Eduard von Keyserling: Kostbarkeiten des Lebens. Gesammelte Feuilletons und Prosa. Hrsg. und kommentiert von Klaus Gräbner und Horst Lauinger. Unter Mitarb. von Reinhard Oestreich und Jochen Reichel. München: Manesse Verlag 2021. 905 S. ISBN: 978-3-7175-2504-2. Preis [A]: 28,80 €.
Als Autor von Romanen und Erzählungen wird Eduard von Keyserling seit Jahren wiederentdeckt, jetzt weitet sich der Blick auf sein feuilletonistisches und essayistisches Werk. Die von Klaus Gräbner und Horst Lauinger (unter Mitarbeit von Reinhard Oestreich und Jochen Reichel) besorgte Edition im Manesse-Verlag darf nicht nur wegen ihrer Dickleibigkeit (900 Seiten) den Charakter einer umfassenden, ultimativen Sammlung behaupten. Sie schließt tatsächlich eine editorische Lücke, bündelt sie doch Keyserlings Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften und macht damit klassisch ephemere und disperse Texte erstmalig einer vergleichenden Lektüre zugänglich. Keyserlings Publizistik kann fortan als eigenständiger, vollgültiger Teil seines Werkes wahrgenommen werden. Das hat auch deshalb Relevanz, weil uns hier ein (mit den Worten der Herausgeber) „vielseitig interessierter, ungemein aufnahme- und vermittlungsfreudiger Protagonist des deutschen Kulturlebens um 1900“ als Zeitzeuge seiner Epoche entgegentritt.
Keyserling, der „feine Dichter aus dem baltischen Lande“ (Tucholsky), der ab 1895 in München lebte (wo er 1918 auch starb), war Teil der Schwabinger Boheme. Lothar Müller, Kulturhistoriker und ehemaliger Redakteur der Süddeutschen Zeitung, zählt ihn im klugen Nachwort zu den „Figuren sekundärer Umtriebigkeit“ (S. 818), ohne die Protagonisten wie Max Halbe, Frank Wedekind oder Erich Mühsam der Resonanzraum gefehlt hätte. Auch im bis 1914 in München tonangebenden Salon von Elsa Bruckmann verkehrte Keyserling, der im Tagebuch von Harry Graf Kessler anatomisch wenig schmeichelhaft geschildert wird: „Er geht an einem Stock, nur Haut und Knochen, ein mumifizierter hagerer Kopf, der wie ein Fischkopf spitz in einen wulstigen Mund vorstößt. Er spricht höchst weltmännisch und geistvoll.“[1]
Ein bekannter Schriftsteller wurde Keyserling, der sich als Autor von Romanen und Erzählungen rasch einen Namen gemacht hatte, spätestens 1899, als sein Theaterstück Frühlingsopfer an verschiedenen deutschen Bühnen inszeniert und vielfach besprochen wurde. Parallel wurde Keyserling ein gefragter Beiträger für Zeitungen und Zeitschriften. Er veröffentlichte Kurzprosa in Blättern wie der Rigaschen Zeitung und der Wiener Wochenzeitung Die Zeit. Er schrieb Aufsätze für angesagte Kulturzeitschriften wie Die neue Rundschau (S. Fischer) oder März (Albert Langen).
Ab 1903 veröffentlichte der Wahlmünchner bevorzugt in der Berliner Zeitung Der Tag. Warum gerade dort, wird von der Edition leider kaum thematisiert. Man kann aber spekulieren: Das zum konservativen Medienkonzern von August Scherl gehörende, modern layoutete Blatt war erst im Jahr 1900 gegründet worden. Es wurde auf dem umkämpften Berliner Zeitungsmarkt nie populär, hatte aber, Peter de Mendelssohn zufolge, „von allen Berliner Zeitungen den anspruchsvollsten Kulturteil“[2] und konnte zeitweise prestigeträchtige Autoren für sein Feuilleton gewinnen, so etwa Alfred Kerr (ehe er zum Berliner Tageblatt wechselte), Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal, der im Tag am 18. und 19. Oktober 1902 seinen berühmten Chandos-Brief veröffentlichte. Ein Keyserling passte da bestens ins konservativ-elitäre Konzept. Dass er als Autor auch im linksliberalen Lager geschätzt wurde, zeigt ein Brief, aus dem hervorgeht, dass Kurt Tucholsky Keyserling 1913 zur Mitarbeit in der Zeitschrift Schaubühne eingeladen hat (S. 402).
