Classics revisited: Was haben uns Luigi Pirandello und Fernando Pessoa heute noch zu sagen?
Der italienische Schriftsteller Luigi Pirandello und der portugiesische Dichter Fernando Pessoa waren zentrale Figuren der literarischen Moderne. Während ersterer mit seinen Theaterstücken das Drama revolutionierte, gilt Pessoa heute als bedeutendster portugiesischer Dichter des 20. Jahrhunderts. Sie eint die Suche nach neuen Existenzformen für das krisenhafte Subjekt der Moderne sowie die Ablehnung einer objektiv bestimmbaren Realität, der sie die Überlegenheit subjektiven Empfindens entgegenstellen. In ihren Werken eröffnen sich Widerstandsräume gegen die rigiden Normen einer Gesellschaft, in der Ambiguität und fluide Identitätsentwürfe systematisch ausgeklammert werden. Allerdings sind sie im deutschsprachigen Raum eher am Rande des Kanons angesiedelt, wie unter anderem ein Blick in die Datenbank des Innsbrucker Zeitungsarchivs zeigt. Zu den beiden Schriftstellern wurden seit dem Jahr 2000 jeweils knapp 100 Artikel erfasst, zu ihrem französischen Zeitgenossen Marcel Proust sind es im Vergleich über 600. Ein Blick auf zwei Dichter, deren Werke nicht nur bedeutende Gemeinsamkeiten aufweisen, sondern auch bei einer Lektüre durch die zeitgenössische Linse überraschende Anknüpfungspunkte an aktuelle Diskursen bieten.
Luigi Pirandello und das Dilemma des Subjekts
Luigi Pirandello, geboren 1867 auf Sizilien, zählt zu den bedeutendsten Dramatikern des 20. Jahrhunderts. Seine Stücke brachen mit dramatischen Konventionen und revolutionierten das Theater, wofür ihm 1934 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Berühmt ist die Episode der Uraufführung seines bekanntesten Stücks, Sechs Personen suchen einen Autor, in Rom, während der er den Saal verlassen musste, um den Aggressionen des Publikums zu entgehen. Während der Probe einer Theatergruppe betreten sechs Personen den Theatersaal auf der Suche nach einem Autor, der ihre Geschichte zu Ende erzählen wird, da der Autor, der sie konzipiert hat, das Interesse an ihnen verloren hat. Pirandello lässt die Grenze zwischen Bühne und Publikum kontinuierlich zerfließen und stellt damit die Möglichkeit des Theaters überhaupt infrage. In anderen Stücken bleiben zentrale Fragen unbeantwortet, so etwa in dem Stück So ist es (wenn es Ihnen so scheint). Die Dorfbewohner*innen setzen sich zum Ziel, die Identität der Signora Ponza zu ermitteln, da ihr Mann und ihre (Schwieger)mutter jeweils unterschiedliche Erklärungen dazu abgeben. Zur Entrüstung des wahrheitshungrigen Publikums bleibt die Frage jedoch unbeantwortet, die Versionen beider Figuren werden am Ende bestätigt. Hinter dieser ‚Publikumsbeschimpfung‘ verbirgt sich Pirandellos Sicht auf die Absurdität des menschlichen Lebens und den illusorischen Charakter sämtlicher Versuche, diese negieren zu wollen. Im deutschsprachigen Raum vor allem als Theaterautor bekannt, hat Pirandello zudem mehrere Novellenzyklen sowie zwei Romane veröffentlicht.
