Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990. München: C.H. Beck 2015. 327 S. mit 23 Abb. ISBN 978-3-406-66853-1. Preis [A]: 25,70 €

 

Ruinen

Im Zwischen der Theorie stehen Schraffuren. Eine Leseszene, die passionierten Lesern vertraut sein dürfte. Erfordert konzentriertes Lesen neben Kopf- auch Körper- bzw. Bleistiftarbeit, können die so gesetzten Wegmarken, aus der Rückschau betrachtet, oft keine Pfade des Denkens mehr anzeigen. Wohl aber lässt sich noch aus ihnen lesen, weisen sie doch zurück ins eigene Innere, die individuelle Lesesozialisation. In den zerfledderten Theoriebänden seiner Studienzeit blätternd wundert Philipp Felsch sich leicht ungläubig über die Heftigkeit seiner damaligen „Bleistiftzeichen“. Felsch liest seine Spuren aber nicht als persönlichen Spleen, sondern erblickt hierin die Signaturen einer noch nicht zu lange vergangenen ‚Epoche der Theorie‘. Was ihm in diesen bleiernen Ruinen noch einmal lebhaft aufscheint, ist vielmehr eine Pathosformel der Theoriearbeit. In ihr wird eine affektive Dimension des Theoretischen sichtbar, die bislang in noch keiner der zahlreichen Theoriegeschichten des 20. Jahrhunderts so recht zur Sprache gekommen ist. Beschrieben findet man in diesem Buch nicht die Genese und den Gehalt von Kritischer Theorie, Psychoanalyse, Strukturalismus und nachfolgender -ysen und -ismen; analysiert wird stattdessen die Formation einer intellektuellen Gefühlslage. Noch kürzer, und in Felschs Worten, geht es um die Frage, „was Theorie einmal war“.

 

„Traumfabrik“ der Theorie. Eine „Ideenreportage“

Das Buch gliedert sich dazu in vier historische Kapitel: 1965 – 1970 – 1977 – 1984. Ein roter Faden, der sich aus gänzlich heterogenen Elementen ergibt: der Gründung einer Buchreihe, der Gründung eines Verlags, einem einschneidenden gesellschaftspolitischen Datum, schließlich dem Tod eines zentralen Theorie-Autors. Angesichts dieser oberflächlichen Heterogenität der Beschreibungsebenen überrascht es umso mehr, dass über die elf Unterkapitel sehr präzise historische Umbrüche herausgearbeitet werden: So wird die Gründung der Suhrkamp-Theorie- Reihe exakt parallel geführt mit einer ersten Theorie-Konjunktur in Gestalt der Kritischen Theorie, aber vor allem der Theoretiker-Persönlichkeit Theodor W. Adornos; so die politischen Umwälzungen des ‚Deutschen Herbstes‘ mit neuen Formen des Denkens und Lesens; und so der Tod Michel Foucaults mit veränderten Medien und Dispositiven der Theorie.

Diese Substruktur soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das vorherrschende Darstellungsprinzip wiederum ein nicht-hierarchisches bildet. Die Vielheit kurzer, seriell gereihter Montageszenen lässt hier die Überlagerung verschiedener Beobachtungsebenen wie auch die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen im ‚langen Sommer‘ hervortreten. Wie könnte man ein solches (Meta-)Theorie-Genre nennen? Eine alte Foucault-Lesespur wiederaufnehmend macht Felsch einen Vorschlag und verweist auf den Begriff der „Ideenreportage“, welche „die Analyse des Gedachten stets mit der Analyse des Geschehens“ zu verknüpfen sucht. Man könnte hier aber ebenso die Parallele zur Literatur ziehen. Nicht nur stellen das Prinzip der Montage und die reiche Integration von Abbildungen und Quellenmaterial (Kinolisten, Textanstreichungen, Postkarten, Fotografien) eine Nähe zu den dokumentarischen Schreibformen der Klassischen Moderne her. Knapp 90 Jahre nach Alfred Döblins Großstadt-Roman Berlin Alexanderplatz rückt auch Felsch mit dem dilettierenden Autor und Merve-Verleger Peter Gente einen echten Anti-Helden ins Zentrum des Geschehens mit Schwerpunkt West-Berlin. Biberkopf und Gente. Wenn über die Wanderungen des Ersteren die Großstadt selber entsteht und zum Protagonisten erhoben wird, ersteht auf den Spuren des Letzteren ein in erster Linie historisches Panorama des Theoriegeschehens bzw. ‚- betriebs ‘ dreier Jahrzehnte (1960–1990).

