Sigrid Meßner: Literarisch vernetzt. Autorenforen im Internet als neue Form von literarischer Öffentlichkeit. Dresden: Thelem Verlag, 2012. 248 S. ISBN: 978-3-942411-58-5. Preis: € 29,80.

 

„Damals sind wir schlicht und einfach nicht wahrgenommen worden. Wir sind überhaupt nicht ernst genommen worden als Autoren vom klassischen Literaturbetrieb“, so lautet das Statement von Jan Ulrich Hasecke in dem am 2. Dezember 2012 von DeutschlandradioKultur gesendeten Feature von Florian Felix Weyh: „Im Stream. Bringt das Netz neue Spielarten literarischer Intellektualität hervor?“

 

Damals – das war die sogenannte Pionierzeit der Netzliteratur, die im deutschsprachigen Internet Mitte der 90er begann und nach einem Höhepunkt zur Jahrtausendwende ein abruptes Ende in der Dotcom-Blase 2000 gefunden zu haben schien. Der Klage von Hasecke ist nur bedingt zuzustimmen, denn obwohl das Feuilleton als zentrale Säule des ‚klassischen Literaturbetriebs’ nur sehr zögerlich auf die neuen, experimentellen literarischen Spielformen im Internet reagierte, ist es der Initiative des Wochenmagazins „Die Zeit“ zu danken, dass sie bereits 1996 mit der Ausschreibung eines Preises für Netzliteratur die Aufmerksamkeit auf jenes neues literarische Genre zu richten versuchte, das im Ausland, vor allem in Amerika, bereits von mehreren AutorInnen erkundet wurde, im deutschen Sprachraum aber nicht so recht gedeihen wollte. Kaum zeigte die zarte Pflanze erste Triebe, fanden sich auch sogleich in der Literaturwissenschaft neugierige Geister, die das exotische Gewächs unter die Lupe nahmen. Bereits 1997 erschien ein Band mit theoretischen Beiträgen zum „Mythos Internet“ (hrsg. v. Münker/Roesler), der sich unter anderem auch mit Literatur und Kunst im Internet auseinandersetzte. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Beat Suter veröffentlichte im Jahr 2000 die auf seiner Dissertation beruhende Studie „Hyperfiktion im frühen Entwicklungsstadium zu einem neuen Genre“ (Update Verlag), Roberto Simanowski gründete 1999 ein Online-Journal, das der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit digitaler Literatur ein Forum bieten sollte und dies auch mehrere Jahre erfolgreich tat („dichtung-digital“). Es folgten mehrere wissenschaftliche Publikationen, sei es von Simanowski als auch von Christiane Heibach (2000 „Literatur im Internet“ und 2003 „Literatur im elektronischen Raum“), Christine Böhler (2001 „Literatur im Netz“), Sabine Ortmann (2001 „netz literatur projekt“) und der von Heinz Ludwig Arnold herausgegebene Sammelband „Digitale Literatur“ (2001, text+kritk), um nur die in diesem Zusammenhang am häufigsten zitierten deutschsprachigen Werke zu nennen. In Erinnerung zu rufen wären aber noch eine ganze Reihe von richtungsweisenden Publikationen, wie die Essaysammlung „p0es1s“ (2004 hrsg. von Block/Heibach/Wenz) und die beiden Anthologien „hyperfiction“ (1999 hrsg. von Suter/Böhler), „Literatur digital“ (2002 hrsg. von Simanowski).

 

Nach diesem literaturwissenschaftlichem ‚Hype’ deutet der ab 2002 deutlich sichtbare Rückgang an Publikationen auf Ernüchterung oder Verunsicherung in der Beurteilung des literarischen Lebens im Internet hin. Vermutlich handelte es sich aber viel eher um jene Zeitspanne, die jedes Kunstwerk braucht, an das man zu nahe herangetreten ist, um es beurteilen und verstehen zu können. Das sprichwörtliche „Drei-Schritte-Zurücktreten“ dauerte real bis zum Jahrzehntwechsel.

