Als der Verleger Ernst Rowohlt im Dezember 1960 zu Grabe getragen wurde, spielte die Kapelle auf Wunsch des Verblichenen zwei durchaus konträre Melodien: zum einen das Arbeiterlied Brüder, zur Sonne, zur Freiheit ! und zum anderen einen militärischen Traditionsmarsch – den Marsch der Finnländischen Reiterei . Dass in der offiziösen Verlagsgeschichtsschreibung, wie sie u. a. von dem langjährigen Rowohlt-Lektor und stellvertretenden Verlagsleiter Fritz J. Raddatz betrieben wurde, anlässlich des 100jährigen Firmenjubiläums von 2008 lediglich die erstere von beiden in Verbindung mit dem Hinweis Erwähnung fand, Ernst Rowohlt habe sich darüber hinaus noch gewünscht, ein verlagsfrisches Exemplar von Band 1 der soeben erschienenen Tucholsky-Ausgabe in den Sarg gelegt zu bekommen, wertet David Oels in seiner quer zu solchen Legendbildungen angelegten Studie über die Erfolgsgeschichte des Rowohlt-Verlags in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als Beleg für jene gezielte „Zurichtung der eigenen Vergangenheit“ (S. 357), die die Reinbeker Verlagspolitik spätestens nach dem Tod des Gründungsverlegers erfolgreich „in den politischen und ästhetischen Konsens“ (S. 239) der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit integriert hat: Die Gestalt des alten „Meister Rowohlt“ wurde dabei als die Inkarnation eines idealistisch um die Pflege des „guten Buches“ und den Erhalt freiheitlich-demokratischer Werte bemühten Kulturverlegers installiert.
Zu diesem öffentlichen Bild Ernst Rowohlts, das sich bislang – wie Oels aufweist – viel zu sehr aus Anekdoten und hagiographischen Erinnerungstexten speist, um einem kritischen Quellenstudium standhalten zu können, zählt freilich auch die Stilisierung seiner Figur zu derjenigen eines trinkfest-jovialen Nonkonformisten, wie ihn etwa der langjährige Rowohlt-Lektor Kurt W. Marek in einer unveröffentlicht gebliebenen Erinnerung beschreibt. Dabei lässt Marek im Gegensatz zu seinem Nachfolger Raddatz keineswegs das militärische Liedgut außer Acht, das bei Rowohlts Beerdigung erklungen war (zit. nach S. 385):
Trauergäste, auch die, die ihn ein Leben lang gekannt hatten, sagten: „Brüder zur Sonne …“ natürlich, das ist sein alter Linksdrall, das verstehen wir. Aber warum um Himmelswillen den „Finnischen Reitermarsch“? Und als ich das hörte, da kamen mir wirklich die Tränen, und ich […] gedachte der zahllosen Gelage, die wir in früher Morgenstunde in Hamburg zu beenden pflegten, mit eben dem Finnischen Reitermarsch, der aber lautete: „Leckt mich links, leckt mich rechts, leckt mich kreuzweis am Arsch, denn das ist der Finnische Reitermarsch!“
Wenn Oels sein Buch mit diesem Zitat enden lässt, nicht ohne in bewusst provokanter Fortführung der derben Diktion kommentierend hinzuzufügen (ebd.):
Aber es sind eben beide Backen, die geleckt werden wollen; indem man das bei einer unterlässt, tut man Verleger und Verlag keinen Gefallen[,]
so zieht er damit das (vielleicht etwas über-)pointierte Fazit einer breit angelegten und quellengesättigten Arbeit zur Geschichte eines der wichtigsten deutschsprachigen Verlage des 20. Jahrhunderts, die sich dezidiert als Korrektiv zu dessen hausintern erarbeiteten Selbstdarstellungen versteht und nicht zuletzt insofern einen wichtigen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Forschung in einem Feld liefert, das noch immer über weite Strecken von Mythen und Legenden geprägt ist. Nimmt man dagegen wie Oels eine kritische Beobachterposition ein, wird rasch klar, dass Ernst Rowohlts Affinität für Reitermärsche nicht etwa nur in deren Verwertbarkeit für mehr oder weniger heitere Kneipenreime zu suchen ist, sondern durchaus auch in der Verlagsproduktion eine nicht zu übersehende, gleichwohl noch immer recht unterbelichtete Spur hinterlassen hat, die sich bruchlos von den späten Jahren der Weimarer Republik über die Militaria-Produktion des Verlages während der Nazizeit bis in die frühen Jahre der BRD zieht und dabei deutlich werden lässt, dass sich der Skandal um Ernst von Salomons 1951 erschienenen Rechtfertigungsbestseller Der Fragebogen keineswegs auf ein im Gesamtprogramm des Verlages isoliert stehendes Druckwerk bezogen hatte – im Gegenteil: Der für seinen angeblichen „Linksdrall“ legendäre Verleger Kurt Tucholskys und Emil Ludwigs, Mascha Kalekos und Arno Schmidts pflegte nicht nur in der Zwischenkriegszeit nachhaltig wirksame Kontakte zum nationalrevolutionären Milieu jener notorischen „linken Leute von Rechts“ (Otto-Ernst Schüddekopf), das eine diffuse weltanschauliche Gemengelage vom „Nationalbolschewismus“ eines Ernst Niekisch über den avantgardistischen Nationalismus eines Ernst Jünger bis hin zum linken Flügel der NSDAP um die Brüder Strasser umfasste – Kontakte, die den Verleger schon vor 1933 zum Förderer von Autoren wie Arnolt Bronnen oder eben Ernst von Salomon werden ließen. Ernst Rowohlt bemühte sich auch nach 1945 darum, die wohl zu keinem Zeitpunkt wirklich abgerissenen Fäden zu diesen Kreisen wieder anzuknüpfen und für die eigene Verlagsproduktion auszuwerten, was u. a. noch in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und bis in die 1950er Jahre hinein zur Veröffentlichung rechtslastiger Bücher wie der Memoiren Hjalmar Schachts, der weltanschaulichen Reflexionen Hans Zehrers oder Gerhard von Boldts Erinnerungen an Die letzten Tage der Reichskanzlei unter dem Rowohlt-Signet führte.
Sein soldatisches Ethos hatte der ehemalige Offizier Ernst Rowohlt, der (wohl aus Opportunitätsgründen) 1937 auch NSDAP-Mitglied geworden war, bereits während des Zweiten Weltkriegs demonstrativ unter Beweis gestellt, als er nach seiner später viel beschworenen „Emigration“ nach Brasilien von 1938 kurz nach Kriegsausbruch auf schnellstem Wege wieder ins „Dritte Reich“ zurückgekehrt war, um schließlich seinen systemkonformen Beitrag zur Vaterlandsverteidigung in einer Sondereinheit der Wehrmachtspropaganda zu leisten, die im Sinne des NS-Regimes u. a. mit antibritischen (und antisemitischen) Aufstandsvorbereitungen im arabischen Raum beschäftigt war. Dass der von ihm gegründete Verlag schon kurz nach Hitlers Machtübernahme 1933 sein Geschäftsfeld um die Produktion einschlägiger Militärliteratur erweitert hatte und unabhängig von dem später gegen Ernst Rowohlt persönlich ausgesprochenen Berufsverbot unter dem Dach der „Deutschen Verlagsanstalt“ innerhalb der Konzernstruktur des „Zentralverlags der NSDAP“ faktisch weiter bestehen konnte, passt auf seine Weise in ein historisch differenziertes Bild, das sich freilich nicht 1:1 mit der offiziellen Verlagsgeschichtsschreibung des Hauses Rowohlt nach 1945 deckt.
Wenn Oels minutiös die Darstellungen der letzteren mit den Ergebnissen seiner eigenen Quellenlektüre aufrechnet, geht es ihm – wie er einleitend betont – freilich keineswegs um die Uminterpretation der Verlegerikone Ernst Rowohlt zum aktiven Nazi oder gar zum Antisemiten, wofür weder faktische Belege noch moralische Gründe gegeben sein dürften. Zumal es Oels gerade nicht um plakative Vereinfachungen, sondern um deren Hinterfragung zu tun ist, wird denn auch die gleich zu Beginn offensiv aufgeworfene Frage „War Rowohlt ein Nazi-Verlag?“ mit einem unmissverständlichen „Nein“ beantwortet (S. 7). Worum es stattdessen geht, ist lediglich der objektivierende Aufweis jener Kontinuitäten in der Verlagsgeschichte über die zeitgeschichtlichen Einschnitte von 1933 und 1945 hinweg, die die Weimarer Zeit mit den Jahren des Nationalsozialismus und schließlich mit der jungen Bundesrepublik verbinden und damit einen Traditionsdiskurs konterkarieren, der sich bislang in erster Linie auf die Betonung der Brüche konzentrierte, um eine öffentlichkeitswirksame Geschichte von Widerstand und Neuanfang zu konstruieren. Oels‘ Arbeit fügt sich insofern in eine längst breit geführte literaturhistorische und kultursoziologische Debatte ein, die u. a. durch Hans Dieter Schäfers grundlegende Arbeiten über Das gespaltene Bewusstsein , Erhard Schüz‘ Beiträge zur „Modernität des ‚Dritten Reiches‘“ oder Uta Gerhardts Soziologie der Stunde Null wichtige Impulse empfangen hat. Die Geschichte eines einzelnen Verlages wie Rowohlt in diesem Kontext näher zu betrachten, eröffnet die hier glücklich wahrgenommene Chance für eine exemplarische Fallstudie in konzentriertester Form, zumal sich anhand der Verlagsproduktion und der verlegerischen Programmpolitik wie in einem Brennglas die fraglichen Diskurslinien bündeln und beobachten lassen.
