Zuallererst gilt es einem potentiellen Missverständnis vorzubeugen: Bei den Texten des Bandes Man möchte immer weinen und lachen in einem, die mit dem Titelzusatz „Revolutionstagebuch 1919“ erschienen sind, handelt es sich nicht etwa um ein weiteres, neu entdecktes Tagebuch Victor Klemperers, der spätestens nach dem Sensationserfolg seiner posthum veröffentlichten Diarien aus der NS-Zeit ( Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten , 1995) zu den bedeutendsten Tagebuchverfassern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerechnet werden muss. Klemperers originäre Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit der deutschen Revolution von 1918/19, die er z. T. als Privatdozent für Romanistik an der Universität München als Augenzeuge der dortigen Räterepublik miterlebt hat, liegen seit beinahe zwanzig Jahren längst im Druck vor: Wer sie lesen will – und ihre Lektüre ist, wie die der Tagebücher Klemperers generell, natürlich nur zu empfehlen – der greife zum ersten Band der zweibändigen Ausgabe Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum von 1996, in der die Diarien der Jahre 1918 bis 1932 ediert sind. Gleichfalls 1996 brachte der Aufbau-Verlag zudem eine Neuauflage von Klemperers Memoiren unter dem Titel Curriculum Vitae auf den Markt, die seine Lebensgeschichte – nun in der Literarisierung einer bewussten Rückschau, für deren Niederschrift die ununterbrochen geführten Tagebücher von Anfang an als Quelle dienen sollten – von der Kindheit an bis zu jenem Jahr 1918 erzählen, mit dem dann die Chronologie der Tagebuchedition einsetzt.
Also alles schon da und nachzulesen? Nicht ganz. Denn wer Klemperers Tagebücher vom Winter 1918 bis in den Sommer 1920 hinein in der Ausgabe von 1996 gelesen hat, erinnert sich vielleicht daran, dass er bei der Lektüre Einblick in das mühevolle Alltagsleben eines um seine Karriere fürchtenden (und kämpfenden) Nachwuchswissenschaftlers erhalten konnte, der zumindest kurzzeitig noch mit dem Gedanken spielte, aus den steinigen Gefilden des akademischen Feldes in die benachbarten Regionen des Journalismus hinüberzuwechseln, um ein geregeltes Auskommen zu finden: Was das Tagebuch hautnah miterleben lässt, sind eindrückliche Szenen aus dem Leben des akademischen Prekariats kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs. Sie zeigen den von Leipzig nach München gezogenen Privatdozenten Klemperer nicht nur damit beschäftigt, universitäre Lehraufträge zu akquirieren, Gelegenheiten für Rezensionen in Fachzeitschriften zu ergattern, Verlagskontakte für die Abfassung von Monographien zu knüpfen und sich als Schüler Karl Voßlers in dessen persönlichem Umfeld gegenüber der Konkurrenz anderer aufstrebender Schüler zu positionieren; sondern sie berichten auch immer wieder davon, wie Klemperer die turbulenten Geschehnisse im revolutionären München der Jahre 1918/19 zum Anlass für die Abfassung journalistischer Texte nimmt, die er in regelmäßigen Abständen nach Hause an die Adresse der Leipziger Neuesten Nachrichten schickt: „heute Tagebuch der Revolution für Harms, von morgen ab Corneille“ notiert er etwa am Donnerstag, dem 17. April 1919 und spannt damit das Spektrum seiner Arbeiten und Interessen auf, das sich zwischen der journalistischen Korrespondententätigkeit im Auftrag des Leipziger Redakteur Paul Harms auf der einen Seite und der wissenschaftlichen Forschung des Philologen und Literarhistorikers, der über Pierre Corneille arbeitet, auf der anderen Seite ausdehnt. Fachprosa, Feuilleton und das – als Quellenreservoire gerade auch für die journalistischen Artikel angelegte – Tagebuch bilden eine Art Klaviatur der Textproduktion, auf der sich Victor Klemperer in jenen Jahren unermüdlich bewegt und damit vor allem eines unter Beweis stellt: dass er ein geradezu manisch Schreibender war. Indes beansprucht – zumindest im Revolutionsjahr 1918/19 – der Journalist Klemperer phasenweise immer breiteren Raum: „Das Revolutionstagebuch tritt an die Stelle dieser Notizen“ heißt es etwa am 18. April in Klemperers Diarium mit Blick auf den Bericht für das Leipziger Blatt, und unter dem 20. April steht nach einer kursorischen Schilderung der Revolutionseindrücke: „Über all das schreibe ich heute wieder ‚Revolutionstagebuch‘“.
