Wolff A. Greinert: Hans Weigel. „Ich war einmal…“. Eine Biographie. Mit einem Vorwort von Elfriede Ott und einem Beitrag von Prof. Dr. Johann Hüttner. Wien: Styria Premium 2015. 416 S. ISBN 978-3-222-13430-2. Preis [A]: 29,90

 

Ein Shakespeare ist es nicht, dem sich Wolff A. Greinert in der mehr als 400 Seiten umfassenden Biographie zu nähern versucht: Hans Weigel, Österreichs berühmt-berüchtigtster Theaterkritiker, hat mehr Lebensdokumente hinterlassen, als sich ein Biograph je ernsthaft wünschen kann. Sie reichen von Briefen, Interviews und autobiographischen Romanen bis hin zu unzähligen Berichten von Freunden und Feinden; hinzu kommt ein unüberschaubares feuilletonistisches Oeuvre, das Aufschluss über Denken und Wirken des streitbaren Kritikers gibt. Greinert hat sich nicht nur gründlich mit diesen Materialien, sondern auch mit wissenschaftlicher Literatur zu Weigel und seiner Zeit auseinandergesetzt sowie Gespräche mit Bekannten und Zeitgenossen geführt: Das Ergebnis ist ein umfangreiches Buch, das sowohl Lebensstationen als auch grundlegende Einstellungen des Theatermannes nachzeichnet, ohne Zeitumstände aus dem Blick zu verlieren.

Darin liegt zweifelsohne die Stärke dieser Biographie: Der Schilderung von sozio-politischen Hintergründen gewährt Greinert relativ viel Raum – so werden etwa der Untergang der ersten Republik oder die harten Lebensbedingungen der Exilanten, die vor der nationalsozialistischen Verfolgung in die Schweiz geflüchtet sind, genau beschrieben (dass dabei Weigels Österreichpatriotismus neben der harschen Kritik am Bestreben der Schweiz, nur einer Mindestzahl an Einwanderern Asyl zu gewähren, aus heutiger Sicht beklemmend anmutet, ist ein von Greinert wohl nicht intendierter, aber einträglicher Nebeneffekt bei der Lektüre). Auch in Hinblick auf kulturelle Prozesse strebt der Autor eine Synthese zwischen historischen Fakten, kollektiven Erfahrungen einer Generation und Erinnerungen von Einzelpersonen an, um ein möglichst umfassendes Bild der Zeit zu entwerfen. Dabei findet vor allem das künstlerische Umfeld Weigels Berücksichtigung, sodass sich die Biographie auch wie eine kleine Literaturgeschichte Österreichs liest, die Netzwerke und Wirkungszusammenhänge der Kulturszene – vom politischen Kabarett der Zwischenkriegszeit bis herauf zur antikommunistischen Kulturpolitik während des Kalten Krieges – aufzeigt.

Greinert weiß viel dazu zu sagen – manchmal vielleicht zu viel: Er listet unzählige Kollegen, Freunde, von Weigel geschätzte und geförderte Künstlerinnen und Künstler auf, er beschreibt Theateraufführungen und die darin auftretenden Schauspielerinnen und Schauspieler, er erzählt, wer bei Weigels Geburtstagsfeier dabei war, auf welchem Papier er seine Erinnerungen niederschrieb und wie viele Passagiere die zweimotorige Maschine, mit der er nach Irland flog, fassen konnte. Wir erfahren die Namen aller Chefredakteure des Nebelspalter von 1921 bis 1993, in welchem Jahr Gerhard Bronner heiratete, wo sich das Geschäft von Elfriede Otts Eltern befand und welche Chirurgin Hans Weigel einen Herzschrittmacher einsetzte. Dem Leser wird schließlich nicht vorenthalten, dass sich Ingeborg Bachmann von ihrem Liebhaber und Mentor Nylonstrümpfe, Sommerschuhe der Größe 37, ein rosa oder blassfliedernes Nachthemd und vor allem „Unterkleider und ein Hoserl dazu“ wünschte, denn der „jungen Dame im Nachkriegswien war dünne, sommerliche Unterwäsche wichtig“, wie Greinert mit Gewissheit sagen kann (S. 161).

Spätestens hier wünscht man sich einen reflektierteren Umgang mit den Quellen: Greinert hätte gut daran getan, stärker zu selektieren, um dem Leser eine Flut an irrelevanten Informationen zu ersparen. Auch in Hinblick auf Weigels Weggefährten hätte eine Beschränkung auf wichtige Namen wie zum Beispiel Jura Soyfer, Friederike Mayröcker oder Marlen Haushofer (auf die zu Recht etwas ausführlicher eingegangen wird) der Qualität des Buches keinen Abbruch getan, insbesondere dann, wenn Gründe für die Auswahl genannt worden wären. Tatsächlich verzichtet Greinert größtenteils darauf, Ziel- und Schwerpunktsetzungen transparent zu machen – so bleibt beispielsweise im Dunkeln, warum erst am Ende des Buches knapp auf Weigel als Sprachkritiker eingegangen oder seine intensive Auseinandersetzung mit Karl Kraus nicht näher analysiert wird.