Ein Leitmotiv in diesen Werken bildet Pirandellos grundlegender Relativismus, der jede Form des menschlichen Zusammenlebens durchdringt. An die Stelle einer objektiven Wahrheit setzt er einen relativen Wahrheitsbegriff: Was für eine Person wahr ist, muss nicht der Wahrheit einer anderen Person entsprechen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in der Welt der ersten Person keine Gültigkeit besitzt. Debatten über die absolute Wahrheit müssen sich als nichtig herausstellen, da es sich um eine Illusion handelt. In der Konsequenz existieren so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt, ohne jeweils eine höhere Gültigkeit für sich beanspruchen zu können, wie die Figur des Laudisi den Dorfbewohner*innen in So ist es erklärt:
„Signora Sirelli: Ihrer Meinung nach kann man also nie hinter die Wahrheit kommen? – Signora Cini: Wenn man nicht einmal mehr an das glauben darf, was man sehen und anfassen kann…! – Laudisi: Aber ja, glauben sie ruhig daran, Signora! Nur sage ich Ihnen: respektieren Sie auch das, was andere Menschen sehen und berühren – auch wenn es das Gegenteil von dem ist, was Sie sehen und berühren.“[1]
Die letzte Konsequenz dieses radikalen Konstruktivismus besteht in einer tiefen Isolation, zu der die Menschen verdammt sind. Die Realität, die im Kopf eines jeden existiert, kann für andere nie durchdringbar sein. Dies liegt nicht zuletzt an einer tiefen Skepsis gegenüber der Sprache. Für Pirandello besteht zwischen Signifikat und Signifikant keine unmittelbare Beziehung, sondern letzterer ist ein unzulänglicher Versuch, eine inkommunikable Welt in die arbiträren Kategorien des Zeichens zu zwängen. Das Ungenügen der Sprache, der Komplexität menschlicher Realitäten gerecht zu werden, wird in seinem Werk immer wieder vorgeführt. Laudisi kommentiert die Hoffnung der Dorfbewohner*innen, die Identität von Signora Ponza durch Dokumente zu ermitteln, mit folgenden Worten: „Diese ihre Wirklichkeit kann durch kein Dokument zerstört werden, denn sie atmen sie in ihr, sehen sie, fühlen sie, berühren sie! – Ein Dokument könnte bestenfalls dazu dienen, eure blöde Neugier zu befriedigen. Aber das fehlt […]!“[2] Dem Positivismus der Dokumente, die hier exemplarisch für eine diskursivierte, in klar definierten Kategorien fassbare Welt stehen, wird die Wirklichkeit der beiden Figuren gegenübergestellt, die im Endeffekt die einzige Bedeutungsträgerin ist. Pirandello verortet in der Sprache den Versuch, eine sich ständig wandelnde Welt in abrufbaren, statischen Begriffen zu fixieren, um sie intersubjektiv erkenn- und kommunizierbar zu machen. Sprache muss jedoch immer ein zutiefst unzulängliches System bleiben, da den Worten, die die Kommunikationsgrundlage bilden, eine gemeinsame Realität fehlt. Als die Stieftochter dem Vater in Sechs Personen suchen einen Autor vorwirft, ihre Geschichte ins Unwahre zu verkehren, reagiert dieser mit folgendem Ausruf: „Aber da liegt ja das ganze Unglück! In den Worten! Wir haben alle eine Welt von Dingen in uns, jeder seine eigene Welt von Dingen. Aber wie wollen wir uns verstehen, Herr Direktor, wenn ich in meine Worte den Sinn und die Bedeutung der Dinge lege, so wie sie in mir sind, während derjenige, der sie hört, sie unvermeidlich mit dem Sinn und der Bedeutung der Dinge erfüllt, die zu seiner Welt gehören! Wir glauben uns zu verstehen – wir verstehen uns nie!“[3]
Das größte Dilemma des Menschen besteht jedoch darin, dass die Gesellschaft die Relativität jeglicher Wahrnehmung nicht anerkennt. Vielmehr postuliert sie die Existenz einer objektiven Wahrheit und drängt den Menschen in sozial definierte Kategorien, allen voran die Idee eines einheitlichen Subjekts. Diese wird vom Individuum so sehr verinnerlicht, dass es sich selbst als ‚eins‘ wahrnimmt. Dabei gerät es jedoch in Konflikt mit der fundamentalen Zersplitterung, die ihm inhärent ist. Pirandellos Figuren bewegen sich in einem Spannungsfeld aus der Fragmentierung des Ichs und einer Gesellschaft, die vom Individuum die Fügung in eine einheitliche, vormodellierte Identität fordert. Gleichzeitig führen die unterschiedlichen Realitäten, in denen sich die Menschen bewegen, zu einer stets unterschiedlichen Beurteilung unserer selbst. Wer wir für uns sind, ist niemals, wer wir für andere sind. So spricht der Vater weiter: „Für mich liegt das Drama darin, Herr Direktor: mir ist bewußt, daß jeder von uns sich für ‚Einen‘ hält, aber das stimmt nicht. Er ist ‚Viele‘, Herr Direktor, ‚Viele‘ entsprechend all den Möglichkeiten des Seins, die in uns liegen. ‚Einer‘ für diesen, ‚Einer‘ für jenen, und alle völlig verschieden! Und dabei bewahren wir uns die Illusion, für alle immer ‚Einer‘ zu sein, und zwar stets dieser ‚Eine‘, für den wir uns bei jeder unserer Handlungen halten. Das stimmt aber nicht!“[4]
