Achim Geisenhanslüke, Michael Peter Hehl [Hrsg.]: Poetik im technischen Zeitalter. Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs. Bielefeld: transcript, 2013. 236 S. (Literalität und Liminalität, Bd. 17). ISBN-10: 3837615987. ISBN-13: 978-3837615982. Preis [A]: € 29,70.
Allen Ginsbergs langes Gedicht Howl ist vermutlich nicht nur für mich nach wie vor eine lebendige Erinnerung an den Beginn meines Studiums Ende der 1970er Jahre und an eine Zeit, in der die aus Amerika kommenden neuen lyrischen Töne sich mit einer politischen Aufbruchsstimmung verbanden. Doch wer erinnert sich heute noch an Walter Höllerers Thesen zum langen Gedicht (1965), die mehr gegen kleinkariertes Denken als gegen kurze Gedichte gerichtet waren und Sätze wie diese enthalten: „Das lange Gedicht ist, im gegenwärtigen Moment, schon seiner Form nach politisch, denn es zeigt eine Gegenbewegung gegen abgegrenzte Kästchen und Gebiete. Es läuft gegen kleinliche Begrenzungen des Landes und des Geistes an.“ [1] Wer erinnert sich heute an die Anthologien (inklusive Schallplatte!) Junge Amerikanische Lyrik (1961), und Transit , „das Lyrikbuch der Jahrhundertmitte“ (1956)? So bekannt der Name Höllerer auch immer noch ist, vor allem als Gründer der Zeitschriften Akzente und spritz (kein italienischer Aperitif, sondern Kürzel für Sprache im technischen Zeitalter ), kann man nicht davon ausgehen, dass die nach wie vor beeindruckende Vielfältigkeit und Umtriebigkeit des Schriftstellers, Herausgebers, Wissenschaftlers und Gründers des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg sowie des „Literarischen Colloquiums“ in Berlin über einen engen Kreis von Fachleuten hinaus bekannt ist.
Der kürzlich erschienene Band zu Walter Höllerer im transcript-Verlag entstand im Rahmen eines DFG-Projekts zur Erschließung des Nachlasses von Walter Höllerer und basiert im Wesentlichen auf einer Tagung, die 2009 im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg stattfand. Der an diesem Projekt und an der Tagung beteiligte Herausgeber Michael Peter Hehl ist seit 2009 wissenschaftlicher Leiter des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg, das Höllerer in seinem Geburtsort 1977 gegründet hatte. In der gemeinsam mit Achim Geisenhanslücke, Vorsitzender des Archivs, das den Nachlass Höllerers beherbergt, herausgegebenen Publikation soll es nicht „um die gewiss zentrale Figur Walter Höllerer“ gehen, sondern um die Frage, wie sich das „Interesse der Literatur- und Fachgeschichte an den Modernisierungen und Innovationen der sechziger Jahre“ (S. 8) erklären und rekonstruieren lässt: „Es geht also nicht nur um eine Personengeschichte, sondern, ausgehend von der Person Walter Höllerer, um die Institutionengeschichte des Literaturbetriebs und die Fachgeschichte Germanistik.“ (S. 9)
Der Titel verweist an der Oberfläche auf den Wirkungsort Höllerers, das „Institut für Sprache im technischen Zeitalter“ an der TU Berlin, das „nach dem Vorbild des ‚Massachusetts Institute of Technology’ eine Brücke zwischen Ingenieur-, Natur- und Geisteswissenschaften schlagen“ sollte, [2] an dem Höllerer 1960 die legendäre Veranstaltungsreihe mit Autorenlesungen unter dem Titel „Literatur im technischen Zeitalter“ startete. Der Untertitel hingegen knüpft an den 2005 vom Helmut Böttiger herausgegebenen Band „Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs“ an. Während Böttiger aber Höllerer noch als Produkt der Gruppe 47 sah, die mit der Inszenierung von eventhaften Veranstaltungen und Skandalen die Mechanismen des modernen Literaturbetriebs ‚erfunden’ hat, zeichnet dieser Band Walter Höllerer als eine Figur, die ihre Position im Literaturbetrieb gerade erst durch die Differenz zu der sich bereits in Anachronismen verfangenen Gruppe 47 etablieren konnte. So zeigt der in dankenswert unprätentiösem Stil geschriebene Beitrag von Sven Hanuschek, wie Höllerer als Schriftsteller vieles vorweggenommen hat, was die Zeitgenossen mit ‚Ratlosigkeit’ (S. 27) registrierten: „Hans Magnus Enzensberger wollte ihm nach der Verlesung eines Kapitels in Princeton 1966 das Manuskript wegnehmen, weil der Schreiber‚ nach so viel probieren und umschreiben, abschreiben, überscheiben, querschreiben [...] überhaupt nicht mehr mitreden kann, weil, er hat keine Ahnung mehr, was gut, was nicht gut ist.