 

An den Rändern der Theorie – ‚Theoriebetrieb‘

Diese analoge Begriffsbildung eines ‚Theoriebetriebs‘ kann aber, wenn überhaupt, nur mit einer – zugleich entscheidenden – Einschränkung gelten. Umfasst ‚Literaturbetrieb‘ mit Autoren, Verlegern, Medien und Institutionen jene heterogenen Elemente, aus denen sich eine literarische Öffentlichkeit herausbildet, so richtet sich Felschs Fokus dagegen nicht auf eine über die etablierten Medien und Institutionen vermittelte Breitenwirkung des Literarischen bzw. Theoretischen. Mag sein, dass Theorie in den Feuilletons der Zeitungen sowohl besprochen wie gedruckt worden ist, mag sein, dass die Geschichte der Geisteswissenschaften ohne ihre Theorie-Rezeption eine völlig andere gewesen wäre. Felschs zentrale Beobachtung ist jedoch eine überraschend andere, die nämlich, dass sich das „Geschehen“, die Hauptdynamik der Theorie-Entwicklung der letzten Jahrzehnte gerade nicht innerhalb der Feuilletons bzw. der Universitäten, ja nicht einmal innerhalb wohl etablierter Verlage, sondern stattdessen an den Rändern all dieser Institutionen ereignet hat. Während sich der universitäre Kanon vorwiegend noch an den Klassikern der Philosophiegeschichte abarbeitete, spielten sich Rezeption wie Produktion neuer Theoriebildungen stets jenseits dessen ab. Was dort als nebulöses „Gemurmel“ diskursiv ausgeschlossen wurde, konnte hier auf begeisterte „Fans“ treffen. Nach der politischen Revolte von 68 gab es in diesen Randzonen eine nicht weniger politische, jedoch verborgene, weil stille Revolte der Theorie-Leser.

 

Von Bleiwüsten und Design-Zeitschriften – TheorieBuchMarkt

Soweit die These. In der Heterogenität seiner Darstellung verfolgt Felsch diesen ‚subalternen‘ Theoriebetrieb nun auf mehreren Ebenen. So erfährt man beispielsweise zunächst Vieles über die Geschichte des (alternativen) TheorieBuchmarktes dieser Zeit. Zwar steht an dessen Anfang die bereits erwähnte Suhrkamp-Taschenbuch-Reihe, ungleich größere Bedeutung für die Theoriebildung in Deutschland misst Felsch jedoch dem weitaus kleineren, im Jahr 1970 von Peter Gente gegründeten Merve-Verlag zu. Nicht ohne Grund, erwies sich doch das Suhrkamp-Theorie -Schiff gerade durch seine mit Hans Blumenberg, Jacob Taubes, Dieter Henrich und Jürgen Habermas mehr als hochkarätige Herausgeber-Besatzung als unwendig und wäre beinahe gekentert. Dementgegen waren die ersten Anfänge des Merve-Kollektivs die von begeisterten Adorno-Lesern und -sammlern, nicht aber die von Büchermachern. Die ersten Merve-Titel, die 1970 erschienen, waren vor allem eines: schlecht gemachte Bücher. Bleiwüsten in weiß-grauen Einbänden und starrer Klebebindung. Deutlich wird hier, dass erst das Zusammenspiel mehrerer, recht plötzlicher Veränderungen des Buchmarktes die Verlagsgründung der Merve-Autodidakten begünstigt hatte: so etwa das Aufkommen von Taschenbüchern, deren Einführung im Hause Suhrkamp eine lange verworfene und bis zu ihrer Durchsetzung heftig umstrittene Entscheidung gewesen war. Desweiteren die immense Fülle an Theorie-Raubdrucken („Suhrbier“), die in dieser Phase aufkamen. So hatte also bei der Verlagsgründung bereits ein Markt für billige Theoriebücher in schlichter, asketischer Aufmachung bestanden, den Merve in den folgenden Jahrzehnten ausbauen und schließlich für sich behaupten sollte. Nach Gentes Trennung von Merve Lowien im Jahr 1974 war es dessen neue Gefährtin Heidi Paris, die in der Folgezeit Merve in einer Zwischenzone von Theorie und Kunst etablierte. Merve stand damit am Beginn einer sich neu herausbildenden engen Symbiose zwischen Kunst und Theorie. Diese pictoriale 180-Grad-Wende binnen weniger Jahre lässt sich vor allem an einer Reihe von neugegründeten Theorie-Zeitschriften ablesen, die sich durch die Integration von Bildmaterial, das gleichberechtigte Nebeneinander von Theorie-Text und (Theorie-)Bild sowie durch ein avantgardistisches Layout auszeichneten: die französische Zeitschrift Traverses (1975-1994), die Zeitschrift Sémiotexte der Columbia University (1974) sowie die Merve-Eigenkreation TUMULT. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft (1979).