Metaphorisiert wird dies im Bild der Maske, die wir uns selbst auferlegen, um unsere soziale Rolle zu erfüllen. In ihr fließen Selbst- und Fremdwahrnehmung ineinander, die jedoch weder identisch sind noch der Realität entsprechen. Sie bedeckt die illusorische Gültigkeit, den wir Selbst- und Fremdentwürfen zuschreiben. Wird sie gelüftet, so bleibt dahinter nur eine große Leere, in der sich die klaffende Nichtigkeit des Subjekts offenbart. Wichtiges Mittel dieser sozialen Regulierung ist die Sprache. Erst in dem Pronomen ‚Ich‘ entsteht die Konzipierung eines einheitlichen Subjekts. Identitätsentwürfe werden immer innerhalb vorgegebener sprachlicher Grenzen modelliert, während außerhalb davon keine Möglichkeit zur Artikulierung einer eigenen Identität existieren. Für Ambiguitäten und Widersprüche bleibt kein Raum. Wer versucht, Existenzweisen außerhalb dieser rigiden Normen zu finden, und damit die gesellschaftliche Kohäsion gefährdet, riskiert den sozialen Tod. Als Symbol für diese erzwungene Einheit steht der Name, der immer schon fremdbestimmt ist und das Individuum nach außen (wieder)erkennbar macht. Durch die Anrufung mittels des Namens werden die Figuren immer wieder als soziale Subjekte, die sich innerhalb einer vorgegebenen Ordnung positionieren, definiert. Die performative Kraft, die dem Namen innewohnt, zeigt sich, als Signora Ponza sich schlussendlich weigert, ihren Vornamen zu nennen, sondern festhält, dass sie für sich selbst „niemand“ ist. Es handelt sich um einen ultimativen Akt der Rebellion, der ihre Einordnung in soziale Strukturen unmöglich macht.
Den Konflikt, der aus der Entfremdung von der Idee eines einheitlichen Subjekts und der Forderung nach authentischen Identitäts- und Lebensentwürfen erwächst, narrativiert und radikalisiert Pirandello in dem Roman Einer, keiner, hunderttausend. Es ist zugleich sein letztes Werk, das er selbst 1922 in einem Interview als Zusammenfassung seines dramatischen Schaffens bezeichnet hat. Als seine Ehefrau den Protagonisten Vitangelo Moscarda eines Morgens auf seine leicht schiefhängende Nase hinweist, was ihm selbst bisher nie aufgefallen ist, eröffnet dies für Moscarda den Prozess einer tiefgreifenden Identitätskrise. Nicht nur wird er sich der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild bewusst, sondern auch der Unvereinbarkeit individueller Realitäten. Dies führt zum absoluten Bruch mit seiner Frau: „Denn dieser ihr Gengé existierte, während ich für sie absolut nicht existierte, nie existiert hatte. Meine Wirklichkeit bestand für sie in dem Gengè, den sie sich geschaffen hatte, der Gedanken und Gefühle und Vorlieben besaß, die nicht die meinen waren […].“[5] Moscarda beschließt, das Bild, das die Außenwelt von ihm hat, vollends zu zerstören, eine Entscheidung, die ihn schlussendlich ins Armenasyl befördert. Was nach außen als sozialer Niedergang erscheint, bedeutet für Moscarda die Befreiung aus sämtlichen sozialen und im Endeffekt sprachlichen Bezügen: „Kein Name. Keine Erinnerung heute an den Namen von gestern; und morgen keine an den von heute. […] Nichts anderes ist ein Name als eine Grabschrift. Er gebührt den Toten. Denen, die abgeschlossen haben. Ich habe nicht abgeschlossen. Das Leben schließt nicht ab. Und das Leben kennt keine Namen.“[6]
Es ist Pirandellos letzte Antwort auf die sein Werk durchziehende Problematik. Bei ihm findet sich kein Subjekt, das entgegen der Welt existiert und zu seinem Ich gelangt, sondern diese zwängt ihm erst seine Form auf. Erst in der Dissolution der sozialen Existenz kann der Widerspruch zwischen einem erstarrten Ich und einer ständig im Wandel begriffenen Welt aufgelöst werden.
