"Setz dich in den D-Zug und fahre von Königsberg bis Köln und schau zum Fenster hinaus: Stadt um Stadt, Dorf um Dorf, Menschen, Menschen … und wie viele kennen den Dr. Owlglaß und seine putzigen Melancholismen oder Victor Auburtins Goldfischzucht oder Slings kapriziöse Schnurpfeifereien oder Polgars idyllische Florettstöße oder Peter Schers Panoptikum oder Tucholskys Erkenntnisse an französischen Kaminen?"
Diese – in Bezug auf den anzitierten Tucholsky-Titel freilich nicht ganz korrekt formulierte 1 – Frage lässt Hans Reimann die Hauptfigur seines Feuilletons Der große Minstrel stellen, das erstmals im Jahr 1925 erschienen ist. 2 Von Tucholsky und vielleicht auch Polgar einmal abgesehen, dürfte der Bekanntheitsgrad der übrigen darin genannten Satiriker, Kritiker und Feuilletonisten in den vergangenen 86 Jahren wohl kaum gestiegen sein – im Gegenteil: Es fällt auch nicht schwer, den Verfasser des zitierten Textes, Hans Reimann selbst, in diese Reihe längst vergessener „Gebrauchsschriftsteller“ der 1920er und frühen 1930er Jahre einzufügen. Der deutschen Literaturgeschichte jedenfalls ist der 1889 in Leipzig geborene und 1969 in Hamburg verstorbene Reimann längst abhanden gekommen. Allenfalls als Koautor der mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle verfilmten Feuerzangenbowle ist er möglicherweise noch in Erinnerung geblieben, obschon auch hier sein Name hinter demjenigen Heinrich Spoerls oft genug verschwindet und übersehen wird. In seinem 2010 im Leipziger Lehmstedt-Verlag erschienenen Buch Heinz Rühmann und „Die Feuerzangenbowle“ – Die Geschichte eines Filmklassikers unternimmt der Filmjournalist Oliver Ohmann nun den Versuch einer diesbezüglichen Korrektur, die Reimanns Anteil an der Entstehung des Kultfilms in ein gebührendes Licht rücken will (auch wenn es dabei scheint, dass der Verfasser bisweilen zu Gunsten Reimanns etwas allzu hart mit dem Bestsellerautor Spoerl ins Gericht geht).
Ungeachtet der Diskussion über die Urheberschaft der Feuerzangenbowle – die noch bis vor kurzem die Justiz beschäftigt hat – bietet Ohmanns Buch Anlass genug, um auf das äußerst vielfältige Oeuvre des Schriftstellers Hans Reimann hinzuweisen, das im selben Verlag in einer mehrbändigen Werk-Edition in Einzelausgaben herausgegeben wird. Inzwischen liegen bei Lehmstedt fünf Bände vor: Neben den jüngst erschienenen Lebenserinnerungen, einer Sammlung mit zeitkritischer Lyrik und Essays, den Sächsischen Miniaturen , sowie einem weiteren Band mit Heiteren Gedichten ist im Jahr 2007 auch eine Auswahl von Reimanns Feuilletons herausgekommen, die unter dem Titel Ordnung im Bücherschrank überwiegend humoristisch bis satirisch gefärbte Prosatexte aus den Jahren 1921 bis 1923 versammelt. Die Erstabdrucke dieser Arbeiten sind seinerzeit in Reimanns eigenen Zeitschriften Der Drache und Das Stachelschwein , aber auch in Leopold Schwarzschilds Tage-Buch und in der Weltbühne erschienen.
Bislang noch ohne Neudruck ist dagegen das Werk des Erzählers und Parodisten Reimann geblieben, der in den 1920er Jahren unter den Pseudonymen „Arthur Sünder“ oder „Hanns Heinz Vampir“ äußert erfolgreich die Werke zweifelhafter, im politischen Schlamm des rechten Lagers gründelnder Bestsellerautoren wie Arthur Dinter oder Hanns Heinz Ewers einer entlarvenden satirischen Behandlung unterzogen hat. Ließen sich bereits diese Texte gemäß Armin Eichholz‘ Verständnis von literarischen Parodien als „kritische Paraphrasen“ und damit als eine „Abart der Literaturkritik“ definieren, 3 so ist Reimann darüber hinaus auch im engeren Sinne als Literaturkritiker hervorgetreten, als welcher er ebenfalls erst noch zu entdecken ist. Reimann hat die Rolle des Rezensenten vor allem gegen Ende seines Schriftstellerdaseins in den Jahren 1952 bis 1968 als Verfasser und Herausgeber der Buchreihe Literazzia ausgefüllt. In ihrer Form als literaturkritische Jahrbücher, die Reimann ausschließlich im Ein-Mann-Betrieb verfasst hat, scheinen diese Bände auch in typologischer Hinsicht weitgehend singulär im medialen System des deutschsprachigen Literaturbetriebs nach 1945 zu stehen und hätten zweifellos aus literaturwissenschaftlicher Sicht einen eingehenderen Blick verdient.
