Das Wesentliche der Geschichte ist hinlänglich bekannt: Thomas Bernhard erhält am 4. März 1968 den mit 25.000 Schilling dotierten Österreichischen Staatspreis für Roman – und seine eigenwillige Rede, in der er sich nicht als devot dankender, sondern als autonom-kritischer Künstler präsentiert, erregt den Missmut des für die Preisübergabe zuständigen Unterrichtsministers Theodor Piffl-Perčević, der daraufhin den Saal verlässt. In weiterer Folge kommt es zu Protesten in Presse und Politik. Mehrere Salzburger ÖVP-Abgeordnete intervenieren gegen die Auszeichnung Bernhards, da er in dem prämierten Roman Frost eine Salzburger Ortschaft verunglimpft habe; der Festakt zur Verleihung des „Anton Wildgans-Preises der österreichischen Industrie“, der ebenfalls an Thomas Bernhard geht, wird aus Angst vor einem weiteren Skandal abgesagt.
Zu diesen Fakten gesellen sich mehrere Erzählungen, die unterschiedliche Varianten des Geschehens anbieten; Widersprüche und die Kluft zwischen Bernhards eigenen Darstellungen und den Erinnerungen von anderen zeugen vom – ebenfalls hinlänglich bekannten – Hang des Autors zu nachträglicher Stilisierung. Der Physiker Olaf Lahayne aber hat sich nun das ehrgeizige Ziel gesetzt, den tatsächlichen Hergang der Ereignisse zu rekonstruieren: Als (zumal erst seit 1997 in Österreich lebender) Naturwissenschaftler seien ihm Schilderungen des Staatspreis-Skandals stets „seltsam und unwahrscheinlich“ (S. 14) erschienen, weshalb er nun der Wahrheit – die er in einer Reihe von Zitaten, die das Buch eröffnen, beschwört – auf die Spur kommen möchte. Er tut dies, den Ansätzen von Maria Fialik und Louis Huguet folgend, mit fast schon forensischer Akribie: Er kontaktiert Zeitzeugen, sichtet Archivmaterialien, Dokumente und Pressetexte; die genaue Abfolge der Ereignisse versucht er so exakt nachzuzeichnen, dass man mitunter meinen könnte, man lese die Rekonstruktion eines Kriminalfalls (tatsächlich ist an mehreren Stellen von „Komplizen“ [S. 39], dem „Tatort“ [S. 64], „Opfer“ [S. 111] und „Täter“ [S. 112] die Rede). Auf die Anklagebank setzt Lahayne den Selbstdarsteller Thomas Bernhard, dem er offensichtlich nicht allzu viel abgewinnen kann.
Bernhards Schilderungen, so Lahayne, seien voller „Fehler“. Zur Beweisführung führt er immer wieder kleine Unstimmigkeiten an – etwa: „Die Bremer Rede hielt Bernhard am 26. Januar 1965 […] und nicht 1966“; „Seine Staatspreis-Rede zählt genau 285, nicht ,hundert oder hundertfünfzig Wörter‘“ (S. 94). Auch ungenaue Zitate würden die Unzuverlässigkeit von Bernhards Texten belegen. Um zu zeigen, wie viele verschiedene Fassungen von den Geschehnissen anlässlich der Staatspreisvergabe kursierten, listet Lahayne alle Versionen des vielzitierten Ausspruchs des verärgerten Ministers auf – der Erkenntnisgewinn dieser Stelle (die fast schon in ein Bernhard-Stück passen würde) bleibt gleichwohl bescheiden:
Bernhard, Spiel: „Wir sind trotzdem stolze Österreicher!“
Piffl-Perčević: „Trotzdem bin ich stolz, ein Österreicher zu sein!“
Henz: „Ich bin trotzdem stolz ein Österreicher zu sein!“
Rohr: „Ich bin stolz, Österreicher zu sein.“
Weltwoche: „Wir sind trotzdem stolz, Österreicher zu sein!“
Hans Rochelt: …dass er trotzdem stolz sei, Österreicher zu sein. (S. 69)
Aussagekräftiger sind jene Abschnitte, in denen Lahayne belegen kann, dass es sich bei den autobiographischen Ausführungen Bernhards, vornehmlich aus Meine Preise und Wittgensteins Neffe , um reine Erfindungen des Autors handelt. Zu Recht erkennt Manfred Mittermayer in seinem Geleitwort den Wert des Buches in der genauen Dokumentation der Staatspreisverleihung und ihrer Folgen, die es erlaubt, zwischen Tatsachen und den von und um Thomas Bernhard kreierten Mythen zu unterscheiden. Wiederholt muss Lahayne jedoch eingestehen, dass eine restlose Auflösung der Bernhard’schen Vermischung von Fakt und Fiktion nicht möglich ist: Einer Ö1-Sendung hat er schließlich entnommen, dass Erinnerungen in hohem Maße verzerrt sein können, was „nicht nur für die Beurteilung von Zeugenaussagen vor Gericht von Bedeutung“ ist (S. 33).
Eine Einbettung in den kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskurs ist im Rahmen einer solchen Arbeit freilich ebenso wenig zu leisten wie eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit dem Thema der künstlerischen Selbstinszenierung – wünschenswert wäre jedoch zumindest eine detailliertere Beschreibung der kulturpolitischen Situation der Zeit gewesen. Lahayne stellt, obschon er sich „der strengen Form der dokumentierenden bzw. erklärenden Geschichtschreibung“ (S. 117) verpflichtet fühlt, mehrmals Mutmaßungen über die Ursachen von Bernhards Verhalten an – ein genauerer Blick auf das geistige Klima Österreichs hätte hierfür wohl nicht unwesentliche Zusammenhänge sichtbar gemacht. In Mittermayers Bernhard-Biographie etwa wird Hilde Spiels Brief an den Bundesminister, in dem sie Bernhards Provokation mit seiner Krankheit und schweren Kindheit zu entschuldigen versucht, als Ausdruck kulturpolitischer Zwänge gedeutet – für Lahayne hingegen beweisen Spiels Aussagen nur, dass sie schlecht über die frühen Jahre Bernhards informiert war (S. 78).
Überhaupt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Lahayne vieles zu wörtlich nimmt: Zwar gibt er im Nachwort mit Verweis auf literaturwissenschaftliche Forschungsarbeiten über Thomas Bernhard richtigerweise zu bedenken, dass dessen Interviews Teil einer Provokations- und Inszenierungsstrategie sind und die autobiographischen Texte – auch – als Fiktion gelesen werden müssen; (selbst-)ironische Töne in den Auskünften Bernhards scheint er jedoch zumeist zu überhören. Auch literarische Leerstellen sind Lahaynes Sache nicht – spätestens bei seiner Interpretation der Staatspreisrede wird deutlich, dass ihm die Vagheit des Textes missfällt: „Bernhards Rede ist nicht nur gedanklich und grammatikalisch bemerkenswert wirr, sondern sie vermeidet auch jede konkrete Aussage“, zudem „erschweren die eigenwilligen Satz-Konstruktionen das Textverständnis“ (S. 74). Lieber sind ihm da schon Aussagen wie jene des Unterrichtsministers: Hier gebe es wenigstens nichts zu „deuteln oder missverstehen“ (S. 71).
Maria Piok , 03.08.2017
Zum Titel: „Märchen und Wissenschaft“ schlägt Lahayne als Überschrift für Thomas Bernhards Bremer Rede vor (S. 72).