Pirandellos Werk lässt sich auch als Reflektion gesellschaftlicher Machstrukturen und der performativen und regulativen Dimension von Sprache lesen, die mehrere Jahrzehnte später unter anderem zum Gegenstand der diskurstheoretischen Arbeiten Michel Foucaults und Judith Butlers werden. Nicht nur das Subjekt, sondern soziale Ordnungen in ihrer Gesamtheit erscheinen als diskursive Erzeugnisse. Pirandello zeigt ein Subjekt, das erst durch die Einbettung in soziale Strukturen zu einem solchen wird. Dies ist durchaus kongruent mit Formen der Machtausübung, wie sie von der Diskursanalyse beschrieben werden. Auch sie fasst das Subjekt nicht als ontologisch gegeben auf, sondern als Resultat diskursiver Praktiken. Als solches kann es sich auch nicht losgelöst von sprachlichen Kategorien entwerfen, sondern bleibt diesen stets unterworfen. Butler schreibt dem Individuum zudem eine leidenschaftliche Bindung an den eigenen Subjektstatus zu, da dieser als Garantie seiner einer sozialen Existenz fungiert. Es unterwirft sich immer wieder der symbolischen Ordnung, da eine Nichtbeachtung mit sozialen Sanktionen einhergeht. So ist das Subjekt auch bereit, sich humilierenden Praktiken auszusetzen, oder – um es mit Pirandello zu sagen – sich die Maske aufzusetzen, um den eigenen Subjektstatus zu schützen. Diese wird jedoch nicht als prädefiniert wahrgenommen, sondern vielmehr erscheint sie als eigenständige Konstruktion des Selbst. Während Butler dies vorzugsweise aufs Geschlechtsidentitäten bezieht, kristallisieren sich hier doch eindeutige Parallelen zum Subjektbild Pirandellos heraus. Sein Werk lässt sich also paradigmatisch für die Ausübung sozialer, wenngleich dezentralisierter Macht und der raus resultierenden Subjektformierung lesen.
Zugleich bietet Pirandellos Werk auch bedeutende Anknüpfungspunkte für kommunikationstheoretische Fragen, wie sie heutzutage immer drängender werden: Was passiert mit einer Gesellschaft, der es zunehmend unmöglich wird, sich auf grundlegende Wahrheiten zu einigen und in der die Deutungshoheit über Begriffe von verschiedensten Seiten kontestiert wird? Verliert Moscarda als Individuum den Bezug zu seiner Umwelt, so lässt sich der Gesellschaft ein wachsender kollektiver Relativismus diagnostizieren, in dem Realitäten fundamental unterschiedlich bewertet und erlebt werden. Möglicherweise finden wird uns doch deutlicher in seinem Werk gespiegelt als uns lieb ist.
Fluide Identitäten: Pessoa und die Weigerung, ein Ich zu sein
Spricht Pirandello von einer Maske, so kann man Fernando Pessoa tausend Masken attribuieren. In seinem Werk und in seiner Biographie verbinden sich eine unauffällige, kleinbürgerliche Existenz und eine neue Dimension der Subjektzersplitterung. Pessoa legte sich zahlreiche Heteronyme zu, die nicht auf gedruckte Zeichen auf dem Buchdeckel beschränkt bleiben, sondern allesamt über eine eigene Biographie verfügen, in unterschiedlichen Sprachen schreiben und divergierenden politischen sowie ästhetischen Strömungen angehörten bzw. diese gar begründeten. Zu den bekanntesten zählen Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos. Mitsamt seinen Heteronymen umfasst sein Werk Lyrik, Prosa, Theaterstücke sowie zahlreiche theoretische Schriften, in denen er neue ästhetische Konzepte entwickelte. Während nur ein kleiner Teil seines Werks zu Lebzeiten veröffentlich wurde, gilt er heute als einer der bedeutendsten portugiesischen Dichter sowie wichtigsten Autoren der literarischen Moderne.