Schon als Student nahm Keyserling 1882 übrigens an einem Feuilleton-Preisausschreiben der Wiener Allgemeinen Zeitung teil und belegte unter 750 Möchtegern-Feuilletonisten den zweiten Platz (vgl. S. 506). Seine eingereichte Erzählung Nur zwei Thränen wird in der Wiener Allgemeinen Zeitung, im Prager Tagblatt und in der Revalschen Zeitung gedruckt. Nach seiner Übersiedlung nach München erweitert sich sein publizistisches Spektrum. In Organen wie der Jugend. Münchner Wochenzeitschrift für Kunst und Leben, der Kunst für alle und auch in der Münchner Allgemeinen Zeitung schreibt Keyserling hauptsächlich Ausstellungsbesprechungen und Essays zur Kunst, was dem Stellenwert Münchens als international bedeutender Kunstmetropole und „Ursecessionsstadt“ entspricht, aber auch seinen persönlichen Interessen.
Die Werkausgabe bildet die Affinität zu Malerei, Theater und Literatur mit ihrer thematischen Sortierung nach Rubriken wie „Kunst und Ästhetik“ oder „Bühne und Buch“ ab. Auch die Lebenslehre („Leib und Seele“) stellt ein klassisch feuilletonistisches Interessenfeld dar – und ein biografisch bedeutsames Thema für Keyserling, der ab 1905 unter einer am Ende vollständigen Erblindung und Lähmung infolge seiner Syphilis litt. Seine späten Artikel und Werke konnte er alle nur diktieren. So sehr man in seinem Essay „Über das Kranksein“ von 1910 – zumal aus heutiger Warte – ein feuilletonistisches „Ich“ vermissen kann, so wenig lässt die Art und Weise, wie der Text den Zustand des Krankseins als Erfahrung einer Invasion beschreibt („als sei ein fremdes Leben in uns erwacht und treibe dort neben unserem eigenen Leben sein Wesen“) daran zweifeln, dass das Subjekt des Textes nicht ganz genau weiß, wovon es spricht.
Egal ob Keyserling über Sepulkralkultur sinniert („Die Friedhöfe werden große Totenhotels, in denen ein jeder auf seiner Nummer wohnt“), ob er über das damals virulente Thema „Nacktheit in der Kunst“ oder über Festtage (den „Kommunismus der Lebenslust“) räsoniert: Immer outet er sich als „Parteigänger der ästhetischen Moderne“ (Lothar Müller). Und er hält gern kleine Grundsatzreferate, was seine Texte zu prototypischen Zeugnissen des Feuilletons macht, jenem Ressort, in dem fortlaufend „Expertenwissen in Alltagswissen“ transformiert wird.[3] Viele der Keyserling-Aufsätze und Essays tragen auch dezidiert grundsätzliche Titel: Über die Liebe, Zur Psychologie des Komforts, Die Moral der Musik, Die Kulturwerte des Theaters.
Von der endlich kenntlich gemachten Physiognomie Keyserlings als „Connaisseur und Kritiker“ sprechen die Herausgeber, und tatsächlich verfügt der Graf sozusagen von Haus aus über genuine Kenntnisse in verfeinerter Lebensart und großbürgerlich-aristokratischer Attitüde. Distinktionswille und Talent zur Gesellschaftsanalyse durch Klatsch sind für die Poetik des Feuilletons – wie Günter Oesterle[4] überzeugend dargestellt hat – seit jeher konstitutiv, und bei Keyserling muss man eigentlich nur das erste Kapitel seines Romans Wellen kennen, um zu wissen, wie souverän der „Privat- und Gesellschaftsmensch Keyserling“ Konversationen schildern kann – genauso, wie er im Ostseesand bei Sonnenuntergang „rosa Musselintücher“ erkennen kann.
Feuilletonistisch im klischeehaft sprachspielerischen Sinne der ‚Kleinen Form‘ wirkt Keyserlings „Schreibe“ übrigens nie. Auf Satzgirlanden, überreiche Metaphorik oder gar Polemik verzichtet er. Als klassisch gebildeter Autor scheint er in allen Texten ernst bei der Sache. Nur manchmal birgt sein Stil ironische Elemente. Aus den Zeilen seines Feuilleton-Beitrags Unsere Jüngsten (1903 im Berliner Blatt Der Tag erschienen) spricht latenter Frust und Spott darüber, dass die „zwanzigjährigen“ Schriftsteller es heute leichter hätten als früher: „Unsere jungen Leute beginnen ihre Laufbahn und ihre Entwicklung resolut vor der Öffentlichkeit. (…) Ein jeder ruft, so laut er kann, dem Publikum seinen Namen in die Ohren. Wenn wir den Herren glauben sollen, haben wir uns sehr viele Namen zu merken.“ Keyserling nennt keine Namen, aber er weiß: „Die Kunst, zu Worte zu kommen, hat die literarische Jugend unserer Tage vor der früheren voraus.“ Ein Schmankerl für jede Edition ist der diesen Feuilletontext kommentierende Brief, der belegt, wie der 25-jährige Junglyriker Keyserling einst selbst (erfolglos) versuchte, seine Gedichte bei Klett-Cotta drucken zu lassen.
