Früher, so um das Jahr 2000, wäre dem Buch von Ethel Matala de Mazza wohl eine CD beigelegt worden, Bibliotheken hätten es als „Medienkombination“ katalogisiert. Heute sucht man sich die Operettenmelodien, die in Der populäre Pakt erwähnt werden, während oder nach der Lektüre bei Youtube. Schon vom Buchumschlag grüßt Gräfin Mariza mit viel Rouge und in französischer Schreibung ( Maritza ) – die gleichnamige Operette von Emmerich Kálmán war international erfolgreich.
Ethel Matala de Mazza, Professorin für deutsche Literatur an der Berliner Humboldt-Universität, hat mit ihrer Studie Der populäre Pakt die Moderne gesucht und sie, ausgerechnet, „zwischen Operette und Feuilleton“ gefunden, zwei heute scheinbar ‚überlebten‘ Genres. Die musik- und pressehistorisch interessierte Untersuchung ist ein gelungener Beitrag zu einer spartenübergreifenden Ideengeschichte populärer Gattungen, – wobei Feuilleton durchweg uneindeutig verstanden wird, nicht nur als Textsorte (Kleine Form), sondern auch als „inferiore Randzone“ der Zeitung, die „‚unter dem Strich’ im unteren Drittel der Zeitungsseite“ platziert wird (S. 56).
Ein fruchtbarer Ansatz
Die Operette – nicht nur nominell das Gegenstück zur Grand Opera – und das diminutiv benannte Feuilleton (eine in Frankreich erfundene Presserubrik für unpolitische Stoffe, die der Zeitung erst als „Blättchen“ beigelegt und dann in sie integriert worden war) haben viel gemeinsam: am stärksten vielleicht den Unterhaltungsanspruch, also den Impetus, zeitgeistig und populär zu sein. Matalas Konjunktion beider Genres folgt einer Lektüre von Siegfried Kracauer, der in seiner Gesellschaftsbiografie über Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) eine Poetologie der Kleinen Form(en) entwirft.
Der titelgebende populäre Pakt besteht darin, dass Operette und Feuilleton gleichermaßen auf Veränderungen der Moderne im Prozess der Verstädterung reagieren. Beide Genres sind für einen Massenmarkt in den Metropolen konzipiert, beide buhlen um ein urbanes, in Teilen identisches Publikum. Mit ihrem generischen Anpassungsehrgeiz an den Publikumsgeschmack und ihrer Fähigkeit, auf Aktualitäten zu reagieren, lassen sich Operette und Feuilleton als typische Phänomene der von Adorno und Horkheimer gebrandmarkten Kulturindustrie lesen. In der Musikgeschichtsschreibung ist der Konjunkturzyklus der Operette sogar begrifflich angelegt; hier wird allgemein von einer goldenen, silbernen und bronzenen beziehungsweise blechernen Operettenära gesprochen. Und auch die Geschichte der Pressesparte Feuilleton kommt oft als Niedergangsnarrativ daher – seine Negativkonnotation ist spätestens seit Karl Kraus und seinem Essay Heine und die Folgen (1911) einschlägig.
Von solch einer kulturkritischen Perspektive sieht Matala, die auch als stellvertretende Sprecherin des DFG-Kollegs „Kleine Formen“ amtiert, ab. Die Charakteristika dessen, was das Kleine von episodischer Kürze bis zu nachgesagter Belanglosigkeit überhaupt auszeichnet, diskutiert Matala nur knapp – mit Blick auf Gilles Deleuze’ Unterscheidung von Majoritär versus Minoritär (S. 23-26) und Hegels Ästhetik-Vorlesungen (S. 67f.) wird aber deutlich: Ihr geht es zum einen um eine Rehabilitierung der ästhetisch oft gering geschätzten minderen Genres. Zum anderen möchte sie deren subversives und emanzipatorisches Potenzial bei der Formierung urbaner Öffentlichkeit gewürdigt wissen. Öffentlichkeit, so Matala, sei nämlich nicht automatisch gleichbedeutend mit dem Publikum gebildeter Bürger. Sie konstituiere sich auch aus den „minderen Genres“, die sich „mit ihren Themen, ihren medialen Formaten und ihren ästhetischen Attraktionen an die breite Masse richten“ (S. 27). Dieser Aspekt einer demokratischen Teilhabe an Ästhetik ist ihr wichtig; er sei von der Habermas-Theorie, die den Wandel eines kulturräsonnierenden zum kulturkonsumierenden Publikum nur als Verfallsgeschichte kennt, eher unzureichend gewürdigt worden.