Anders als viele Intellektuelle seiner Zeit führte Pessoa eine kleinbürgerliche Existenz als Handelskorrespondent in Lissabon. Dies ist nur eine der Parallelen zum Erzähler seines bekanntesten Werks, Das Buch der Unruhe, das erst 1982, also 47 Jahre nach seinem Tod erschienen ist. Bernardo Soares führt ein unscheinbares und einsames Leben. Tagsüber ist er als Hilfsbuchhalter in der Rua dos Douradores in Lissabon tätig, in der sich auch seine Wohnung befindet. Abends begibt er sich auf Streifzüge durch die Unterstadt und den Hafen der Stadt. Seine Gedanken und Beobachtungen während dieser Spaziergänge notiert er aphorismenhaft in sein Tagebuch. Daraus entsteht eine Autobiographie ohne Ereignisse, Mosaiksteine eines Lebens, das seine Materialität nicht aus Handlungen, sondern aus Gedanken und Träumen erhält. Der Bewegung im äußeren Raum, die geographisch auf einen kleinen Ausschnitt Lissabons beschränkt bleibt, entsprechen Exkursionen ins eigene Innere, das in all seinen Facetten aufgeschlagen wird. Die Texte folgen keinem linearen Zusammenhang, sondern sie sind fragmentarisch, voneinander abgerissen und bilden doch ein Ganzes. Es sind lyrisch verdichtete Reflektionen über das Wesen der menschlichen Existenz, die Überlegenheit des Traums und des Subjektiven gegenüber jeglicher äußeren Realität, die Vielschichtigkeit des Ichs, aber auch über die eigene Einsamkeit und Verachtung für das gewöhnliche Leben mit seinen banalen Gestalten.
Soares betrachtet das Leben als Zwischenstation, als „Herberge, in der ich verweilen muß, bis die Postkutsche des Abgrunds eintrifft“.[7] In der Notwendigkeit dieses Verweilens hat er sich zum Ziel gesetzt, alle Sinneseindrücke, jede „Brise, die mir vergönnt ist“[8], aufzunehmen und sich ihrer Transformation in Empfindungen hinzugeben. Die Außenwelt ist ihm nur Vorlage für innere Seelenbewegungen, die die einzig wahrhafte Realität darstellen: „Indem wir nichts ernst nehmen und unsere Empfindungen als die einzig gewisse Wirklichkeit betrachteten, finden wir bei ihnen Zuflucht und erforschen sie wie große unbekannte Länder“.[9] Die Metapher der Seele als topographischer Raum ist paradigmatisch für Pessoas Ansicht des Ich. Das Innere erstreckt sich in unendliche Dimensionen, deren Erkundung der Erforschung der Außenwelt immanent überlegen ist. Während letztere sich immer nur als begrenzter Raum präsentieren kann, findet das Subjekt in sich selbst ein Universum, das ihm bisher unbekannte Daseinsformen eröffnet. Im Gegensatz zwischen Innenwelt und dem begrenzten äußeren Raum, in dem sich Soares bewegt, wird ausschließlich ersterem wahrhafte Substanz zugestanden. Ein Leitmotiv dieser Beobachtungen bildet die unendliche Vielschichtigkeit des Ichs und die Auffassung einer einheitlichen Identität als Begrenzung der eigenen Existenzmöglichkeiten. Bei Pessoa findet sich ein Subjekt, das die Zersplitterung nicht als Krise, sondern als Chance wahrnimmt, sich immer wieder neu zu erfinden und das Innenleben der Vielfalt zu verschreiben.
Zugleich kristallisiert sich ein kontinuierlicher Widerstreit heraus zwischen der Negation jedweder Gültigkeit, die die Außenwelt gegenüber der Innenwelt einfordern kann, und der Unmöglichkeit, sich vollständig von ihr loszusagen. Soares ist sich bewusst, dass das Ich die Außenwelt nicht endgültig nach seinem Willen formen kann: „In diesen langsamen, leeren Stunden steigt die Traurigkeit meines gesamten Seins von meiner Seele auf in meinen Geist, das bittere Bewußtsein, daß alles eine Empfindung von mir und zugleich etwas Äußerliches ist, das zu verändern nicht in meiner Macht steht.“[10] Stellt man den Bezug zu Pirandello her, so stellt sich die Situation gewissermaßen umgedreht dar. Hier findet sich ein Subjekt, das die Loslösung von einer starren und als beschränkend wahrgenommenen Außenwelt verfolgt, um in der Subjektivität der eigenen Innenwelt zu zerfließen, jedoch unweigerlich in ihren Strukturen verhaftet bleiben muss. Wird bei Pirandello der Relativismus der Wahrnehmung als Hindernis für sämtliche Kommunikation zwischen den Menschen erlebt, so strebt Soares diese gar nicht erst an. Absolute Subjektivität ist das Ziel, frei von sozialen Bindungen.