 

In den letzten Jahren sind nun wieder mehrere neue Publikationen erschienen, die sich mit verschiedensten Aspekten des literarischen Schreibens und auch des Literaturbetriebs im Internet auf wissenschaftlicher Basis beschäftigen. Symptomatisch für das offensichtlich eingetretene Stadium des ‚abgeklärten Blicks’ sind auch die neuerdings verfassten Rückblicke auf die Entwicklung der Netzliteratur seit ihren Anfängen. [1] Aus dem Sonderforschungskolleg „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen gingen zwei umfangreichen Sammelbände mit internationaler Ausrichtung hervor: „Reading Moving Letters“ (2012 hrsg. von Simanowski/Schäfer/Gendolla) und „Beyond the Screen“ (2010 hrsg. von Schäfer/Gendolla). Eine in ihrer Detailliertheit bisher unübertroffene Arbeit, die eine solide Basis für die Erforschung literarischer Formen im Internet bildet, legte Florian Hartling 2009 unter dem Titel „Der digitale Autor“ vor.

 

„Fünfzehn Jahre später sollte es uns leicht fallen, mit kritischen Augen darauf zurückzuschauen und vor allem auch zu sehen, was sonst so alles passiert ist“, schreibt Beat Suter in dem zitierten Beitrag und es scheint, als ginge sein hypothetisch formulierter Wunsch allmählich in Erfüllung, denn „was sonst so alles passiert ist“, das wurde tatsächlich weitgehend übersehen, da der Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die experimentellen, hypertextbasierten Formen der Netzliteratur gerichtet war und nicht auf die zahlreichen anderen, dem herkömmlichen linearen Schreiben verpflichteten Projekte, die in Form von Mitschreibeprojekten, Autorenforen und Autorenblogs auftraten.

 

Nun widmet sich eine neu erschienene Arbeit jenen Schreibprojekten, die zur Jahrtausendwende entstanden sind und von den Vertretern und Promotoren der ‚Avantgarde’ der Internetliteratur verschmäht und belächelt wurden, da hier das digitale Medium nicht als integraler und unverzichtbarer Bestandteil, sondern vielmehr als Ort der Produktion und Distribution gesehen wurde. Sigrid Meßner beschäftigt sich in „Literarisch vernetzt“ (2012, Thelem Verlag) mit „Autorenforen im Internet als neue[r] Form von literarischer Öffentlichkeit“. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen die drei bekannten Autorenforen „Null“, „Pool“ und „Das Forum der Dreizehn“, die 1999, im „Jahr der Foren“ (S. 9ff.), entstanden sind und damals „von den Feuilletons besprochen und gefeiert“ worden waren. Auf „Seiten der Netzliteraten“ hatten diese aber „verständlicherweise für Widerstand“ gesorgt, handelte es sich doch aus deren Sicht bei den Autorenforen um „traditionelle ‚Literatur im Netz’“ (S. 56).

 

Nur wer sich schon einmal die Mühe gemacht hat, die umfangreichen und durch die digitale Präsentationsform in ihrer Gesamtheit nur schwer überblickbaren Textkonvolute eines Autorenforums zu lesen oder gar eingehender zu studieren, kann den Arbeitsaufwand ermessen, den eine systematische Analyse erfordert. Für das „Forum der Dreizehn“ errechnete der Netzautor Andreas Louis Seyerlein, dass die dort publizierten Texte aneinandergereiht im Jahr 2003 die Höhe eine 597.192 Meter hohen Turms erreichen würden (vgl. S. 52, Fußnote 206). Die Autorin der Studie beschränkt das Quellenmaterial aus dem Forum deshalb aus nachvollziehbaren Gründen auf den Monat September und analysiert die Einträge, die dort in dem Jahrzehnt von 1999 bis 2009 erschienen sind (S. 23f.).