Spätestens an dieser Stelle muss betont werden, wie sehr die Edition durch ihr reichhaltiges und akribisch zusammengetragenes biografisches Material besticht. Es macht im Ganzen sogar zwei Drittel des Buches aus. Zunächst dokumentieren 120 Seiten Briefe von und an Eduard von Keyserling sein Kontaktnetzwerk. Es folgt eine 260 Seiten umfassende Lebens-Chronik, die in Ermangelung einschlägiger Biografien auflistet, was über Keyserling bis dato bekannt ist. An insgesamt 46 Belegen kann man beispielsweise nachvollziehen, wie oft Keyserling, solange er gesund war, in Max Halbes Kegelclub ging. Oder man kann sich daran erfreuen, wie Keyserling seinem Neffen Karl Kraus erklärt: Dieser sei der „Leiter der Antikorruptionszeitschrift von Wien“ (S. 553). Im Fortgang des Bandes folgen, nach Manier der früheren rororo-Monografien, Keyserling-Zeugnisse von Zeitgenossen und Weggefährten, darunter Franz Blei, Erich Mühsam, Lou Andreas-Salomé. Der mehr als 100 Seiten umfassende Kommentarteil, der die diskursive Rekontextualisierung von Keyserlings Zeitungs- und Zeitschriftentexten vornimmt, bildet das gelungene Herzstück des Apparates, wobei man, wie bereits gesagt, die medienhistorische Erläuterung der Zeitungen, für die Keyserling schrieb, an dieser Stelle vermisst. Knappe Ausführungen dazu bietet nur das Nachwort von Lothar Müller (S. 820).
Als Kompilation, die an Umfang die beiden Vorgängerbände 1 (Landpartie, mit den gesammelten Erzählungen) und 2 (Feiertagskinder, mit den späten Romanen) übertrifft, ist Band 3 der „Schwabinger Ausgabe“ mit seiner geballten Publizistik und Lebenschronik ein veritabler Keyserling-Container. Hermetisch-lexikografische Abschnitte stehen neben sichtlich popularisierenden Elementen (wie den beinahe journalistisch-magazinig anmutenden Info-Kästen zum Kegelclub „Die Unterströmung“, zum Salon Elsa Bruckmann, wo vor dem Ersten Weltkrieg tout München verkehrte, oder zur Syphilis von Keyserling). Auch die 35 edlen Gemälde-Farbtafeln mit dazu passenden Passagen des Kunstkritikers Keyserling signalisieren von der Ausstattung her eher eine Schmuck- als eine Studienausgabe. Diese hybride, weil sowohl gelehrte als auch gefällige Erscheinungsform des Buches mag der verlegerischen Heimat bei Manesse (dem Klassiker-Imprint des Random House-Konzerns) geschuldet sein. Aber sie macht die Lektüre nicht nur praktisch: Die Entscheidung der Edition, die Primärtexte im vorderen Drittel des Bandes in reiner Lesebuch-Manier und bar jeder Zeit- und Quellenangabe zu präsentieren, also quasi „nackt“ (um mit Gérard „Paratext“ Genette zu sprechen) zahlt der Leser mit viel Blättern und Suchen. Die Armada aus Abkürzungen im Chronik-Teil ist nur lesbar, wenn man parallel das Siglenverzeichnis aufgeschlagen hat. Und am besten auch den vorderen Teil des Buches, wo die in der Chronik erwähnten Zeitungs- und Zeitschriftenartikel stehen. Und natürlich den hinteren Teil des Buches, wo die Kommentare zu den Artikeln stehen. Ja, es sieht ganz so aus, als könne man die komplexe Keyserling-Klaviatur nur vierhändig voll bespielen; ein einsames Lesebändchen ist da definitiv zu wenig.
Im Ganzen aber überwiegt, völlig klar, der Ertrag dieser wunderbaren Keyserling-Edition. Wer sich ihre Inhalte im Detail erarbeitet, wird reichlich belohnt, allein die Dokumentation, wie die Todesnachricht Keyserling-Fans von Thomas Mann bis Kurt Tucholsky ereilt und sie in Nachruf-Nöte bringt (vgl. S. 664 f.), bietet Stoff für jede nächste „Nekrolügen“-Tagung.
Marc Reichwein, 13.12.2021
[1] Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Band IV. Stuttgart 2005, S. 212.
[2] Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin. Berlin 2017. S. 206.
[3] Vgl. Almut Todorow: Feuilletondiskurs und seismographische Funktion von Kulturkommunikation. In: Heinz Bonfadelli, Heinz et. al. (Hg.): Seismographische Funktion von Öffentlichkeit im Wandel. Wiesbaden 2008, S. 281-299, hier 281.
[4] Überzeugend dazu: Günter Oesterle: Unter dem Strich. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons. In: Jürgen Barkhoff et. al. (Hg.): Das schwierige 19. Jahrhundert. Tübingen 2000, S. 229-250.