Tag und Nacht sowie die Existenzen, die sie verkörpern, gehen dabei eine Symbiose ein, die für Soares Reflektionen unabdingbar ist. Sein Dasein als Hilfsbuchhalter erlebt er nicht als Widerstand, sondern als notwendige Auszeit von seinen inneren Exkursionen. Sie gibt ihm den geistigen Freiraum, auf den Spuren seiner Eingebungen durch das Universum zu wandeln: „Die nächtliche Seligkeit groß zu sein, ohne etwas zu sein!“[11] Dies soll freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Soares unter seiner einsamen Existenz und seiner Unfähigkeit zur Handlung leidet. Seine Beobachtungen sind das Resultat einer notorischen Unruhe, die ihn immer wieder in emotionale Extreme treibt. Er schwankt zwischen genialischer Selbsterhöhung und -erniedrigung. Kontinuierlich betont er seine ihn an der Handlung hindernde Passivität und die daraus resultierende Unfähigkeit, seinem Leben eine neue Richtung zu verleihen. Die Begrenzung auf das Dasein als Hilfsbuchhalter in der Unterstadt von Lissabon erscheint dabei weniger als bewusste Entscheidung und mehr als das Resultat einer inneren und äußeren Erstarrung, die die Überführung der inneren Welt in die äußere unmöglich macht: „Ich begreife mein Verharren in diesem immer gleichen Leben, diesem Staub, diesem Schmutz an der Oberfläche des Nie-Veränderns einzig als ein Fehlen persönlicher Hygiene. […] So führe ich mein Schicksal spazieren, das seinen Lauf nimmt, da ich stehenbleibe; und meine Zeit, die vergeht, da ich stillstehe. Nichts rettet mich vor dieser Monotonie, nichts bis auf meine kurzen Kommentare zu ihr.“[12] Die subjektive Überformung der Welt kann nicht endgültig gelingen, der Gegensatz zwischen innen und außen kann nicht aufgelöst werden. Was bleibt, ist eine zwischen Empfindungen oszillierende Seele, die sich in ihnen stets auf ihr (Nicht-)Sein zurückverwiesen findet: „Ich bin der Raum zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich nicht bin, zwischen dem, was ich träume, und dem, was das Leben aus mir gemacht hat, […] da ich ebenfalls nichts bin.“[13]
Dennoch steckt in Pessoas Text weit mehr als die Unruhe eines unter Depressionen und möglicherweise multipler Persönlichkeitsstörung leidenden Individuums. In seiner Fluidität des Subjekts eröffnet er neue Perspektiven, die über bürgerliche Subjektkodierungen hinausgehen und das eigene Empfinden als einzigen Grundsatz postulieren. Dies erstreckt sich auch auf Geschlechtsidentitäten, die – von Pessoa als Produkt unserer Wahrnehmung definiert – einem ständigen Wandel unterworfen sind. Wenngleich die Sprache bei Pessoa im Vergleich zu Pirandello nur eine untergeordnete Rolle einnimmt, reflektiert auch er ihren Einfluss auf unsere Wahrnehmung, kommt dabei jedoch zu durchwegs unterschiedlichen Ergebnissen. Man soll „die Grammatik als Werkzeug verstehen und nicht als Gesetz“.[14] Pessoa selbst exerziert dies anhand der Benennung von Geschlechtern durch: „Nehmen wir an, ich sehe vor uns ein Mädchen mit männlichen Zügen. Ein gewöhnliches menschliches Wesen wird sagen: ‚Dieses Mädchen sieht aus wie ein Junge.‘ Ein anderes menschliches Wesen, ebenso gewöhnlich, sich jedoch der Tatsache bewußter, daß reden sagen heißt, wird sagen: ‚Dieses Mädchen ist ein Junge.‘ […] Ich hingegen würde sagen: ‚Dieses Junge‘, und somit die elementarste Grammatikregel verletzen, die besagt, daß Substantiv und Adjektiv in Genus und Numerus kongruieren müssen. Und ich hätte es richtig gesagt, hätte absolut gesprochen, photographisch, jenseits von Plattheit, Norm und Alltäglichkeit.“[15]
Wird Pirandellos Subjekt von der Sprache und äußeren Zuschreibungen in das Gefängnis der sozialen Existenz getrieben, lokalisiert Pessoa in der Sprache ein Instrument, die die Eindrücke des sehenden Subjekts wiedergeben, nicht jedoch sie von vornherein bestimmen soll. Die eigene Wahrnehmung steht stets über jeder fremdbestimmten Form von Welt. Damit nimmt er zeitgenössische Versuche, adäquate Sprachformen für Identitätsentwürfe jenseits eines binären Systems zu entwickeln, bereits sehr früh vorweg. Sein Werk liest sich als Plädoyer für einen selbstbestimmte Identitätsentwürfe jenseits scheinbar festgelegter Wahrheiten, denn „[a]ußer der Übereinstimmung mit sich selbst gibt es kein anderes Kriterium der Wahrheit“.[16] Bei Pessoa findet sich somit ein Subjekt, dem es gelingt, innerhalb der Sprache neue Artikulationsräume für Identität zu eröffnen, wenngleich dies eine Abweichung von grammatischen und sozialen Konventionen bedingt.