Schwerer wiegen fehlende methodische Reflexionen dann, wenn es um das komplexe Verhältnis von biographischer Wahrheit und konstruierter Wirklichkeit geht. Greinert verabsäumt es bisweilen, Aspekte wie Adressatenbezug oder Art der Veröffentlichung der verwendeten Texte zu berücksichtigen, um ihren Aussagegehalt kritisch zu hinterfragen. Romanfiguren wie Peter Taussig aus Unvollendete Symphonie oder Peter aus Niemandsland werden etwas vorschnell als Sprachrohre Hans Weigels zitiert; Bachmanns Selbstaussage in einem Brief, die Korrespondenz zwischen ihr und Weigel sei „aus Fleisch und Blut“ (S. 160), reicht wohl ebenso wenig wie das Etikett ,Autobiographie‘ aus, um alles für bare Münze zu nehmen. Inwiefern Berichte von engen Vertrauten als aufschlussreiche Quellen zur Beweisführung dienen können, bleibt fraglich – Zweifel kommen zumindest dann auf, wenn die These, Autorinnen hätten von Weigels Schwierigkeiten, erotische und literarische Interessen auseinanderzuhalten, profitiert, mit einem Zitat von Elfriede Ott belegt wird: „Das ist unfassbar. Er war ja wirklich nicht schön, aber die Frauen sind geflogen auf ihn.“ (S. 199)

Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass Greinert Weigels Berichten mit zu wenig Distanz begegnet: Nicht jede Passage lässt klar erkennen, ob Greinert recherchierte Fakten, Ansichten Weigels oder seine eigene Meinung wiedergibt (ein Effekt, der nicht zuletzt dadurch verstärkt wird, dass auch Hervorhebungen mit doppelten Anführungszeichen gekennzeichnet sind, sodass sie zumindest auf den ersten Blick nicht mehr von wörtlichen Zitaten unterschieden werden können). Greinerts begeistertes Pathos – es ist immer wieder von „hinreißenden“ Komikerinnen (S. 87), „spannenden und erregenden“ Handlungen (S. 121), „hervorragenden“ Schauspielerinnen (S. 207) „mit einem herzhaft wienerischen Naturell“ (S. 93) und „phänomenalen“ Aufführungen (S. 325) die Rede – trägt auch ein wenig dazu bei, dass man sich oft nicht mehr sicher ist, ob nun Hans Weigel oder doch sein Biograph spricht.

Dabei ist Greinert durchaus um eine „objektive“ Darstellung, wie sie Ott in ihrem Vorwort fordert (S. 6), bemüht: „Es ist“, so der Autor, „nicht Aufgabe einer Biographie zu urteilen oder zu werten, sondern Gegebenheiten darzustellen, damit der Leser selbst Stellung beziehen kann“ (S. 254). Ermöglicht werden soll dies durch den Vergleich unterschiedlicher Perspektiven, weshalb Greinert Weigels Verrissen immer wieder Rezensionen gegenüberstellt, in denen eine andere Meinung vertreten wird; auch entgegengesetzte Aussagen über Weigel werden mehrmals nebeneinander abgedruckt. Auf eigene Urteile verzichten will der Biograph dann aber doch nicht: Immer wieder schaltet er sich als wertender Kommentator ein, wobei seine Bewunderung für Weigel, die er schon im ersten Kapitel offen kundtut, deutlich zum Tragen kommt. Zwar erlaubt er sich, Weigel mitunter als „schulmeisterlich“ (S. 154) oder „anmaßend und überheblich“ (S. 181) zu bezeichnen; zumeist aber ist das Lob überschwänglich genug, um am Rande erwähnte Kritik zu übertönen – etwa wenn Greinert dem Rezensenten Weigel huldigt:

„Liest man heute […] seine Kritiken, so erfreut man sich an der Schärfe und am Witz seiner Formulierungen, an der Brillanz seiner Verrisse, an der Treffsicherheit seiner ideenreichen Wortschöpfungen und der Fantastik seiner Vergleiche, die heute bei manchem Leser Freude, ja Heiterkeit, bei anderen aber auch Entsetzen und Verständnis für die Reaktionen der Betroffenen hervorrufen.“ (246f)

