Egyd Gstättner: Wiener Fenstersturz. Oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft. Wien: Picus Verlag 2017. ISBN 978-3-7117-2055-9. 318 S. Preis [A]: 24,00 €.

 

Am 16. März 1938 erscheint Egon Friedell spätabends am Fenster seiner Wohnung, bittet Passanten höflichst zur Seite zu treten und springt, weil soeben zwei SA-Männer an der Tür nach dem „Jud Friedell“ verlangt haben, in den Tod.

Was das verbriefte Ende einer der vielseitigsten Künstlerpersönlichkeiten Wiens ist, ist für Egyd Gstättner der Beginn eines großen Romans: In einer skurrilen Geschichte, in der unzählige Perspektiven, Begebenheiten und Zeiten ineinander verwoben sind, erweckt er Friedell zu neuem Leben. Lässt er zunächst noch Figuren aus dessen Umfeld zu Wort kommen, die in fiktiven Monologen ein vielschichtiges Porträt des marottenhaften Schauspielers, Schriftstellers und Feuilletonisten entwerfen und die Ereignisse um seinen verzweifelten Selbstmord rekapitulieren, so verwandelt sich das Buch spätestens ab der Hälfte in eine aberwitzige Science-Fiction-Story. H. G. Wells, genannt Eidschi, rettet den herabstürzenden Friedell mit seiner Zeitmaschine, um ihn mit auf eine Reise ins 21. Jahrhundert und wieder zurück in die Kindheit zu nehmen. So finden wir uns im Wien der Gründerzeit neben der Mariahilfer Straße als Einkaufsmeile wieder, Inflation und Flüchtlingskrise, Brexit und Anschluss scheinen aufeinanderzufolgen, Roosevelt, Steve Jobs und Armin Wolf trennen weder Raum noch Zeit. Der lebendig gewordene Peter Altenberg begleitet die Reisenden ebenso wie der Dichter der Zukunft – zum Glück taucht dann auch noch Friedells unerreichbare Liebe Lina Loos auf, die als sprechender Kaffeeuntersetzer aus dem Café Museum den Ansichten der Männer ein wenig Einhalt gebieten kann.

Zur zentralen Figur des letzen Teils wird die Mutter Egon Friedells, die die Familie früh verlassen hat: Friedell kehrt zurück in sein Elternhaus, wo er die traumatische Trennung erneut miterleben muss. „Eine Zukunftsreise ist eine Urlaubsreise“, erklärt ihm Wells, die „Reise in die Vergangenheit hingegen ist beinharte Arbeit! Mühsal! Plage! Qual!“ (S. 262) Die Mutter wird als unberechenbar und hysterisch gezeichnet, das familiäre Zerwürfnis nicht ohne Melodramatik geschildert – aber wir sind eben auch in der großen Zeit der Psychoanalyse, in der das Wort Penisneid erst vor Kurzem erfunden wurde und ein schalkhafter Friedell zur Belustigung seiner Mithörer ins Telefon spricht: „Herr Doktor Freud, kommen Sie schnell! Es ist dringend! Ich habe soeben etwas verdrängt!“ (S. 81)

Dennoch ist der Roman weit davon entfernt, ein simples Psychogramm zu sein (auch wenn Friedells Begeisterung für den Ersten Weltkrieg mit enttäuschter Liebe erklärt wird – Karl Kraus erhält, obschon er immer wieder vorkommt, keine Stimme). So wie das vorangestellte Zitat von Michel Houellebecq, den mit Friedell ein schwieriges Verhältnis zur Mutter verbindet, weit mehr ist als die persönliche Analyse einer zerrütteten Kindheit, lässt sich Gstättners Streifzug durch die Jahrhunderte als eine Auseinandersetzung mit dem Bösen lesen, das nicht mehr rückgängig zu machen ist. In diesem Sinne ist der Wiener Fenstersturz auch ein höchst politischer Roman: Trist sind die Berichte von Friedells Begräbnis, dem nur mehr eine Handvoll von Leuten beiwohnen kann, weil die meisten geflüchtet sind oder sich verstecken müssen; trist sind aber auch die Zukunftsaussichten, die dem zurückgekehrten Friedell begegnen. Immer wieder sieht er sich aus Fenstern stürzen, und selbst im märchenhaften modernen Wien, in dem Aufkleber mit der Aufschrift „KEIN NAZI IN DER HOFBURG!“ (S. 235) die Laternenmasten zieren, fühlt er sich nicht ganz sicher: „Ich hätte nicht springen müssen. Niemand sprang hier, und auch ich sprang nicht. Aber irgendetwas Seltsames spürte ich hinter mir: einen Hauch.“ (S. 239)

Der Versuchung, Franz Kotab, dem Schwiegersohn von Friedells Haushälterin, zu viel Sympathie abzuringen, widersteht Gstättner konsequent – viel mehr lässt er den in Größenphantasien schwelgenden Nationalsozialisten sich selbst entlarven: „,Deutsche! Männer und Frauen!‘, rief der Führer, aber wir wussten natürlich, dass er als Österreicher uns Österreicher meinte! Schlitzohr! Einem Deutschen hätten wir vielleicht nicht so blind vertraut. Einem Österreicher aber schon. Er war einer von uns.“ (S. 41) Nicht weniger lächerlich erscheinen die Männer, die Egon Friedells Habseligkeiten mit grundlosen „Heil-Hilter“-Rufen in Inventarprotokollen eintragen und allein nach dem materiellen Wert bemessen. Ein wenig wird man an sie zurückerinnert, wenn man im zweiten Teil mit Wells und Friedell in der digitalen Konsumgesellschaft landet: Augenzwinkernd führt uns Gstättner mit dem Blick der beiden Zeitfremden durch die Welt des Online-Shoppings, das sie ebenso verstört wie das durch Verbote erwirkte „Raucher-Äußerln“ (S. 198) und Facebook, das Friedell mit seiner Totenmaskensammlung Das letzte Gesicht verwechselt. Hier, in diesen humoristischen (und in der Dämonisierung der Technik mitunter recht konservativ anmutenden) Passagen kommt Gstättner seinem Helden, dem Goethe-spielenden und Nestroy-verehrenden Satiriker Friedell, vermutlich am nächsten. Dazu gehört auch, dass Gstättner sich selbst einen selbstironischen Auftritt gönnt: In einer Buchhandlung empfiehlt ein vor Mond- und Katzenkalendern stehendes Fräulein Fröhlich den Zeitreisenden den Wiener Fenstersturz : Dieser Roman sei „gewissermaßen der Mercedes unter den Neuerscheinungen“ und verkaufe sich ganz „prächtig“ (S. 219).

Ganz Unrecht hat Fräulein Fröhlich mit ihrer Empfehlung aber nicht: Denn der Roman ist nicht nur ein Hoch auf Egon Friedell, sondern auch auf die Literatur überhaupt – eine Literatur, die immer wieder vernichtet wird, und sich trotzdem unaufhörlich fortschreibt. So wie Friedell H. G. Wells’ Time Machine weiterführt , nimmt Gstättner (der seinen Text wohl nicht zufällig in „Bücher“ unterteilt) Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit auf, um die Kunst der Vergangenheit in die Zukunft zu retten. Indem er die von den Nationalsozialisten zerstörte Welt der Wiener Kaffeehausliteratur wieder auferstehen lässt, schreibt er schließlich auch eine leidenschaftliche Hommage an Wien – an diese ständig sich wandelnde Stadt, die ihre Vergangenheit doch nie los werden wird. Paramount Pictures hätte das nicht besser herstellen können.

 

Maria Piok , 30.11.2017

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