 

So unterschiedlich die drei Foren in ihrer inhaltlichen Ausrichtung und Organisationsform waren, sieht die Autorin den gemeinsamen Ausgangspunkt darin, dass die Foren jenen Autoren eine Chance boten, die zwar „’endlich den Sprung ins Netz’“ schaffen wollten, aber nicht über das technische Wissen verfügten, um diesen Sprung alleine durchzuführen (S. 9). Die Foren schufen außerdem „einen geschützten Raum im unübersichtlichen Netz und garantierten eine Abgrenzung zu den bereits in großer Zahl vorhandenen offenen Literaturplattformen für Hobbyliteraten“ (S. 10). Meßner unterscheidet zwischen den Begriffen „Autorenforum“ und „Literaturplattform“, indem sie auf die Geschlossenheit der Foren verweist, in denen, im Gegensatz zu den Plattformen, ausschließlich eingeladene Autoren schreiben dürften (vgl. S. 22).

 

Nach einer überblicksartigen Einführung zum Entwicklungsverlauf und zum Stand der Forschung, sei es zum Genre „Netzliteratur“ als auch zu den printähnlichen Formen der „Literatur im Internet“, begründet die Autorin ihre Themenwahl mit dem Hinweis, dass die Foren zwar „eher ‚traditionell’ und in geringerem Maße netzaffin erscheinen“ würden, aber für den Verlauf der „literarischen Aneignung des Internets“ deshalb aufschlussreich wären, weil sie durch die starke Präsenz von etablierten Autoren eine „interessante Zwischenstellung“ einnehmen würden, anhand derer sich ablesen ließe, wie Printautoren auf das neue Medium reagierten und mit welchen Fragen sie herangingen.

 

So vermochte das von Thomas Hettche ins Leben gerufene und vom DuMontverlag als Jahrtausendwende-Projekt lancierte Autorenforum „Null“ letztlich keine richtige Begeisterung bei den Autoren für diese neue Form des Schreibens zu erwecken, auch wenn der Herausgeber damit durchaus innovative Ansätze zu verwirklichen gedachte (vgl. S. 62). Das noch über die Homepage von Hettche zugängliche, in Form eines Sternbildes dargestellte Schreibprojekt ( NULL ) fand zwar aufgrund seiner prominenten Besetzung die Aufmerksamkeit des Feuilletons, überzeugte aber aufgrund der mangelnden Kohärenz der Texte und dem offensichtlich gescheiterten Anspruch, einen produktiven Austausch innerhalb der Gruppe zu fördern, letztlich weder die Autoren noch die Rezipienten (vgl. S. 72 und 75). Meßner bietet eine detaillierte Beschreibung des Projektverlaufs, seiner Rezeption und auch der einzelnen, sowohl in Form als auch in Inhalt sehr unterschiedlichen Texte und betont als Verdienst dieses Projekts, dass es die Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit auf die Literatur im Internet gelenkt habe (S. 78f.).

 

Den großen Erfolg – in Zugriffszahlen gemessen – verbuchte aber das von Elke Naters und Sven Lager initiierte Projekt „ Pool “, in dem prominente Autoren aus der Popliteratur vertreten waren, was für Meßner „einer der Gründe für die außerordentliche Beliebtheit von Pool gewesen sein“ dürfte (S. 81). Die Analyse der Rezeption durch die Literaturkritik zeigt für die Autorin, dass hier dieselben Werteschemata wie für die Popliteratur zum Tragen gekommen wären („Oberflächlichkeit und literarische Minderwertigkeit“), die darunter ‚verborgene’ „Gesellschafts- und Zeitkritik“ aber keine Beachtung gefunden hätte (S. 88).

 