Im Ergebnis gelingt es Oels eindrucksvoll, den Mythos vom radikalen Neuanfang des Verlages nach 1945 nahezu in allen Punkten wenn nicht zu demontieren, so doch nachhaltig zu korrigieren oder infrage zu stellen, die aus heutiger Perspektive für die Marke Rowohlt in der unmittelbaren Nachkriegszeit konstitutiv erscheinen – von der (angeblichen) ‚Erfindung‘ des modernen Sachbuchs durch den Rowohlt-Lektor Kurt W. Marek alias C. W. Ceram über die (angeblich) erstmalige Etablierung des Taschenbuchs auf dem deutschen Markt bis hin zur Entwicklung der legendären RO-RO-RO-Romane im Zeitungsformat, die geradezu als Inbegriff für die literarische Situation in der ominösen „Stunde Null“ gelten dürfen, tatsächlich jedoch wie so vieles andere in einer Traditionslinie stehen, deren Ausgangspunkt bereits vor 1945 – konkret: in der Literaturversorgung der kämpfenden Truppen oder auch von Ausgebombten und Flüchtlingen mit billigem Lesestoff im Rotationsdruck – zu suchen ist. Aus Oels‘ Blickwinkel stellt sich der verlagspolitische Umgang mit einer in Analogie zur späteren „Suhrkamp-Kultur“ so benannten „Rowohlt-Kultur“ der 1950er Jahre jedenfalls wie folgt dar (S. 368):
[…] dadurch, dass die Gegenwart öffentlich nicht als Fortsetzung einer Vergangenheit erzählt werden konnte, wurden zeitgenössisch, insbesondere aber in der Verlagsgeschichtsschreibung insgesamt, Kontinuitäten ausgeblendet, die gerade die fortgesetzte Identität und Existenz des Verlags ausmachten. Ein nicht unwichtiger Teil des Programms wie die konservativen und nationalen Revolutionäre verschwand komplett aus der Überlieferung, ein anderer Teil, wie das erzählende Sachbuch, musste 1949 aus dem Nichts oder höchstens in rein virtuellem Anknüpfen an Publikationen der Weimarer Republik entstanden sein, die RO-RO-ROs galten und gelten als völlig neue Errungenschaft, obgleich nicht wenig darauf hindeutet, das sie ein Vorbild in verschiedenen während des Krieges angestellten Experimenten mit Zeitungsdrucken hatten, und die Taschenbücher schließlich mussten aus den USA importiert worden sein, obgleich sie sich nur wenig von beispielsweise den Gelben Ullsteinbüchern unterschieden.