Dass Weigel manchmal, wie Greinert es ausdrückt, „weit über das Ziel hinaus[schoss]“ (S. 174), wird nicht verhehlt, jedoch zumeist durch besondere Umstände zu erklären versucht. Weigels Einsatz für den Brecht-Boykott sei als allgemeiner „Auswuchs antikommunistischer Gesinnung“ (S. 307) vor der Folie des Kalten Krieges zu verstehen, wobei Greinert Weigels Unbeugsamkeit einiges abgewinnen kann: Er habe sich „differenziert, mit klaren und doch sehr treffsicheren Bemerkungen“ (S. 306) gegen Brecht-Aufführungen ausgesprochen und auch unmittelbar nach Brechts Tod „Tatsachen beim Namen“ genannt, während Marcel Reich-Ranicki nur einen „braven Text“ (S. 303) als Nachruf geliefert habe. Auch bei Weigels abwertender Schilderung seiner ersten Begegnung mit Ingeborg Bachmann, in der sie als eine nichtssagende, verzagte Studentin beschrieben wird, lässt Greinert Milde walten: Zwar empfindet auch er den Text als „überheblich“, fügt aber hinzu, dass Bachmann „damals sicher noch nicht voll erwachsen, sondern eine noch Suchende, vielleicht sogar leicht zu Beeindruckende war“ (S. 154). Wie Greinert zu derartigen Einsichten gelangt, ist nicht ganz klar – die Selbstzweifel, die Bachmann in den Briefen an Weigel äußert, dürften ihn aber in seinem fixen Urteil über die psychische Disposition der Autorin bestärkt haben. So kann er auch erklären, warum Bachmann die vom Verlag vorgeschlagenen Änderungen ihres Romans nicht vornehmen wollte: „Eine weniger empfindliche Autorin hätte es sicher getan, ihr aber lag es nicht, hier auf Wünsche anderer einzugehen“ (S. 175).

Wenig nachsichtig verfährt Greinert mit Weigels Gegnern – ein sexistisches Spiegel -Zitat, das sich gegen Käthe Dorsch richtete, die Weigel nach einer vernichtenden Kritik geohrfeigt hatte, bleibt unkommentiert stehen: „Wenn sich das einbürgert, dass man für schlechte Kritiken Ohrfeigen verteilt, so sind die Folgen unabsehbar: Da werden dann Schauspielerinnen für gute Kritiken dem Kritiker eben Liebesnächte schenken müssen“ (S. 278). Auch der Aussage eines profil -Lesers, Sigrid Löffler sei „eine schrecklich arme und frustrierte Frau“ (S. 196), widerspricht Greinert nicht – schließlich sieht auch er sich dazu verpflichtet, gegen Löfflers These, Hans Weigel habe in erster Linie zweit- und drittklassige Autorinnen und Autoren gefördert, mit lebensphilosophischen Weisheiten anzuschreiben:

„Da Weigel glühender Anhänger der Wiener Fußballmannschaft Austria war […], sei hier ein Vergleich mit dem Breitensport erlaubt. Es ist hinlänglich bekannt: Fördert man die Jugend, die jungen Talente nicht, können sich die Spitzen daraus emporstrebend viel schwerer, oft gar nicht entwickeln. Das gilt für viele Bereiche unseres Lebens […].“ (S. 196)

Einen etwas differenzierteren Blick auf Weigel wirft Johann Hüttner, der in einem (zu) kurzen Kapitel auf dessen Verhältnis zu Johann Nestroy eingeht. Hüttner berücksichtigt sowohl Einflüsse von Karl Kraus als auch Weigels bühnenpraktischen Zugang zu Nestroy, wobei er Widersprüche nicht ausspart: Einerseits habe Weigel stets lautstark gegen „theatralische Versündigungen an Nestroy“ (S. 135) protestiert, andererseits, so Hüttner, mit seinen unterhaltsamen Bearbeitungen viel Geld verdient. Einerseits sei er für einen satirisch-scharfen Nestroy eingetreten, habe aber andererseits die Inszenierungen des marxistisch orientierten Theaters an der Scala abgelehnt, obwohl gerade dort das Hauptaugenmerk auf sozialkritische Aspekte gelegt wurde.

Hüttners Kapitel – eingeschoben zwischen den Ausführungen zu Weigels Zeit im Exil und seinem Neubeginn in Wien – fügt sich an dieser Stelle nicht wirklich ins Buch, was aber insofern nicht weiter stört, als Greinert selbst im Laufe des Texts die Chronologie zugunsten einer schwerpunktmäßigen Struktur aufgibt. Dies führt zu einer Reihe von (manchmal mühseligen) Wiederholungen, Rückgriffen und Vorausdeutungen, ermöglicht aber auch, dass wichtige Aspekte – etwa Weigels schwieriges Verhältnis zum Judentum oder seine Molière-Übersetzungen – in gebührender Ausführlichkeit behandelt werden können. So wird die Biographie zu einer Mischung aus Lebensgeschichte und Zeitzeugenbericht, Themenanalyse und Werkinterpretation. Dass sich daraus ein Sammelsurium von Namen, Ideen und Meinungen ergibt, passt zu einem Buch, in dessen Vorwort Mozart und Schubert neben Rainhard Fendrich stehen – und, bei allen Einwänden, irgendwie auch zu Hans Weigel.

 

Maria Piok , 03.11.2016

Anmerkung:

Der Titel dieses Beitrags zitiert ein Gedicht von Ernst Jandl, das bei Weigels Beerdigung vorgetragen wurde (S. 374).