literatursoziologische von ästhetischen Aspekten getrennt bzw. eine ‚Wielandizität‘ (Heinz) behauptet; Annette Keck hat den Don Sylvio als einen Roman gelesen, der auf der Schwelle zur Moderne liegt. Wie dem auch sei, es ist Reemtsma nicht vorzuwerfen, eine stark auf eigenen Arbeiten beruhende und im Resultat berührende Biographie vorgelegt zu haben, die viele Türen zum Werk und zur Person Wielands öffnet. Unangenehm erscheint mir, dass die Position Schmidts – Wieland, von der Germanistik verachtet – in der Rezeption aktualisiert wird und etwas, das einst wahr gewesen ist, zum Mythos zu werden droht. Dabei könnte man die Vergessenheit Wielands im 19. Jahrhundert durch aktuelle Forschungen zu begründen suchen. Hier wären für die Rezensenten auch Anregungen vorhanden, die eine oder andere These der Biographie zu kontrastieren und sich also kritisch auf sie einzulassen.

 

 

 

[1] Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I. Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Band 2: Umsiedler, Aus dem Leben eines Fauns, Seelandschaft mit Pocahontas, Kosmas. (= Studienausgabe 1.2) Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 301–390, hier S.329.

[2] Allein auf den S. 30-32 von Jan Philipp Reemtsma Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der deutschen Literatur. C. H. Beck: München 2023, finden sich die Beispiele „cave!“, „rebus sic stantibus“, „ad se ipsum“. 

[3] Ebd. S. 223.

[4] Ebd. S. 179.

[5] Ebd. S. 535.

[6] Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart: Metzler 1949, S. 9.

[7] Beide Zitate Reemtsma Christoph Martin Wieland, S. 631.