Systematisch ausgearbeitet wird dieser Relativismus in dem von Pessoa entwickelten Konzept des Sensationismus. In erster Linie versteht sich der Sensationismus als ästhetisches Pantheon, in dem alle Kunstauffassungen und -Strömungen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Pessoa bricht somit mit sämtlichen Exklusivitätsansprüchen. Die einzige Regel lautet, dass keine Strömung ausgeschlossen werden darf. Weit davon entfernt, ein ausschließliches ästhetisches Konzept zu bilden, bildet der Sensationismus jedoch vielmehr eine umfassende Weltanschauung mit politischen, sozialen und psychologischen Implikationen. Die im Buch der Unruhe postulierte Überlegenheit der Sinneswahrnehmung gegenüber jeder äußeren Realität bildet auch hier einen Leitsatz. Für den Sensationismus gibt es keine Wirklichkeit außerhalb der Sinneswahrnehmung. Die höchste Wirklichkeit kann nur erfasst werden, wenn das Individuum sich nicht auf einzelne Meinungen, Wahrnehmungen oder Identitäten beschränkt, sondern sich der unendlichen Fülle von möglichen Empfindungen öffnet: „Erste Regel: Alles auf alle Weisen zu fühlen. Abschaffung des Dogmas der Persönlichkeit; jeder von uns sollte viele sein. […] Die Charakteristiken der Objektivität sind die Vielfalt, da ich, während ich mich selbst als EINER fühle, das Universum als Viele fühle.“[17] In seiner letzten Konsequenz erlaubt der Sensationismus dem Individuum, über mehrere Persönlichkeiten zu verfügen und dient somit auch der theoretischen Fundierung für Pessoas System von Heteronymen.[18]
Nur auf diese Weise kann für Pessoa wahrhafte Kunst entstehen, denn Kunstschaffung bedeutet, die Dinge in aller Intensität zu fühlen, um sie kurz darauf ziehen zu lassen und sich neuen Wahrnehmungen hinzugeben, so widersprüchlich diese auch sein mögen: „Ein großer Künstler sollte nie eine wirklich grundsätzliche und ernsthafte Meinung vom Leben mit sich herumtragen. Allerdings sollte genau das ihm die Möglichkeit verschaffen, […] während einer bestimmten Zeit eine ernsthafte Einstellung gegenüber irgendetwas zu hegen – sagen wir ungefähr die Zeit, die notwendig ist, um ein Gedicht zu entwerfen und niederzuschreiben.“[19] In Bezug auf den Sensationismus kommt Pessoa zu einer zunächst paradox erscheinenden, doch innerhalb seines Denkens zutiefst schlüssigen Schlussfolgerung, die seine Weltsicht prägnant zum Ausdruck bringt: „Das sind die fundamentalen Prinzipien des Sensationismus. Die davon gegenteiligen Prinzipien sind auch die fundamentalen Prinzipien des Sensationismus.“[20]
Pessoa konzipiert ein Subjekt, dessen Wandelbarkeit keine Grenzen gesetzt sind. Sein Konzept der fluiden Identitäten erweist sich dabei als besonders anschlussfähig für moderne Diskurse, in denen die starre Auslegung von (Geschlechts)identitäten immer stärker infrage gestellt wird. Während sich diese Prozesse zugleich auch einem großen Widerstand ausgesetzt sehen, ruft uns Pessoas Werk in Erinnerung, dass Menschen bereits vor 100 Jahren nach neuen Existenzweisen für eine als einschränkend wahrgenommene Subjektkodierung gesucht haben. Identitätsentwürfe sind wandelbar und keineswegs endgültig festgelegt. Zugleich birgt die Idee des Sensationismus wichtige Impulse zum Umgang mit Ambivalenz. Meinungen und Ansichten können und müssen divergieren, ohne dass dies einen Ausschluss aus dem Diskurs bedingen darf.