Dass das literaturkritische Talent schon beim frühen Reimann vorhanden war, zeigen auch die Texte des erwähnten Feuilleton-Bandes Ordnung im Bücherschrank , dessen Titel keineswegs zufällig auf eine prüfende Sichtung von Druckwerken verweist. Wenn der Band auch keine Einzelbesprechungen von Neuerscheinungen der 1920er Jahre enthält, die heute wohl in erster Linie das literarhistorische Interesse germanistischer Experten finden würden (und für solche scheint die populär aufgemachte Reimann-Werkausgabe zumindest nicht primär gemacht zu sein), stößt der Leser neben zahlreichen Plaudereien und Causerien über Politik und Alltagsgeschehen der Weimarer Republik doch auf allgemeiner gehaltene Texte über die Literatur und den Literaturbetrieb jener Zeit – und auf Bonmots en masse. Da finden sich z. B. Reflexionen über das Genre des Kriminalromans („eines der zweitschönsten Dinge, die der Mensch hat“, S. 49) neben Analysen von Schlagertexten („das seines kleinen i beraubte Hawaii muß notgedrungen zu einem Reim auf ‚frei‘ und ‚Mai‘ herhalten, ob es will oder nicht“, S. 129) oder Erfahrungen aus Reimanns eigener Parodisten- und Rezensententätigkeit („Als ich fertig war mit der Lektüre, hatte sich das Buch in seine Urbestandteile aufgelöst, also in Nichts.“, S. 122 – „Schlechte Bücher sind beste Lektüre. Aber man muß es wissen“, S. 123). Und in einer scharfsichtigen Beobachtung über die zwangsläufig nur eingeschränkt aufklärerische Wirkung jeder zielgruppenspezifisch geäußerten Gesellschaftskritik heißt es:
Es ist schade, daß jegliches Blatt immer von Denen gelesen wird, die es schreiben könnten, wenn sie schreiben könnten. Darauf beruht die Wirkung gewisser Schmöker (deren Wirkung nur scheinbar ist): sie werden von denjenigen Menschen verschlungen, die – vorausgesetzt, daß sie Schreibende wären statt Lesende – akkurat so schreiben würden, wie das Buch geschrieben ist. (S. 50)
Dieser Feststellung vorausgeschickt wird eine Eigencharakterisierung Reimanns, der sich selbstbewusst zur Riege der „Weltbühnisten“ zählt: Denn die Leser dieser Zeitschrift „sind zu 95 Prozent meinesgleichen. Oder richtiger: wir Leser und Mitarbeiter der ‚Weltbühne’ sind vom selben Holz.“ (S. 51) Dass Reimann solchen strategischen Positionierungen zum Trotz gleichwohl nach 1933 nicht nur in Deutschland geblieben ist, sondern auch in eindeutigen NS-Publikationen wie der pseudo-satirischen Propagandazeitschrift Die Brennessel weiter veröffentlicht hat, darf über einer solchen Selbstaussage freilich nicht übersehen werden.
Auf diesen, bestenfalls tragisch zu nennenden Makel in Reimanns Biographie ist aus heutiger Sicht um so nachdrücklicher hinzuweisen, als sich der Autor in den 1920er Jahren – die hier versammelten, durchwegs witzigen und souverän ironischen Texte zeigen es deutlich genug – keineswegs hinter dem kritischen Schaffen anderer prominenter „Weltbühnisten“ hatte verstecken brauchen. 4 In einer mit dem Titel Liebenswürdiger Albdruck überschriebenen Glosse hatte er damals auch seinen bis heute bekannt gebliebenen Kollegen die Reverenz erwiesen, indem er sie im Rahmen einer augenzwinkernden (Wunsch-) Traumvision zu höchsten Ehren kommen ließ: „Auch wir schauen hin. Da tritt soeben der Reichspräsident ein, der Kurt Tucholsky […]. Sogar der liebe Gott (und der trägt Alfred Polgars Züge) muß lächeln.“ (S. 46)
Dass die deutsche Geschichte nach 1918 einen anderen Verlauf genommen haben würde, hätte diese Rollenverteilung der Wirklichkeit entsprochen, darf füglich angenommen werden. Doch bekanntlich sah der politisch-kulturelle Alltag in der Weimarer Republik ganz anders aus. Will man deren lebensweltliche Realität von heutiger Warte aus in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit in den Blick bekommen, kann man wohl nichts Besseres tun, als einen Autor wie Reimann lesen – auch oder gerade weil er eben kein Tucholsky oder Polgar war und insofern mit Verweis auf seine weitere biographische wie literarische Entwicklung weniger exzeptionell als typisch für den deutschen Literaturbetrieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusehen ist. Manfred Papst hat diese Einsicht in der Neuen Zürcher Zeitung bündig zusammengefasst, wenn er schreibt, dass sich an den „Autoren der B-Liga […] die Signatur der Epoche deutlicher ablesen [lässt] als an den Genies, die ihre Zeit bekämpften, sie überwanden und daher über ihr stehen.“ ( NZZ , 7.9.2008).
Bleibt noch zu bemerken, dass der 142 Seiten starke Auswahlband nicht nur über genaue bibliographische Drucknachweise der aufgenommenen Texte verfügt, sondern sich auch durch die erfreuliche Einrichtung eines Namensregisters auszeichnet. Es ermöglicht das gezielte Auffinden der erwähnten Personen von Peter Altenberg bis Richard Zoozmann und spiegelt damit auf seine Weise das breite Spektrum der literarischen Bezüge wider, die Reimann in seinen Feuilletons verwoben hat.
Michael Pilz , 5.9.2011
Anmerkungen:
[1] Richtig lautet der auf Richard von Volkmann-Leanders Märchenbuch Träumereien an französischen Kaminen anspielende Titel von Tucholskys Prosasammlung Träumereien an preußischen Kaminen (Charlottenburg: F. Lehmann, 1920).
[2] In: Das Tage-Buch, 6 (1925), 14, S. 494–499.
[3] Vgl. Armin Eichholz: In flagranti. Parodien. München: Pohl, 1955, S. 8.
[4] Mit über 80 Beiträgen, die zwischen 1919 und 1932 in der Weltbühne erschienen, zählte Reimann zu den festen Größen des Blattes, vgl. Elmar E. Holly: Die Weltbühne 1919–1933. Ein Register sämtlicher Autoren und Beiträge. Berlin: Colloquium, 1989. (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 11), S. 268 ff.