Die hier benannten Aspekte werden von Oels in unterschiedlicher Intensität beleuchtet. So widmet er sich etwa nach der Darstellung der Verlagsgeschichte im „Dritten Reich“ in einem eigenen Abschnitt der Geschichte und Vorgeschichte der berühmten Rotationsromane sowie einer Analyse des verlegerischen Spagats, die populärkulturelle Vermarktung des modernen Taschenbuchs – das nicht zuletzt in der Umschlaggestaltung offen auf andere Erzeugnisse der intellektuell beargwöhnten Kulturindustrie wie den Film und dessen Merchandising-Produkte rekurrierte – mit dem Anspruch hochkultureller Verantwortung über den Modus der „Teilhabe“ breiter Bevölkerungskreise am wertvollen Bildungsgut zu kommunizieren und in das von Ernst Rowohlt persönlich repräsentierte Bild des Kulturverlegers zu integrieren. Der Schwerpunkt der Studie liegt jedoch eindeutig auf Oels‘ Analyse des „geplanten Erfolgs“ (S. 267) von Rowohlts erstem großen Hardcover-Bestseller nach 1945 – C. W Cerams berühmtem Sachbuchklassiker Götter, Gräber und Gelehrte , dessen marktstrategische Positionierung durch den Autor und Rowohlt-Lektor Marek detailliert beleuchtet wird, womit der Verfasser einmal mehr seine Expertise im Bereich der Sachbuchforschung belegt, der die gesamte Studie offenkundig ihre Entstehung verdankt. [1] Oels zeichnet dabei nicht nur ein Porträt des bislang noch weitgehend unbekannt gebliebenen Schriftstellers Marek/Ceram, der als Kriegsberichterstatter im Zweiten Weltkrieg wie sein Verleger Ernst Rowohlt für die deutsche Kriegspropaganda tätig war, sondern verortet dessen Produktion auch im Kontext des nach 1933 anhaltenden Sachlichkeits-Diskurses in der deutschen Literatur mit dem neu entstehenden Genre des „Tatsachenromans“, das schon vor 1945 ein prägnantes Segment in Rowohlts Verlagsprogramm gebildet hatte. Dabei wird zugleich deutlich, wie weit Marek bei der Abfassung von Götter, Gräber und Gelehrte z. T. entgegen seiner eigenen ästhetischen Position als Schriftsteller bewusst auf die Bedürfnisse des Lesepublikums eingegangen ist, indem er die Ergebnisse seiner im Auftrag des Verlages durchgeführten Marktforschungen und Leserbefragungen verwertet hat.
Im Anschluss an Helmut Lethens Modell des „Radar-Typs“ als „außengeleitete Gegenfigur eines innengeleiteten, sich gleichsam nach einem inneren Kreiselkompass richtenden Typus“, der im Gegensatz zu letzterem „ständig seine Umwelt abtastet und erfolgreich ihr entsprechend (re)agiert“ (S. 380 f.) entwickelt Oels daraus seine abschließende These von Rowohlt als Inbegriff eines marktökonomisch avanciert agierenden „Radar-Verlags“ (S. 380), dessen Methoden freilich hinter der Fassade des idealistisch handelnden, von seinen inneren Überzeugungen und Verantwortungen geprägten Kulturverlegers kaschiert werden mussten: Der entscheidende Maßstab sei immer die „ innere Haltung“ der von Ernst Rowohlt ursprünglich verkörperten Persönlichkeit geblieben – was zwangsläufig entsprechende Korrekturen in der öffentlichen Selbstdarstellung des gesamten Verlags, vor allem für die Jahre zwischen 1933 und 1945, nach sich zog. Oels rekapituliert (S. 384):
Diese saubere Innerlichkeit musste im Zweifel auch gegen das eigene Verlagsprogramm und die eigene Verlagspraxis behauptet werden, die sich längst außengeleitet als wandelbar und anpassungsfähig erwiesen hatten und namentlich mit Kurt W. Mareks Lancierung von RO-RO-ROs, Taschenbüchern und Sachbuch in das […] (angeblich) verabscheute „Zeitalter des Fragebogens“ und der Marktforschung eingetreten war. Ein weiterer Grund für die fortdauernde innengeleitete Selbstrepräsentation dürfte aber auch darin liegen, dass das Buch geradezu als Leitmedium des innengeleiteten Charaktertyps gelten kann. […] Um also mit Büchern erfolgreich bleiben zu können, galt es auch unter den neuen, außengeleiteten Bedingungen, eine Art Innenleitung zu präsentieren.
Es ist mithin die alte Geschichte einer für das literarische Feld in toto prägenden Strategie der Ausbalancierung oder Verrechnung von ökonomischem und symbolischem Kapital, die konkrete Inszenierungsleistungen nach sich zieht. Auch in dieser Hinsicht liefert David Oels exemplarische Fallstudie zum Rowohlt-Verlag zwischen Weimarer und Bonner Republik einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des deutschen Literaturbetriebs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von der nur zu wünschen bleibt, dass ihr eine Vorbildfunktion für vergleichbare Aufarbeitungen weiterer Verlagsgeschichten zukommen wird.
Michael Pilz , 22.12.2013
Michael.Pilz@uibk.ac.at
[1] Vgl. S. 9: „Erstmals fielen mir die Diskrepanzen zwischen propagierter Verlags- und Verlegergeschichte sowie dem dokumentarisch rekonstruierbaren Geschehen im Herbst 2006 auf, als ich Material für eine Literaturgeschichte des Sachbuchs erkundete.“