Es gibt wenige Studien, die sich mit der historischen Entwicklung von Literaturkritik beschäftigen. Um es vorweg zu sagen: Days Monographie zählt zu den besten und erfüllt mehr Ansprüche, als man zu stellen wagt. Mit einer Einschränkung, die nicht der Autor zu verantworten hat: Im englischsprachigen Raum wie in anderen Kulturkreisen wird ‚Literaturkritik‘ anders verstanden als bei uns. Während der deutschsprachige Begriff auf die Beschäftigung mit Literatur in den Massenmedien verweist, 1 meint ‚literary criticism‘ auch die Literaturwissenschaft gleich mit.
Das hat verschiedene Gründe oder Ursachen. Um die vielleicht wichtigsten zu nennen: Erstens: Der englischsprachige Literaturbetrieb ist nicht so ausdifferenziert, insbesondere die literaturkritischen Texten Raum gebenden Printmedien sind viel stärker konzentriert, mit der Folge, dass LiteraturkritikerInnen in der Regel an Universitäten beschäftigt sind, weil sie allein von literaturkritischen Arbeiten für die Massenmedien nicht leben könnten. Zweitens: Auch das Buchangebot ist viel kleiner, der deutschsprachige Buchmarkt ist – gemessen an der Zahl der potentiellen LeserInnen – der größte, hier gibt es mehr Auswahl als irgendwo sonst. (Bei den häufigen, auch berechtigten Klagen über Fehlentwicklungen und Probleme sollte man dies nicht vergessen.)
Days Studie hat so viele Vorzüge, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll zu loben. Die Arbeit ist hervorragend zu lesen, Day kann sein Thema ebenso präzise wie unterhaltsam entwickeln (eine in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft immer noch rare und auch zu wenig geschätzte Tugend, hier gilt oftmals etwas als komplex, nur weil es kompliziert ausgedrückt wurde). Day beginnt bei den Griechen und Römern, er schlägt also einen Bogen über mehr als zwei Jahrtausende Literaturgeschichte und Literaturkritik. Dazu kommt, dass seine Studie einem roten Faden folgt, der aus einer Überzeugung und einer sich entwickelnden These besteht. Die Überzeugung lautet, dass Literatur eben nicht definiert werden kann wie Formeln in der Mathematik (S. 3) – das Paradox der Literatur, das Subjektive des Schreibens und Lesens, die Offenheit der Interpretation, die Anschlussfähigkeit in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten macht alles ‚provisorisch‘ (S. 7), und gerade das ist, in einer durchökonomisierten und scheinbar berechenbaren Welt, der größte Vorzug. Kritik kommt von ‚Krise‘ (S. 10), doch gerade dadurch wird die Möglichkeit begründet, sich Texten ordnend, unterscheidend und bewertend anzunähern, sie produktiv zu machen. Womit wir bei der These wären: Day sieht ein bereits mit der Einführung von Tauschmitteln begründetes Verhältnis der Literatur zum Kapital. Darin liegt die Gefahr, dass Literatur die Kraft, Dinge in Zweifel zu ziehen und andere Sichtweisen zu ermöglichen, verliert (S. 13).
Mit dem Ende des Lateinischen als ‚lingua franca‘ konzentriert sich Day zunehmend auf die englischsprachige Entwicklung, dies ist eine verständliche und angesichts der Fülle des Stoffes notwendige Entscheidung. Wer die deutschsprachige Entwicklung ein wenig kennt, wird zahlreiche Parallelen ziehen können. 2 Day konzentriert sich darauf herauszuarbeiten, welche verschiedenen Möglichkeiten der Entwicklung es gab und weshalb sich bestimmte Auffassungen durchgesetzt haben, er zeigt dabei auch, wie sehr heute noch Paradigmen gelten, die sich vor Hunderten von Jahren herausgebildet haben. Hier ist natürlich die Zeit seit der Aufklärung besonders wichtig, ihr widmet Day etwa die Hälfte des Umfangs. Im 18. Jahrhundert beginnen die grundlegenden Veränderungen des Gesellschaftssystems, Religion und Monarchie werden für Day abgelöst von marktwirtschaftlichen Prinzipien, die es erlauben, Grenzen zwischen Ständen aufzulösen und die alles denkbar erscheinen lassen – sofern es einen entsprechenden Tauschwert besitzt (vgl. S. 190 u. 198). Literatur hat – noch – einen Sonderstatus: „[…] there is a danger that it will become one commodity among many. To prevent this literature is presented as a source of self-development, cultivation and refinement that separates it from other consumer goods” (S. 203f.). Auch wenn es sich um eine negative Beziehung handelt – Literatur wird durch den Markt definiert, es wird ihr lediglich eine besondere Rolle zugewiesen. Im Zuge der weiteren Ausdifferenzierung der Gesellschaft wird die Zuständigkeit für Literatur an die Universitäten delegiert, Literatur wird somit zu einem immer spezialisierteren Gebiet, sofern man sich historisch und systematisch damit auskennen will.
Die heutige Beschäftigung mit Literatur an den Universitäten bewertet Day in mehrfacher Weise kritisch: Universitäten sind zu regelmäßig evaluierten Produktionsstätten des Wissens geworden, in der Literatur immer weniger Platz hat; Literaturwissenschaftler sind immer mehr mit Verwaltung beschäftigt und den Rest der Zeit mit der Rezeption und Erprobung der neuesten Theorien, statt sich auf die literarischen Texte selbst zu konzentrieren; weshalb Day, obwohl er ausgesprochen differenziert argumentiert und zweifellos ein großes Wissen auch über Literaturtheorie hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen auf Bezüge zu theoretischen Ansätzen verzichtet (vgl. S. 312f.).
„Emotion is the key to art“, zitiert Day Chesterton (S. 270). Es scheint, als sei der Literaturwissenschaft und der Literaturkritik die (reflektierte) Leidenschaft für die Literatur ausgetrieben worden. Andererseits kann die Situation nicht ganz hoffnungslos sein, wenn es Bücher wie dieses gibt. Days Studie ist ja gerade ein leidenschaftliches Plädoyer für das Studium der Literatur ‚against all odds‘. Die letzten Sätze der Arbeit sagen auch warum: „And as long as there is literature, there will be criticism in one of its many guises. For we must respond to whatever touches or moves us deeply. It is part of being human“ (S. 313).
Stefan Neuhaus , 12.06.2011
Anmerkungen:
[ 1 ] Vgl. z.B. Wendelin Schmidt-Dengler/Nicole Katja Streitler [Hrsg.]: Literaturkritik. Theorie und Praxis. Innsbruck u. Wien: StudienVerlag, 1999 (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 7).
[ 2 ] Zur Geschichte der Literaturkritik vgl. v.a. das immer noch konkurrenzlose Werk von Peter Uwe Hohendahl [Hrsg.]: Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980). Stuttgart: Metzler, 1985. Die gängigen Einführungen gehen in unterschiedlichem Umfang auf historische Aspekte ein, vgl. Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 2001 (Sammlung Metzler 338); Thomas Anz/Rainer Baasner [Hrsg.]: Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München: Beck, 2004; Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004 (UTB 2482).