Revolutionstagebuch also ist der Titel für Klemperers Korrespondentenberichte, die er unter dem programmatischen, meist zu „A-B.“ abgekürzten Pseudonym „Antibavaricus“ für die Leipziger Neuesten Nachrichten schreibt – und von denen seinerzeit bei weitem nicht alle im Druck erscheinen konnten, da aufgrund des zusammenbrechenden Postverkehrs vieles auf dem Weg von München nach Sachsen liegen geblieben und nicht mehr zeitgerecht angekommen ist. Diese Texte des für die breitere Öffentlichkeit schreibenden Journalisten, nicht etwa des privaten Diaristen Klemperer nun erstmals nach den erhaltenen Original-Manuskripten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist das Verdienst des neu erschienenen Bandes im Aufbau-Verlag.
Um die relativ kurzen Zeitungstexte auf Buchlänge zu strecken, hat sich der Verlag allerdings dazu entschlossen, sie in einer Art alternierenden Montage mit einem anderen, bislang unveröffentlichten Nachlasstext zu verschneiden, nämlich mit einem unvollendet gebliebenen und in die Buchausgabe des Curriculum Vitae nicht mehr aufgenommenen Kapitelentwurf mit der Überschrift Privatdozent während der Revolution , den Klemperer in den 1940er Jahren auf Grundlage seiner Tagebuchaufzeichnungen niedergeschrieben hat (wobei die Anfangssequenz dieses Textes bis zur Fahrt nach München auch schon im Apparat der Tagebuchedition von 1996 zumindest auszugsweise abgedruckt worden war). Auf den ersten Blick mutet das ein wenig nach verlegerischer „Resteverwertung“ an, bietet dem Klemperer-Leser – aller unvermeidlichen Redundanzen in Hinblick auf den Text des privaten Tagebuchs und der journalistischen Artikel zum Trotz – aber doch einen interessanten Einblick sowohl in die Arbeitsweise des Autors wie auch in die wechselnden Perspektiven, die nicht nur aus den unterschiedlichen Textsorten, sondern vor allem auch aus dem zeitlichen Abstand und den grundstürzend veränderten Schreibsituationen resultieren, durch die die Texte des Jahres 1919 vom retrospektiven Blick des Jahres 1942 getrennt sind.
Als Journalist etwa hatte Klemperer bis zu einem gewissen Grad durchaus prognostische Kompetenz bewiesen, wenn er im April 1919 mutmaßte, dass die Abfolge der kommenden „starken Männer“ in München von einem Intellektuellen wie Gustav Landauer über den kommunistischen Berufsrevolutionär Max Levien bis zum Freikorpsführer Franz Ritter von Epp – als dem Triumphator der Gegenrevolution – verlaufen würde. Am 10. Mai 1919, als seine Vorhersage längst eingetreten und die Räterepublik durch die Epp’schen Freikorpstruppen ausradiert worden war, schickte der „A-B.“-Korrespondent für seine Leipziger Leser noch die Bemerkung nach, dass er noch nicht wisse, wie der „vierte Mann“ heißen würde, der unweigerlich auf Epp folgen werde. 1942, als Epp längst Generalstatthalter der NSDAP in Bayern geworden war und sich München in die „Hauptstadt der Bewegung“ verwandelt hatte, musste der Name dieses „starken Mannes“ gar nicht erst niedergeschrieben werden.