Die Imagefrage des Populären steht also nicht zufällig am Beginn von Matalas Studie, die 2007 unter dem Titel Poetik des Kleinen als Habilitationsschrift an der Ludwig-Maximialians-Universität München eingereicht wurde und nun bei S. Fischer unter dem Titel Der populäre Pakt einem breiteren Publikum zugänglich gemacht und auch ( hier , da und dort ) entsprechend beachtet wurde. Populärwissenschaftlich (im Sinne von unkonzentriert und voraussetzungsfrei lesbar) ist die Studie nur bedingt; sie ist auch nicht systematisierend angelegt oder auf historische Vollständigkeit aus, sondern interessiert sich „exemplarisch“ für die „Variationsbreite minderer Genres“, zu denen Kracauer auch Revueformen wie das Kabarett und das Varieté zählte (S. 15-18).
Eine szenische Struktur
Matalas Studie setzt ihren Gegenstand selbst ein bisschen wie eine Revue, also performativ um. In immer neuen, luziden Vignetten wirft sie Schlaglichter auf zwei prototypische Kunstformen der metropolitanen Moderne und ihre verwandten Gattungen und Institutionen. Die Gliederung ist dreiaktig. Es beginnt in der Weimarer Republik, bei Siegfried Kracauer und seinem Interesse an der Massenkultur (Angestelltenkultur, Kino, Detektivroman und Offenbachiaden), um im zweiten Akt – ausgehend von Kracauers Pariser Exil, wo er sein Buch über Jacques Offenbach schreibt – ins 19. Jahrhundert zurückzuswitchen: ins Paris der Tanzlokale (mit ihrer Cancan-Mode), der Petite Presse und der florierenden Operettenkultur. Querverbindungen zwischen den musikalischen und publizistischen Kleingenres stellt Matala wiederholt und anregend her, auch im Rückgriff auf Kracauer, der Offenbachs Operetten „wie Proben musikalischer Journalistik“ empfand (S. 102).
Im dritten Akt der Studie sind wir im Second Empire von Napoleon III. angelangt: Paris befindet sich im Transformationsprozess zu einer modernen Großstadt. Die Haussmann-Boulevards werden angelegt, die großen Bahnhöfe gebaut – und ähnlich wie das Feuilleton mit der Figur des Flaneurs reagiert auch das Musiktheater auf die moderne Verkehrsinfrastruktur: Offenbachs La Vie parisienne (1866) spielt auf einem Bahnhof. In einigen Operetten und Bühnen-Revuen wird die Figur der vornehmen Passantin zu einer Institution – nicht nur in Paris, auch im Wien der zweiten Jahrhunderthälfte. Hier schult der Walzerkönig Johann Strauß im Wettstreit mit Offenbach zum Operettenkönig um ( Die Fledermaus , 1874), hier avanciert Franz Lehár vom Militärkapellmeister zum populärsten Operettenkomponisten seiner Zeit ( Die Lustige Witwe , 1905), hier provoziert die „Industrialisierung der Produktion“ (S. 273) von Operetten den Publizisten Karl Kraus, der in seinen Schriften den Konnex zwischen der musikalischen und feuilletonistischen „Dekorationswut“ zieht.
Seit Kraus wird das gleichermaßen Ornamentale von Operette und Feuilleton als Ablehnungsdiskurs virulent, der sich in den 1920er und 1930er Jahren intensiviert: Das Feuilleton mit seiner Neigung zur sprachlichen Draperie unterliegt einerseits pauschaler Generalkritik (einschlägig: Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel mit seiner Kritik am feuilletonistischen Zeitalter, die 1934 in der Neuen Rundschau vorabgedruckt wurde), andererseits wird es zur Zielscheibe spezifisch völkischer, antisemitischer Ressentiments (Adolf Bartels). Zugleich geht das Zeitalter der Operette zu Ende: Mit der NS-Machtergreifung wandern prominente Komponisten wie Oscar Straus oder Emmerich Kálmán in die Vereinigten Staaten aus. Und die Gattung hat sich – unabhängig von den politischen Zeitläuften – sowieso überlebt, wie Matala bereits in der Ouvertüre ihrer Studie (S. 7-10) deutlich macht, wo sie aus einer Rundfrage der Theaterzeitschrift Die Scene zitiert. Die hatte Komponisten, Librettisten und Sänger gefragt, ob Brechts Dreigroschenoper die Zukunft der Operette sei.
Ein revuehafter Ertrag
Ethel Matala de Mazza liefert eine punktuell verschränkte Ideengeschichte zweier Gattungen, deren Kennzeichen es ist, flüchtig auf Befindlichkeiten des Zeitgeists und Vorlieben des Publikums zu reagieren. Es geht „um die Gewandtheit, den Witz und den Aktualitätssinn, den sie entwickeln, um zu erkunden, was die Menge beschäftigt und bewegt“ (S. 26). Die Studie folgt einem kulturwissenschaftlichen Ansatz und hier neueren Theorien zur popular culture . Der gängigen „Diskreditierung des Populären“ (S. 13) stellt Matala eine Wertschätzung kleiner Formen entgegen, die für die Herausbildung der fragmentierten Moderne mindestens so bedeutsam seien wie die Hoch- und Repräsentationskultur.
