Von Torsten Voß

Linjing Jiang: Carl Schmitt als Literaturkritiker. Eine metakritische Untersuchung, Wien: Praesens Verlag 2016. ISBN: 978-3-7069-0881-8. Preis [A]: 26,60 €.

 

Über Carl Schmitts politischen Dezisionismus, welcher sich bekanntlich auch hinter und mit dem binären Schematismus seiner Freund-/Feindtheorie entwickelt, über sein Verhältnis zum Katholizismus und über seine eigene literarische Stilistik in Form der Jugendtagebücher oder des Glossariums ist in den letzten Jahren vermehrt geforscht worden. Trotz der Rezeption der frühromantischen Theoriebildung, der ästhetischen Avantgarden und des literarischen Katholizismus durch Carl Schmitt ist ein wichtiges Kapitel innerhalb der vielseitigen Tätigkeiten des umstrittenen Rechtsgelehrten, Kulturkritikers und Philosophen bisher ausgeblendet worden, nämlich das Wirken Carl Schmitts als Literaturkritiker und als kenntnisreicher Rezipient der europäischen Literaturgeschichte. Diesem eklatanten Forschungsdesiderat möchte nun die Heidelberger Dissertation von Linjing Jiang entgegenwirken. Sie hat sich daher in sechs Teilgebieten, welche auch die gesamte Monographie gut strukturieren und sie daher sehr überschaubar ausfallen lassen, der literaturkritischen Auseinandersetzungen Schmitts angenommen: Der Kritik an der Romantik bzw. der romantischen Universalpoesie und Ironiekonzeption (S. 13 ff.), der Deutung von Theodor Däublers Versepos Das Nordlicht (S. 39 ff.), der Beschäftigung mit diversen Hamlet -Exegesen, die von der Psychoanalyse bis zur historischen Kontextualisierung reichen (S. 81 ff.), der Deutung von Hermann Melvilles Erzähltexten Moby Dick und Benito Cereno (S. 133 ff.), sowie der stark mit Schmitts Katholizismus zusammenhängenden Annäherungen an das lyrische und prosaische Werk von Konrad Weiß (S. 157 ff.) und der berühmten Parabel Fjodor Dostojewskis vom Großinquisitor (S. 190 ff.).

So facettenreich die Schmittschen Interessen an der Literaturgeschichte und die sich daraus ergebenden Fundstücke, Einblicke und Beobachtungen Jiangs auch sind, so problematisch ist von Anbeginn der Studie die von der Verfasserin gewählte Herangehensweise, die sich eher auf Paraphrasen der essayistischen Beiträge Schmitts konzentriert, anstatt diese mit unterschiedlichen Phasen der politischen Genese des Denkers und der geistesgeschichtlichen Evolution des frühen 20. Jahrhunderts zu verknüpfen und dementsprechend in ihrer Funktion und Bedeutung für Schmitts jeweilige Denkweisen zu gewichten und auszuwerten. Das soll an zwei Beispielen genauer dargelegt werden: Romantik und literarischer Katholizismus!

Bereits der Untertitel der von Jiang bei Dieter Borchmeyer absolvierten Qualifikationsschrift verweist auf ein erhöhtes Reflexionsniveau: Schmitts literaturkritisches Schaffen und Wirken soll anscheinend selbst einer erweiterten Perspektive, vor dem Hintergrund eines Begriffs von Literaturkritik, also auf einer Metaebene, unterworfen werden. Schon an dieser Stelle verwundert es, dass die Verfasserin es nicht für nötig befindet, die zeitgenössische Situation der Literaturkritik mit ihren unterschiedlichen Vertretern, Institutionen und Publikationsorten zu rekonstruieren, um auf diese Weise die akzentuierte Stellung Schmitts gezielter und komparatistischer erfassen zu können. Anstatt diese notwendige Grundvoraussetzung zu leisten, ergeht sich Jiang in langatmigen und überflüssigen Begriffsrekapitulationen des Romantischen und der romantischen Literaturbewegung, weil diese für Schmitts Lektüreerfahrungen eine zentrale Rolle einnehmen, kommt aber dabei selten über Lexikonwissen hinaus. An dieser Stelle hätte die Verfasserin straffen und sich an der einschlägigen Forschung zu Schmitts pejorativer Bewertung der romantischen Bewegung orientieren können. Karl Heinz Bohrers zentrale Studie Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne (Frankfurt/Main 1989), taucht zum Beispiel nicht einmal im Literaturverzeichnis auf, was umso bedauerlicher ist, als sich Bohrer bekanntlich dezidiert und ausführlich mit der Schmitt’schen Romantik-Exegese beschäftigt hat. Relevante Essays und kulturhistorische Arbeiten zur Romantik von Zeit- und Vorgenossen Carl Schmitts (Rudolf Haym, Ricarda Huch) werden nicht zur Kenntnis genommen bzw. geflissentlich ignoriert. Und was dabei vor allem hervorsticht: Die Analogien zwischen Schmitts kritischem Romantikbild und seiner politischen Theorie werden kaum einer notwendigen – und eine Erklärung vielleicht sogar möglich machenden – Erörterung unterworfen.