Manche verhaltene Parteinahme des bürgerlichen Revolutionsgegners Klemperer von 1919, dessen Pseudonym „Antibavaricus“ durchaus als programmatische Positionierung gegen die bayerische Räterepublik zu verstehen gewesen war, musste sich jedenfalls für den tagtäglich von der physischen Vernichtung durch die Nationalsozialisten bedrohten Memoirenschreiber des Jahres 1942 zwangsläufig relativiert haben. Dass der rechtsradikale Epp im Vergleich zu den linken Räterevolutionären „das kleinste Übel“ dargestellt hätte, wie Klemperer seine Ansicht von 1919 im Rückblick der Lebenserinnerungen wiedergibt – nicht ohne sie freilich mit dem Nachsatz zu kommentieren, „sehr wohl“ sei ihm bei dieser Einschätzung schon damals nicht gewesen – hatte sich 1942 längst als irrig herausgestellt.
Man wird Klemperer, der sich als „Mann der Mitte“ und liberaler Demokrat fühlte, die Ablehnung der linksradikalen Revolution von 1919 nicht verübeln können. Frei von plakativen Topoi und zeitgenössischen Stereotypen sind seine Münchner Berichte freilich nicht, wenn er etwa den Ausbruch der Revolution als bloßen „Faschingsscherz“ der Schwabinger Bohème abqualifiziert oder den Revolutionsführer und ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern – Kurt Eisner – nicht etwa in der Rolle eines ernst zu nehmenden Politikers, sondern lediglich als einen aus der Rolle gefallenen „Feuilletonisten“ charakterisiert. In einem anderen Revolutionstagebuch 1918/19 – das unter diesem Titel vier Jahre, bevor Klemperer im Dresdner „Judenhaus“ mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen begann, auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen konnte und breiten Anklang fand – schlägt Klemperers ehemaliger Kollege Josef Hofmiller etwa in Kürschners Deutschem Literaturkalender nach, um sich bei Ausbruch der Revolution im November 1918 biographische Informationen über Eisner zu verschaffen, da ihm dieser bislang allenfalls als Literatur- und Theaterkritiker bekannt gewesen sei: seine Kompetenzen auf politischem Gebiet seien mithin gering zu schätzen.
Bei Klemperer findet sich eine ähnliche Szene, wenn er von der ins Antiquariat gewanderten Privatbibliothek des im Februar 1919 ermordeten Kurt Eisner berichtet:
Es handelte sich um die typische Büchersammlung eines Journalisten, der mehr Interessen als Geld besessen hatte. Die teuren Stücke waren meist broschiert und mit dem Aufdruck »Rez[ensions]. Ex[emplar].« versehen, sie gehörten den verschiedensten Wissensgebieten an, häufiger der schönen Literatur und der Kunst als der Geschichte und Politik. Die eigenen Anschaffungen bestanden zum überwiegenden Teil aus Reclambändchen […]. Hier dominierte durchaus das philosophische und ästhetische Interesse, Politisches war nicht zu finden.