Den ausführlichsten Teil der Arbeit widmet Meßner dem „ Forum der Dreizehn “, das bis heute noch aktiv ist. Anders als die anderen Projekte wurde es nicht von einzelnen Herausgebern ins Leben gerufen, sondern entstand aus einer Autorinitiative (vgl. S. 89). Der Entstehungsprozess wird detailliert beschrieben, woraus sich ein guter Einblick in die besondere Charakteristik dieser Gruppe und in den Entwicklungsverlauf des Projekts ergibt. Das von zahlreichen Konflikten und daraus hervorgehenden Austritten, Diskussionen um Zielsetzung und Inhalte und entsprechenden Neuorientierungen geprägte Autorenforum wird von Meßner übersichtlich und anhand zahlreicher Quellen dokumentiert. Sie zeichnet nach, warum und mit welchen Folgen sich in der Gruppe innerhalb eines Jahrzehnts nicht weniger als viermal ein Generationenwechsel vollzogen hat, den ein Mitglied der Gruppe als besondere „Fähigkeit zur Selbsterneuerung“ deutet (S. 129). Die im Forum gepflegte Form des direkten Dialogs und der Bezug auf aktuelle Ereignisse lasse das Forum in seiner Anfangsphase als „kollektiven Blog“ „avant le lettre“ erscheinen (S. 155). Die auch in der Textsammlung dieses Forums nur sporadisch auftretende Kohärenz in Themen und Formen versucht die Autorin an einzelnen Beispielen aufzuzeigen. So zeigt sie beispielsweise anhand der Variation des Themas „Kindheitserinnerungen“, wie sich durch das Aufgreifen einzelner Motive und das Bezugnehmen auf einzelne Textstellen ein „unterschwelliger Code“ ergebe, der sich durch den gesamten Text zieht (S. 163). Man könne „bei diesen Texten nicht mehr von traditioneller Literatur, die in ein neues mediales Umfeld transferiert wurde, sprechen“, sondern der „vernetzte Produktionsort“ würde „die Texte in einem Maße“ prägen, „das weit über das oberflächliche Merkmal der Kürze hinausgeht“ (S. 172).

 

Die im letzten Teil des Buchs erörterte Stellung und Bedeutung von Autorenforen im Literaturbetrieb führt die Autorin zu der Feststellung, dass sich diese vor allem für Textformen eignen würden, die „sich auf dem Buchmarkt schwer durchsetzen können (Lyrik, Kurzprosa, Literatur von jungen Autoren), die erst im Entstehen begriffen sind (Vorstufen, Fassungen, Skizzen...) oder die im vernetzten Dialog entstehen (Austausch unter Autoren und zwischen Autoren und Lesern) (S. 179). Auch die von Roberto Simanowski aufgestellte These, dass Autorenforen „die Funktion einer Gegenöffentlichkeit“ im Literaturbetrieb einnehmen können, wird von Meßner bestätigt. Grundsätzlich scheinen aber Autorenforen an Bedeutung zu verlieren, da sie ihre ursprüngliche Funktion als Einstiegshilfe in das Netz verloren haben und von individuellen Weblogs ersetzt werden. Meßner erwähnt hier auch die über das Portal „litblogs.net“ vertretene Autorengruppe, geht jedoch nicht auf die von den ursprünglichen Autorenforen doch weit abweichende Organisationsstruktur ein.

Die Autorin beschreibt in einem kleinen Abschnitt auch einige Nachfolgeprojekte und fügt im Anhang einen hilfreichen kleinen Überblick über die Zusammensetzung anderer Foren hinzu.

 

Die 2011 als Dissertation an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg eingereichte Arbeit ist eine äußerst nützliche Dokumentation dieser bislang von der Forschung eher vernachlässigten, für die Entwicklung der Literatur im Internet aber bedeutsamen und aufschlussreichen Form. Angesichts der Fülle des bearbeiteten Quellenmaterials verständlich, aber trotzdem zu bedauern ist, dass das, aus dem „Forum der Dreizehn“ hervorgegangene und immer noch aktive Forum „ Der goldene Fisch “ nur marginal behandelt wird.

Renate Giacomuzzi

Renate.Giacomuzzi@uibk.ac.at

 

[1] Beat Suter: From Theo Lutz to Netzliteratur. The Development of German-Language Electronic Literature. In: CyberText Yearbook 2012, hrsg. von Markku Eskelinen und Raine Koskimaa, PDF, URL: http://cybertext.hum.jyu.fi/index.php?browsebook=8 ; deutsche Version 2012 in netzliteratur.net unter dem Titel: Die Entwicklung der deutschsprachigen elektronischen Literatur , URL: http://www.netzliteratur.net/ [Stand 18.2.2013].

Thomas Dreher: Geschichte der Computerkunst. Oktober 2012 bis Dezember 2012 in IASLonline: NetArt Theorie, URL: http://iasl.uni-muenchen.de/links/GCA_Index.html [Stand 18.2.2013].