 

Wie wird man ein Theoretiker? – Inszenierungspraktiken

Mit der Entwicklung hin zu Design-Theorie und Theorie-Design ist ein zweiter Bereich benannt, der mit dem Buchmarkt in engem Zusammenhang steht: die Inszenierungspraktiken von Theorie. Bei Felsch kommen mindestens zwei Beispiele vor, an denen sich die erfolgreiche Inszenierung von Theorie-Autoren beobachten lässt. So wird etwa deutlich, dass sich die enorme Popularität Theodor W. Adornos in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik nicht allein aus seiner akademischen Arbeit heraus erklären lässt. Entscheidend dazu beigetragen hatten daneben wiederum mediale Veränderungen. Gerade die u.a. auch von Adorno anfangs heftig bekämpfte Einführung günstiger Taschenbücher bildete eine entscheidende Bedingung für den durchschlagenden Erfolg seiner Minima Moralia zum Theorie-Bestseller. Und ebenso erreichte Adorno ungleich mehr Hörer als in seinen berühmten Vorlesungen an der Frankfurter Universität durch seine regelmäßigen Auftritte im Radio. Insbesondere seine Bereitschaft, hier nicht ausschließlich zu soziologischen bzw. philosophischen Fachthemen zu sprechen, sondern auch auf aktuelle gesellschaftspolitische Themen Bezug zu nehmen, festigte dabei seinen Status als Theorie-Autor und Intellektueller.

Hingegen geben die Beziehungen, die Peter Gente und Heidi Paris ab 1977 zu Michel Foucault unterhielten, einigen Aufschluss über die Bedeutung des wechselseitigen Zusammenspiels von Theorie-Autoren und Verlegern. Angefangen von der ersten Kontakt-Aufnahme, über die 1977 in Paris geführten und dokumentierten Interviews mit dem Autor, seine Mitarbeit in den Verlags-Zeitschriften und die Publikation kleinerer Merve-Schriften, bis hin zu seinem Auftritt während des TUNIX-Kongress 1978 war es die Arbeit von Gente und Paris, die maßgebenden Einfluss auf die wachsende Bekanntheit Foucaults in Deutschland hatte.

Im Laufe der Lektüre wird deutlich, dass Adorno und Foucault deshalb zu führenden Theoretikern werden konnten, weil sie gleichsam auf allen Parketts der Theorie-Welt zu Hause waren: Sie waren charismatische Hochschullehrer, brillante öffentliche Redner, wussten verschiedene Medienformate für sich zu nutzen – und konnten nebenbei noch ganz vorzüglich schreiben. Neben diesen beiden Erfolgskarrieren führt Felsch en passant aber immer auch noch eine Reihe von Kontrastfiguren mit, die diesen Status nicht ganz erreicht hatten – weil sie eben nicht in der gleichen Weise alle Felder zugleich bespielen konnten: Jacob Taubes etwa, dessen Assistent Gente ab 1965 war, stand als Theorie-Herausgeber wie als Hochschullehrer in sehr hohem Ansehen, nicht unbedingt aber als Theorie-Autor; Hans Blumenberg hingegen wurde für jedes seiner monumentalen Theorie-Werke bewundert und über Generationen hinweg intensiv gelesen, trat aber in der Öffentlichkeit praktisch nicht hervor; Carl Schmitt schließlich erlangte als präziser Theoretiker des Politischen wie als ‚penseur maudit‘ seit den späten Siebzigern erneute Aktualität, blieb aber als Autor-Persönlichkeit nach 1945 natürlich politisch diskreditiert.

Auf Gentes Spuren lässt sich aber nicht nur etwas über Autorinszenierung lernen, sondern ebenso über die Inszenierungspraktiken dezidierter Nicht-Autoren: die der Verleger. War die Suhrkamp-Theorie -Reihe als eine Art Flaggschiff-Projekt mit hohen Qualitätsstandards die Buchgestaltung wie die Auswahl der Autoren betreffend gegründet worden, so setzten die Merves die Ausrichtung ihres Verlages gegen diese hoch gesetzten Ansprüche bewusst ab. Hatten Layout und Gestaltung der ersten Merve-Titel ihren Grund vor allem noch in technischem Unvermögen, erhielt gerade dieses unvollkommene Design jedoch rasch das Image des Nonkonformen, Randständigen, zugleich aber auch Authentischen. Als Marke konnte sich Merve über diesen technischen Dilettantismus etablieren, weil es Gente/Lowien gelang, damit die Erwartungshaltung eines theoretischen Surplus zu verbinden, das sich vor allem über die profunden Text- und Autorenkenntnisse der Verleger begründete. „Wir sind keine Profis, sondern Leseratten“, lautete ein zentraler Wahlspruch des Kollektivs. Die Logik dahinter: Schlechte Bücher, aber neue – und vor allem: ‚gute‘ – Theorie!