Was also haben uns Pirandello und Pessoa heute noch zu sagen? In ihren Werken offenbart sich einerseits der Blick auf sozial auferlegte Normen, die als Beschränkung erlebt werden, sowie der Versuch, aus diesen auszubrechen. Ihre Figuren ziehen es vor, entgegen sozialer Konsequenzen eine authentische Existenzweise einzufordern, anstatt sich der Selbstverleugnung zu unterwerfen. Während Pirandello dabei vor allem die Systematiken einer dezentralisierten Form von Machtausübung aufzeigt, in der jeder Einzelne zum Erhalt des gesellschaftlichen Regelsystems beiträgt, zeigt sich bei Pessoa hingegen bereits der Ausbruch aus genau diesem System, wenngleich er (noch) nicht endgültig gelingen kann. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem das Recht auf selbstbestimmte Identitätsentwürfe und fluide Seinsformen wieder zunehmend angefochten wird, offenbaren sich gerade in ihren Werken wichtige Perspektiven auf Widerstandsformen. Zugleich offenbaren sie aber auch die Gefahren, die dem Verlust einer gemeinsamen Wahrheitsgrundlage und des Willens zur Kommunikation innewohnen. Wollen wir als Gesellschaft nicht in einer pirandellianischen Isolation enden, sollten wir Pessoas Konzept des Sensationismus ernstnehmen und wieder lernen, Meinungen auszuhalten, die von unserer eigenen abweichen, und über divergierende Ansichten hinweg ernsthaft miteinander zu kommunizieren.
Die zwei großen Dichter des modernen Subjekts sind sich nie begegnet, wenngleich sie sich im Jahr 1935 zur gleichen Zeit in Lissabon befanden. Diese nie stattgefundenen Begegnung hat der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi in seinem Theaterstück Herr Pirandello wird am Telefon verlangt imaginiert und ihnen somit zumindest in der Fiktion das Zusammentreffen ermöglicht. Und die ist schließlich häufig realer als das Leben selbst, wie uns die Werke dieser beiden Schriftsteller zeigen.
[1] Luigi Pirandello: So ist es (wenn es Ihnen so scheint), in: ders.: So ist es (wenn es Ihnen so scheint). Die frühen Stücke. Aus dem Italienischen übersetzt von Georg Richert und Elke Wendt-Kummer. Berlin: Propyläen 1998 (= Luigi Pirandello: Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, herausgegeben von Michael Rössner, Bd. 10), S. 396.
[2] Ebd., S. 421.
[3] Luigi Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor, in: ders.: Sechs Personen suchen einen Autor. Trilogie des Theaters auf dem Theater und theaterkritische Schriften. Aus dem Italienischen übersetzt von Hans Hinterhäuser, Georg Richert, Michael Propfe, Michael Rössner. Berlin: Propyläen 1997 (= Luigi Pirandello: Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, herausgegeben von Michael Rössner, Bd. 6), S. 52.
[4] Ebd., S. 60.
[5] Luigi Pirandello: Einer, keiner, hunderttausend, in: ders.: Die Ausgestoßene. Einer, keiner, hunderttausend. Zwei Romane. Aus dem Italienischen übersetzt von Johannes Thomas und Piero Rismondo. Berlin: Propyläen 1998 (= Luigi Pirandello: Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, herausgegeben von Michael Rössner, Bd. 5), S. 312.
[6] Ebd., S. 456.
[7] Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Herausgegeben von Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel. Zürich: Ammann 2003, S. 15.
[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 14.
[10] Ebd., S. 17.
[11] Ebd., S. 18.
[12] Ebd., S. 51.
[13] Ebd., S. 208.
[14] Ebd., S. 95.
[15] Ebd.
[16] Fernando Pessoa: Orpheu. Schriften zur Literatur, Ästhetik und Kunst. Herausgegeben, aus dem Portugiesischen und Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Steffen Dix. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2015, S, 182.
[17] Ebd., S. 186f.
[18] Auf die Implikationen des Sensationismus weist Steffen Dix in seiner Einleitung zu Pessoas Konzept hin. Ebd., S. 143.
[19] Ebd., S. 149. Hierbei zieht Pessoa jedoch gewissermaßen selbst eine Trennung zwischen Kunst und Leben, denn kurz vor diesen Zeilen findet sich folgende Präzisierung: „Das bedeutet nun aber nicht, ein Sensationist sollte keine politische Meinung haben; es bedeutet vielmehr, als Künstler sollte er keine einzelne, sondern alle gleichzeitig haben.“ Ebd., S. 148.
[20] Ebd., S. 183.