Im Musiktheater-Bereich sieht sie neben der Operette Revue-Bühnen, Tanzlokale, Lichtspielhäuser, Lunaparks, „Pläsierkasernen“ (Kracauer in Die Angestellten ) aller Art. Im Bereich der Journalistik bringt Matala vorwiegend Pariser Pressegattungen (auch jenseits des klassischen Zeitungsfeuilletons) ins Spiel, die sich durch beschränkte Umfänge und gleichzeitige Unterhaltungsambitionen auszeichnen: Matala nennt die Anfang des 19. Jahrhunderts beliebte Heftgattung der Physiologien (Broschüren von geringem Umfang, die Facetten des Großstadtlebens vom Habitus der gesellschäftlichen Stände bei Tanzveranstaltungen bis hin zum Stadtklatsch einfingen). Des Weiteren thematisiert sie die Tableaus von Louis-Sébastien Mercier, die sich schon lange vor dem Paris-Umbau durch Baron Haussmann den Verkehrsrisiken in der französischen Hauptstadt widmeten. Außerdem kommt sie pointiert auf die Paris-Berichte zu sprechen, die Heinrich Heine in den 1840er Jahren für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasst hat (später unter dem Titel Lutezia in Buchform veröffentlicht). In Heines Feuilleton-Texten sieht sie ein „daguerreotypisches Geschichtsbuch“ der Juli-Monarchie, das Zeitgeschichte in ebenso kleinen Formen einfängt wie später Kracauer die Welt der Angestellten in seinem Mosaik-Verfahren.
Überhaupt bilden die Passagen zu Kracauer (S. 41-73 und S. 98-112) das Rückgrat von Matalas Studie, aber auch ihren blinden Fleck. Denn mit Kracauer als Gewährsmann analysiert Ethel Matala de Mazza gerade keinen typisch kulturindustriellen Vertreter der Textgattung Feuilleton. Diesbezüglich hätte sie Figuren wie Paul Lindenberg oder Korrespondenz-Firmen wie „Unterm Strich“, „Die Skizze“ oder „Hauptstädtische Plauderspaziergänge“ in Betracht ziehen müssen. [1] Hier, in der konfektionierten Massenware der Feuilleton-Korrespondenzen, die auf die publizistische Nachfrage nach Ad-hoc-Literatur antworteten, und nicht unbedingt in den namhaften Feuilletons vom Kaliber Kracauer wäre die populärjournalistische Entsprechung zu Operette und Revue zu suchen. Kracauers Texte haben zwar Populärkulturelles zum Objekt; doch sie selbst können – im bürgerlich-elitärenFeuilleton der renommierten Frankfurter Zeitung (FZ) erschienen – nur sehr bedingt als Ausweis von Populärkultur gelten.
Fazit
Ethel Matala de Mazza hat eine erfrischend interdisziplinäre Studie zur Geschichte populärer Presse- und Musik-Genres in Paris, Wien und Berlin vorgelegt. Die Erkenntnisse zu Operette, Feuilleton und verwandten Spielarten werden eher en detail als systematisierend dargeboten – was den Gegenständen und ihrer Neigung zur „Zerstreuung von Öffentlichkeiten“ (S. 17) geschuldet sein mag. Das Stichwort der „Mikrologie“, das in Matalas Studie wiederholt auftaucht (S. 11, S. 21), scheint der Autorin ein Stück weit selbst zum Motto geworden zu sein – was den Ertrag ihrer Analysen im Kleinen nicht schmälert, fürs Große und Ganze jedoch latent abschwächt. Jörg Später, der viel gelobte Kracauer-Biograf, resümierte zu Matalas Studie: Sie „versinkt […] in Einzelheiten, die vom Material bestimmt sind“ . Weitergehende Analysen zum Formenwandel der Moderne – etwa zur Frage, wo Populäres in Populismus umkippt – sind mit diesem Buch auf jeden Fall angeregt und wünschenswert.
Marc Reichwein , 12.11.2019
Anmerkungen:
[1] Zu Paul Lindenberg vgl. Haacke, Wilmont: Handbuch des Feuilletons. Band 1. Emsdetten 1951, 210-216. Zu den Feuilleton-Korrespondenzen vgl. Graf, Andreas/Pellatz, Susanne: Feuilleton-Korrespondenzen. In: Jäger, Georg (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1, Teil 2. Berlin 2003, 514-515