 

Die Zeit des Lesers

Diese Marken-Logik funktionierte letztlich aber nur deshalb so gut, weil mit dem Merve-Verlag zugleich ein neuer Lesertyp mit erfunden wurde. Dass die Stilisierung der Merves als Leseratten keineswegs eine leere Werbe-Phrase war, wird ebenfalls im Laufe der Lektüre deutlich. Denn parallel zu dem mit Freunden betriebenen Adorno-„Informationskartell“ hatte Gente selbst bereits zu Studienzeiten damit begonnen, Texte der französischen Denker zu sammeln, ein Archiv, aus dem nach der Verlagsgründung schließlich die ersten Merve-Titel hervorgehen sollten. Und auch Jahre nach der Verlagsgründung hatten die mehrmals wöchentlich stattfindenden Besprechungen des Merve-Kollektivs häufig aus Theorie-Sitzungen bestanden. Damit führt Felschs Buch auf eine dritte und die vielleicht wichtigste Ebene: auf die Praktiken des Theorien-Lesens. War 1967 mit Roland Barthes proklamatorischer Rede vom ‚Tod des Autors‘ in der Schlusswendung die pointierte These der ‚Geburt des Lesers‘ einhergegangen, so fand diese These hier wenige Jahre später ihre realhistorische Entsprechung. Es gelingt Felsch anschaulich darzustellen, dass sich mit Gentes Beschäftigung mit unterschiedlichen Theorie-Strömungen zugleich unterschiedliche, jeweils theorieadäquate Lesestile verknüpften. Adornos Minima Moralia hatte Gente zu Beginn seiner Studienzeit noch fünf Jahre lang stets mit sich getragen und deren hermetisch anmutende Aphorismen nur langsam, gleichsam in homöopathischen Dosen, konsumiert. Auch nachdem 1974 Deleuze/Guattaris Anti-Ö dipus in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen war, hatte das Merve-Kollektiv den Text noch gemeinsam „Satz für Satz“ laut und reihum gelesen. Erst mit den ersten Texten, die heute dem Poststrukturalismus zugerechnet werden, Roland Barthes Le plaisir du texte (1973) und Deleuze/Guattaris Rhizom (1976), etablierte sich ein neuer theoretischer ‚Denkstil‘. Lesen wurde nun auch als individuelles, ‚stilles‘ Lesen mit dem Marx’schen Ideal selbsttätiger Arbeit vereinbar. Vor allem aber war die Interpretation nicht mehr an eine hermeneutische Wort-für-Wort-Auslegung gebunden. Einen wiederum antiautoritären wie produktiven Gestus erhielt hingegen das selektive Gegen-den-Strich-Lesen. Gegenüber einem robusten Theorieverständnis systematisch aufeinander aufbauender, fest umrissener Begriffe wurden nun Theorien vielmehr als Baukästen begriffen, derer sich der Leser frei bedienen und mit denen er als Theoretiker produktiv weiterarbeiten konnte.

Als ganz so still erwies sich die Revolte dann aber eben doch nicht. Für das letzte Kapitel, Dispositive der Nacht , werden bei Felsch die Theorie-Wälzer zugeklappt und der Leser folgt den Protagonisten an jene Orte, an denen im langen Sommer nach Feierabend die Theorie-Arbeit stattfand. Der auf der Ebene der Buchgestaltung beobachtete Wechsel von der reinen Textpräsentation zum illustrierten Theorie-Magazin findet hier sein räumliches Pendant im Übergang von der (Sponti-)Kneipe zum (New-Wave-)Club. Während spätestens seit 68 die Kneipe einen öffentlichen Kommunikationsraum bildete und erst die Theke zur allgemeinen Theorie-Diskussion zu ermächtigen schien, verlor diese Art Kneipen-Theorie in den Ecken der seit den späten Siebzigern neu aufkommenden Punk- und später Elektro-Schuppen einerseits an dialektischer Schärfe, ging aber dafür über die Wechselwirkung mit der neuen Musikkultur eine wiederum produktive Allianz mit den Künsten ein: Theorie war nun auch tanzbar!