So wäre es denkbar gewesen, Schmitts Kritik sowohl am romantischen Transzendentalismus als auch an den aus ihm hervorgehenden Parametern der Ironie mit seinem politischen Dezisionismus zu verzahnen, da sich daraus ein leicht nachvollziehbares Kausalitätsverhältnis ergibt: Aufgrund ihrer Neigung zur Selbstreflexion, der ästhetischen Aufladung der Vergangenheit zwecks Konstruktion einer restrospektiven Utopie (Novalis’ Die Christenheit oder Europa ) und der ironischen Versenkung in textuelle Operationen, mangele es den Romantikern an der aus einer klaren Dezision hervorgehenden politischen Konfession oder gar Tat, die jedoch nach Schmitts Einschätzung zu leisten wäre, um Zeitgeisterscheinungen wie dem Materialismus entgegenarbeiten zu können. Diesen Begründungszusammenhang muss sich der Leser eher mühsam zwischen den Zeilen von Jiangs Beitrag erlesen, so etwa in dem sich anschließenden Kapitel über Däublers heute nahezu vergessenes Versepos Das Nordlicht , in welchem Schmitt eine Überwindung von Materialismus und Diesseitigkeit, fernab aller ironischen Buffonerie, zu erkennen glaubte. In einer solchen Trouvaille liegt auch eine der Stärken der Lektüren Jiangs, zumal sich daraus auch indirekt zu ermittelnde Rückschlüsse über Schmitts Ablehnung der romantischen Ästhetik ergeben.

Ähnliches gilt für Schmitts Beschäftigung mit dem literarischen Katholizismus (Konrad Weiß, Hugo Ball, Theodor Haecker) als einer Variante zur ästhetischen Avantgarde. Aufgrund eines übersteigerten Subjektivismus sei es den Romantikern nicht möglich gewesen, am Katholizismus zu partizipieren und eine Symbiose von Kunst und Religion zu leisten. Der Katholizismus bleibe für sie ein reiner Tropus zwecks Konstruktion eigener ästhetischer Entwürfe. Hier kann Jiang textnah nachweisen, inwieweit Schmitt zwischen der Frühromantik und den lyrischen Texten eines Konrad Weiß , welche in erster Linie versuchen, das Passionsgeschehen in eine allegorisierende Bildexegese – unter Integration hymnisierender Verfahren – zu transformieren, zu differenzieren versteht und dabei auch als Literaturkritiker zu werten versucht. Die Austauschverhältnisse und Bekanntschaften zwischen Schmitt, Weiß und dem Ex-Dadaisten Ball werden dabei als zusätzliches Belegmaterial verwendet und argumentativ überzeugend rekonstruiert. Trotz so mancher gelungener Detailbeobachtung bleibt aber auch an dieser Stelle das kommentierende und anempfindende Textreferat als Kernelement der wissenschaftlichen Arbeitsweise erhalten. Abstraktionen in die politische Theorie Schmitts oder gar ein über die Literarkritik möglich werdendes Postulat zu einer möglichen Ästhetik des Rechtsphilosophen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Kultur, werden weitgehend vermieden. Dafür steht immerhin die Instrumentalisierung der Literaturkritik und des literarhistorischen Essays zu Gunsten einer umfassenden und bisweilen polemischen Kultur- und Zivilisationskritik im Mittelpunkt, welche später auch den Ausschlag gab für Schmitts paradoxales und beinahe synchrones Kokettieren mit dem Katholizismus einerseits und den politischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts andererseits. Derlei signifikante Konnexe erschöpfen sich jedoch in Andeutungen von Seiten der Promovendin.

Da es sich hierbei um eine philologische Qualifikationsschrift handelt, ist es schlussendlich umso bedauerlicher, dass die Verfasserin ihr Literaturverzeichnis auf eine etwas unorthodoxe Weise organisiert hat. Literarische und philosophische Primärquellen werden (insofern sie nicht von Carl Schmitt stammen) als Sekundärliteratur aufgeführt. Erzählsammlungen erscheinen bisweilen sogar als Sammelbände, obgleich diese Bezeichnung doch eigentlich den Aufsatzsammlungen vorbehalten bleibt. Hier hätte etwas mehr Sorgfalt vielleicht auch den Blick auf die oben monierte unterschlagene Literatur (Bohrer etc.) erweitern können.

Zusammengefasst verfügt die Promotionsschrift von Linjing Jiang über die Fähigkeit, ein originelles und bisher kaum erforschtes Thema zu präsentieren und dabei auch auf weniger bekannte Texte aus dem Werk Carl Schmitts aufmerksam zu machen. Die an der Literaturgeschichte orientierte und daher chronologisch angelegte Gliederung der Arbeit vermag zu überzeugen und Schmitts Bedeutung als Literaturkritiker und Leser wird kenntlich gemacht. Leider hält sich ein umfassender Vergleich mit der Kritik und dem Feuilleton bzw. der literarischen Essayistik zu Schmitts Zeiten vornehm zurück. Genauere Auswertungen über die Funktion der vielgestaltigen Literaturrezeption des Lesers Schmitt für den Politiker, Philosophen und Juristen kommen aufgrund der stark nacherzählenden Darstellungsweise der Verfasserin über Hypothesen nicht hinaus. Insofern ist die Arbeit kenntnisreich, engagiert und von einem innovativen Vorhaben geleitet, verharrt jedoch zuweilen in einem voranalytischen Stadium, was sich auch daraus ablesen lässt, dass eine synoptische Zusammenschau, unter Berücksichtigung offen gebliebener Fragekomplexe und kritischer Selbsteinschätzung, am Ende der Arbeit nicht erfolgt.

Torsten Voß , 03.08.2017