“ [3] Die Ratlosigkeit in der Beurteilung Höllerers, der für die einen der ‚Zampano’ war, der mit jedem konnte, für die anderen der innovative, vorausblickende Quergeist, der besonders sensibel auf seine Gegenwart reagierte und den staatspolitischen Satelliten Berlin zum Mittelpunkt des literarischen Geschehens in der Bundesrepublik machte, löst der Band mit zahlreichen erhellenden Beispielen aus dem Quellenmaterial auf: Er gründete mit Akzente eine Zeitschrift, die aufgrund ihres antiideologischen Programms („Die Zs. ist in keiner Weise konfessionell oder parteipolitisch gebunden. [...] Es gelten die schärfsten ästhetisch-kritischen Massstäbe“) [4] manche ideologischen Untiefen übertauchte und manche nicht (vgl. die von Susanne Krones geschilderte Verhinderung der Aufnahme von Autoren wie Gertrud Fussenegger, Paul Alverdes und Franz Tumler, die von Herbert G. Göpfert, dem damaligen Lektor des Hanser-Verlags vorgeschlagen waren. Nicht verhindern konnte Höllerer jedoch die Würdigung des mit einschlägigen Bekenntnissen zum NS-Regime behafteten Hanser-Autors Emil Strauß zu dessen 90sten Geburtstag). Auch der Erfolg der Hörsaal-Lesereihe 1959/60 an der TU Berlin wird mit der ideologischen Unschärfe erklärt, die aber gerade dadurch den Raum für Neues öffnete und den strengen Blick auf die Vergangenheit entschärfte: „Höllerer stiftete ein Gefühl von Einvernehmlichkeit durch bewusste Unschärfe“ (S. 75). [5] Es war Höllerer, dem es gelang, das abgeschlossene, enge universitäre Feld mit der medialen Öffentlichkeit zu verbinden und der „den Hörsaal 3010 in eine Bühne verwandele, die medial modernisierte und umgewidmete, der Literatur der Zeit ihren genuinen Sitz im Leben verhieß [...] Höllerer fokussierte nicht auf den Klärungsbedarf jüngster deutscher Vergangenheit, sondern auf Anschluss an den Technikdiskurs“ (S. 80). Michael Peter Hehl zeigt in nachvollziehbarer Weise auf, wie Höllerer die Funktionen der Gruppe 47 übernehmen konnte, weil er die nötige Weichenstellung herstellte und die dogmatisch festgelegte Gruppe 47 ablöste, indem er an die „vermeintlich ‚unpolitisch[e]’“ Tradition der literarischen Moderne und Neo-Avantgarde anknüpfte (vgl. S. 180).
Der Band schließt mit einem aufschlussreichen Abdruck eines Round-Table Gesprächs mit Volker Klotz, Norbert Miller und Michael Bogdal, das am 26. November 2009 bei der Sulzbacher Tagung „Walter Höllerer und die Literatur im technischen Zeitalter“ stattfand und wo Höllerer von seinen Zeitgenossen als Mensch beschrieben wird, der sich deutlich von den „Professoren“ unterschied, die „wie die Feldherren ihre Nädelchen, mit denen sie auf Landkarten diejenigen Lehrstühle anstachen, auf denen ihre Schüler unterzubringen waren“ (S. 214). [6]
So sehr die sachliche Zurückhaltung in allen Beiträgen überzeugt, bleibt am Ende doch noch der kleine Wunsch offen, dass die Rolle Höllerers als Promotor der „Roaring Sixties“, der mit seinen Anthologien und der Zeitschrift Akzente die Augen einer auf innerdeutsche Verhältnisse fixierten Germanistik und eines ebensolchen Literaturbetriebs für die amerikanische Beatliteratur und den französischen Nouveau Roman geöffnet hat, noch einmal deutlicher hervorgehoben und beschrieben wird. Ich schließe mich damit an Jan Rohnerts Fazit in seiner Besprechung in der FAZ an und warte ebenfalls „geduldig auf weitere Höllerer-Kolloquien in Sulzbach-Rosenberg und anderswo.“ [7] Dieser Band und das Engagement der Herausgeber lassen jedenfalls auf weiteres hoffen.
Renate Giacomuzzi , 23.6.2013
[1] Walter Höllerer: Thesen zum langen Gedicht. In: Akzente, 2 (1965), S. 128–130, hier S. 128.
[2] Michael Peter Hehl: Berliner Netzwerke. Walter Höllerer, die Gruppe 47 und die Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin, S. 155–190, hier S. 160.
[3] Sven Hanuschek: „Wo ist eine Gegenwart wach?“ Der Autor Walter Höllerer, S. 15–36, hier S. 27.
[4] Zit. n. Susanne Krones: „Neue Gedichte sind kein Luxus“. Walter Höllerer und die Akzente. S. 37–64, hier S. 41.
[5] Roland Berbig und Vanessa Brandes: „Ich begrüße Ilse Aichinger und Günter Eich“. – Höllerers Lesesaalreihe 1959/60. Ein Beitrag zur Typologie von Dichterlesungen, S. 65–96, hier S. 74.
[6] Walter Höllerer und die Literatur im technischen Zeitalter. Round-Table-Gespräch mit Volker Klotz, Norbert Miller und Klaus-Michael Bogdal am 26. November 2009, S. 213–234, hier S. 214.
[7] Jan Rohnberg: Wie die Lichtgestalt aus Sulzbach-Rosenberg den Literaturhimmel aufmischte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 41 vom 18. 2. 2013, S. 28.