 

Discours et Bricolage

Aber wäre dies auch für einen Analytiker beobachtbar gewesen, der nicht selber Teil dieser Theorie-Welt gewesen ist? Dass Felsch durch all jene Theorie-Schulen, die er in Verbindung setzt, zugleich selbst gegangen ist, merkt man, auch ohne das Vorwort gelesen zu haben, finden sich doch die Gegenstände der Beschreibung durchgehend als Formen der Darstellung in der Lektüre wieder. Jedoch ist Der lange Sommer kein sentimentalisches Buch! Eines der zahlreichen ironischen Details ist, dass Felsch, Jahrgang 1972, den langen Sommer allenfalls in seinen Ausläufern, größtenteils aber aus der Distanz heraus – als Leser – miterlebt hat. Vielleicht bestand die größte Schwierigkeit des Buches darin, Beobachtungs- und Beschreibungsebene mit Bezug auf die fokussierte Gefühlslage klar getrennt zu halten. Felsch gelingt es dennoch, hier die Bedingungen eines theoretischen Pathos freizulegen, das indirekt noch immer nachwirkt, ohne dabei selbst in pathetische Rede zu verfallen. Nicht nur besticht das Buch durch chirurgisch präzise historische Schnitte, nicht nur werden die zahlreichen, oft verwickelten Erzählfäden immer wieder geschickt zusammengeführt. Wenn der Leser am Ende etwa noch in Luhmanns Tiefen, seine Fußnoten, geführt wird und hier deutlich die Spuren einer Kommunikationstheorie der Kneipe ausmacht, so ist das nicht nur philologisch sehr genau beobachtet, sondern entbehrt auch nicht der Komik. Feiern ja, aber nur im Keller und mit Theorie-Brille!

 

Ende des Sommers?

Wenn Felsch den langen Sommer 1990 enden lässt, so bleibt die Frage offen, wie sich die Geschichte der Theorie(n) nach der Wende darstellt bzw. beschreiben ließe. In einem kurzen Ausblick deutet Felsch diesen Um- bzw. Abbruch lediglich an. Spätestens um 2000 wurden Theorien innerhalb der sich herausbildenden Kulturwissenschaften Teil des „akademischen Normalbetriebs“; dadurch verloren sie aber auch einen Teil ihres häretischen Potentials, es brach „die Herrschaft der gut abgesicherten Fallstudien an“ (S. 239).

Das mag stimmen, zugleich scheint es aber auch nur eine von mehreren parallelen Entwicklungen zu sein. Hinter die These vom ‚Ende‘ der Theorie, bei der sich Felsch u.a. auch auf Theoretiker wie Terry Eagleton ( After Theory ) stützen kann, lässt sich in dieser Absolutheit zumindest ein Fragezeichen setzen. Felschs Protagonisten bilden dafür wiederum das beste Beispiel, denn auch nach dem Tod des Verlegerpaares gibt es den Merve-Verlag immer noch. Auch nach der Wende wurden Zeitschriften gegründet, die sich im Grenzbereich zwischen Theorie und anderen Künsten bewegen ( Texte zur Kunst , 1990; Cargo , 2009), ebenso Theorie-Verlage (Kadmos, 1995; Diaphanes, 2001; August, 2009) und Theorie-Reihen (Matthes & Seitz‘ Fr öhliche Wissenschaft ). Und auch das Pathos der Theorie scheint nicht gänzlich verschwunden zu sein, finden doch weiterhin zahlreiche Theorie-Lesungen in Theatern, Buchhandlungen und Galerien statt, werden in sozialen Netzwerken Theorie-Happenings angekündigt, zu denen an Wochenenden hunderte Menschen strömen, entstehen auf Internet-Plattformen wie Youtube oder Vimeo eigene Kanäle, die Theorie-Videos mit hohen Klickzahlen versammeln etc. Dies alles deutet zumindest darauf hin, dass hier vielleicht doch kein derart harter Bruch stattgefunden hat. Auch nach dem Ende der großen Erzählungen scheint es ein Nachleben der Theorien gegeben zu haben bzw. zu geben – und mit ihm veränderte Formen der Kommunikation und Darstellung. Wie inszenieren sich beispielsweise gegenwärtige Theoretiker wie Slavoj Žižek, Byung-Chul Han oder die Gruppe der ‚Spekulativen Realisten‘ auf Vorträgen, in Interviews oder im Internet? Sind die Einträge in Blogs und sozialen Netzwerken oder auch nur Bild-Postings, wie die Collagen und Montagen eines Stephan Porombka, ebenfalls Theorie? Erfreulicherweise erlaubt Felschs Narrativ wiederum Kontingenzen wie Rekurrenzen. Jahreszeiten kommen und gehen. Freuen wir uns auf den nächsten Sommer!

 

Reto Rössler , 01.02.2016
Reto.Roessler@uibk.ac.at