Das schreibt Klemperer noch 1942 und beharrt damit auf einem Eisner-Bild, das er seinerzeit schon als Journalist seinen Leipziger Lesern vermittelt hatte: Die Bibliothek fungiert hier als das Charakterbild ihres Besitzers, der offenkundig in der Politik nichts verloren gehabt und in diesem Metier bestenfalls eine tragikomische Rolle gespielt hatte. Münchner Tragikomik lautet denn auch der Titel der Reportage, in der Klemperer am 17. Januar 1920 in fast wortwörtlicher Übereinstimmung mit dem Text seiner späteren Lebenserinnerungen auf den „Feuilletonisten“ Kurt Eisner und seine Büchersammlung zu sprechen kommt. In einer Reportage wohlgemerkt, die selber für das Feuilleton der Leipziger Neuesten Nachrichten bestimmt gewesen war – verfasst von einem Autor, der als Journalist keine größere Ambition hegte, als endlich einmal auch in den Zeitungsspalten jenseits des Feuilletons zu reüssieren und als „politischer Korrespondent“ ernst genommen zu werden. In Klemperers Lebenserinnerungen ist dieses heiße „Verlangen“ eines philologischen Feuilletonisten, sich „auch einmal ‚über dem Strich‘ betätigen zu dürfen“ auf einen knappen Halbsatz eingedampft; im privaten Tagebuch der Jahre 1918/19 nehmen die wiederholten Anläufe, aus den journalistischen Regionen „unterm Strich“ heraus- und in die „Politik“ hineinzukommen, weitaus breiteren Raum ein und belegen damit eindrücklich, dass der Weg in den Journalismus für den jungen Privatdozenten in dieser Zeit durchaus eine ernst zu nehmende Option dargestellt hätte. Der bespöttelte Kurt Eisner war da um einiges konsequenter (und erfolgreicher) gewesen – auch, was den Platz „überm Strich“ der Zeitungen betraf, wo er zwar nicht als Autor, wohl aber als Gegenstand des politischen Ressorts präsent blieb.
Immerhin: Auch wenn Klemperer 1919 für die Leipziger Neuesten Nachrichten schrieb, die im Gegensatz zur linkssozialistischen Leipziger Volkszeitung und dem bürgerlich-liberalen Leipziger Tageblatt in der seinerzeit noch florierenden Presselandschaft der sächsischen Messestadt eine klare nationalkonservative Tendenz verfolgten und mithin alles andere als revolutionsfreundlich eingestellt waren, erweisen sich seine Münchner Reportagen bei aller Skepsis und allem spöttischen Zweifel über die neuen Machthaber von links doch wohltuend frei von den bösartig-hasserfüllten Untertönen, die einen Großteil vergleichbarer Texte aus der bürgerlichen Presse jener Jahre durchziehen – und die immer wieder auf erschreckende Weise offenlegen, wie schmal die Grenzen waren, die zwischen einer aus bürgerlicher Existenzsorgen und tradierten Ressentiments gespeisten Revolutionsangst einerseits und einem offen einbekannten Rechtsradikalismus andererseits verliefen. Dass insbesondere antisemitische Tiraden bei Klemperer fehlen (obschon sie vonseiten seiner Leserschaft bei den Leipziger Neuesten Nachrichten durchaus hätten erwartet werden können) verwundert freilich nicht angesichts einer Biographie, die schon früh von einem sensiblen Wissen um Ausgrenzung und Diskriminierung geprägt war: Der sich „durch und durch“ als protestantischer Deutscher fühlende Klemperer, der auch als Philologe zunächst eine völkerpsychologisch grundierte Kulturwissenschaft als Grundlage für die Wertung von Literatur in ihren jeweiligen nationalen „Sonderarten“ favorisierte, führte die fragile Existenz eines assimilierten Juden, dessen Bekenntnisse und Neigungen zur deutschen Kultur ihm von seiner Mitwelt nur wenig honoriert wurden: weder vonseiten des nationalen deutschen Bürgertums noch vonseiten zionistischer Jüdinnen und Juden – das private Tagebuch wie auch die später niedergeschriebenen Lebenserinnerungen registrieren Beispiele genug dafür, die auch im vorliegenden Band nachgelesen werden können.
Als Sammlung von Quellentexten über die Münchner Revolution fügt der neue Klemperer-Band dem bereits bekannten Chor an bürgerlichen Stimmen – in dem bislang vor allem Zeugnisse wie das ressentimentgeladene Revolutionstagebuch Josef Hofmillers den Ton angegeben haben – eine neue Nuance hinzu, die durchaus helfen kann, ein differenzierteres Bild der Epoche zu gewinnen. Die solide Kommentierung des Buches trägt das ihre dazu bei, dass Klemperers Reportagen von heutigen Leserinnen und Lesern mit Gewinn rezipiert werden können.
Michael Pilz , 15.07.2015