Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens, Volker Weidermann, Denis Scheck – der Literaturkritiker ist bis heute ein Mann, jedenfalls scheint es so. Wie der gesamte Literaturbetrieb unterliegt auch die Kritik einem gender bias. Fast hundert Jahre nach Virginia Woolfs Kritik am Ausschluss und der Verdrängung von Frauen in A Room of One’s Own bestimmt das Geschlecht nach wie vor, wie häufig Literaturschaffende gelesen und besprochen werden.[1] Dass literarische Werturteile ohnehin nicht frei sind von der eigenen Zugehörigkeit und im Rezensionsbetrieb Männlichkeit performativ hergestellt und inszeniert wird, hat die Forschung jüngst herausgearbeitet.[2]

Unser Blick auf die Vergangenheit ist ebenso, was das Geschlecht betrifft, nicht unbefangen. Historische Beiträge zur Herausbildung der Literaturkritik im 18. Jahrhundert konzentrieren sich nahezu ausschließlich auf männliche Akteure. Sie übersehen die vielen Frauen, die publizistisch tätig waren und in kleinen Formen über Literatur nachdachten.[3] Wie so häufig, verhindern auch fehlende Editionen eine stärkere Rezeption der Forschung.

Dieser bisherigen Erzählung von der Entwicklung der Literaturkritik möchte ein Teilprojekt im Rahmen des BMBF-Verbundes „Lost in Archives“ entgegenwirken. Durch intensive Archivarbeit wird an der Goethe-Universität Frankfurt am Main eine neue Perspektive auf die Herausbildung der Literaturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert entworfen, um die zahlreichen Frauen sichtbar zu machen, die sich publizistisch, literarisch und wissenschaftlich als Kritikerinnen betätigten. Zu den bekannteren Namen zählen Luise Gottsched, Therese Huber, Charlotte Hezel, Caroline Schelling oder Rahel Varnhagen.[4] Doch auch gänzlich unbekannten Kritikerinnen wie Charlotte Hauber möchten wir nachspüren und sie zumindest in ihrer Unsichtbarkeit sichtbar machen. Viele Kritikerinnen rekurrierten auf ephemere Publikationsformen, wie Rezensionen, Übersetzungen und Korrespondenzen, um systematisch über Literatur nachzudenken.[5] Damit hat es das Forschungsprojekt mit einer doppelten Unsichtbarkeit zu tun und muss nicht nur vergessene Kritikerinnen, sondern auch Formate und Formen in den Blick nehmen.

Der interdisziplinäre Verbund „Lost in Archives“ wird vom BMBF in der Förderlinie „Innovative Frauen im Fokus“ gefördert und von Isabelle Deflers, Anna Axtner-Borsutzky und Marília Jöhnk geleitet. Produkte des Verbundes sollen unter anderem eine Wanderausstellung und eine Graphic Novel sein. Das Ziel besteht darin, innovative Frauen sichtbar zu machen, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert in den männlich dominierten Feldern von Literaturkritik, Theaterwesen und Militärliteratur tätig waren. Die Namen vieler Frauen in diesen Wissens- und Kulturfeldern wurden im Laufe der Zeit vergessen, in Vergessenheit gebracht oder sind erst gar nicht in die offiziellen Überlieferungen eingegangen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass in manchen Bereichen keine oder kaum Frauen tätig gewesen wären. Durch umfangreiche Archivrecherchen wird das Projekt „Lost in Archives“ diesem Narrativ begegnen und Texten und Netzwerken aufspüren, die nicht mehr im kulturellen Gedächtnis verankert sind. Immer wieder steht hierbei zur Debatte, welche Mechanismen zur Unsichtbarkeit dieser Frauen beigetragen haben und wieso wir bis heute so wenig über sie wissen.

 

Weiterführende Links und Kontakt

Projektleitung: Marília Jöhnk (kontakt@marilia-joehnk.de)

Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Grace Evans (g.evans@em.uni-frankfurt.de)

 

  • BMBF-Verbund Lost in Archives:

https://lostinarchives.hypotheses.org/

  • Arbeitsbereich Literaturkritik:

https://www.uni-frankfurt.de/162642090/Lost_in_Archives

https://marilia-joehnk.de/lost-in-archives/

 

  • Informationen zur Förderlinie Innovative Frauen im Fokus:

https://www.innovative-frauen-im-fokus.de/

 

[1] Vgl. dazu etwa Clark, Janet u. a.: Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb. URL: //%20http://www.xn--frauenzhlen-r8a.de/docs/Literaturkri-tik%20und%20Gender_08_09_18.pdf (31.01.2025); Schuchter, Veronika: Geschlechterverhält-nisse in der Literaturkritik. Eine quantitative Untersuchung. In: literaturkritik 21 (2019) H. 2. URL: https://literaturkritik.de/geschlechterverhaeltnisse-in-der-literaturkritik-eine-quantitative-untersuchung,25232.html (31.01.2025); Seifert, Nicole: Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. S. 36–37, 41–42.

[2] Vgl. Schuchter, Veronika: Adam und Eva der Literaturkritik. Literaturkritik als Männlichkeitsdiskurs. In: Das Geschlecht der Kritik. Studien zur Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Peter C. Pohl u. Veronika Schuchter. München: Edition text + kritik 2021. S. 46–64, hier: S. 46.

[3] Eine umfassende Analyse des Verhältnisses von Geschlecht und Kritik steht bisher ebenso aus, vgl. dazu Birnstiel, Klaus: Kritik und Geschlecht. Register des literarischen Diskurses um und nach 1700. In: Essen, töten, heilen. Praktiken literaturkritischen Schreibens im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Barry Murnane, Ritchie Robertson u.a. Göttingen: Wallstein 2019. S. 153–177, hier: S. 154.

[4] Einen ersten Überblick zu Herausgeberinnen von Frauenjournalen, von denen viele auch als Kritikerinnen tätig waren, bietet Weckel, Ulrike: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit: die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum. Tübingen: Niemeyer 1998. S. 27–157.

[5] Vgl. dazu Castle, Terry: Women and Literary Criticism. In: The Cambridge History of Literary Criticism. 9 Bde. Hrsg. von Hugh Barr Nisbet u. Claudia Rawson. Bd. 4: The Eighteenth Century. Cambridge: CUP 1997. S. 434–455, hier: S. 438, 440–441, 443.